JudikaturOGH

Bsw81292/17 – OGH Entscheidung

Entscheidung
Strafrecht
07. Juli 2022

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Chocholac gg. die Slowakei, Urteil vom 7.7.2022, Bsw. 81292/17.

Spruch

Art. 8 EMRK - Besitz von pornografischem Material im Gefängnis.

Zulässigkeit der Beschwerde (mehrheitlich).

Verletzung von Art. 8 EMRK (5:2 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 2.600,– für immateriellen Schaden (5:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf wurde 1989 geboren und verbüßte eine lebenslange Freiheitsstrafe im Gefängnis Ilava. Er war in einer Einzelzelle im Hochsicherheitstrakt untergebracht.

Am 26.4.2013 wurde beim Bf eine Wochenzeitschrift entdeckt, in die explizite Bilder geklebt waren. Diese Bilder waren aus frei käuflichen Erotikmagazinen ausgeschnitten und zeigten heterosexuellen Verkehr. Das Material wurde beschlagnahmt. Gegen den Bf wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Die Bilder wurden nach Art 132 Abs 2 und Art 371 Abs 1 StGB (Anm: Art 132 Abs 2 StGB definiert »Pornografie«. Art 371 Abs 1 StGB bestraft die Gefährdung der Sittlichkeit, zB durch Besitz von Pornografie, die mangelnden Respekt gegenüber anderen, Gewalt, Sodomie oder andere »krankhafte« Sexualpraktiken darstellt.) als pornografisch und gemäß § 40 lit i StVG als Gefahr für die Sittlichkeit qualifiziert. Letztere Bestimmung verbietet den Besitz von Objekten im Gefängnis, die die Sittlichkeit bedrohen. Der Bf brachte dagegen vor, dass das Material eine positive Wirkung auf ihn hätte, weil er vom Sozialleben ausgeschlossen sei. Darin sei keine Gefährdung der Sittlichkeit zu sehen. Am 10.5.2013 wurde er wegen des

Disziplinarvergehens schuldig gesprochen und erhielt eine Abmahnung. Seine Beschwerde wurde am 17.5.2013 abgewiesen.

Nach weiteren erfolglosen Rechtsmitteln brachte der Bf unter Berufung auf Art 8 und 10 EMRK eine Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof ein. Mit Urteil vom 15.3.2017 entschied dieser, dass Art 8 EMRK unanwendbar sei, da hierzu der Bf selbst auf dem fraglichen Material abgebildet sein müsste. Zu Art 10 EMRK hielt er fest, dass die gegenständlichen Bestimmungen zwar keine Abwägung von Individualinteressen erlaubten, dies aber aufgrund des Interesses des Gesetzgebers am Schutz der Sittlichkeit, der Vermeidung von Unruhen und dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer hinzunehmen sei und er dieses Interesse im fraglichen Einzelfall nicht überprüfen könne.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf behauptete eine Verletzung von Art 8 (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) und Art 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) aufgrund der Bestrafung für den Besitz von pornografischem Material.

I.Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK

(35) [...] Der GH wird die Beschwerde unter Art 8 EMRK behandeln [...].

1.Zulässigkeit

(36) [...] Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig [...]. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (mehrheitlich).

2.In der Sache

a.Anwendbarkeit und Eingriff

(52) Generell genießen Häftlinge alle Rechte der EMRK außer dem Recht auf Freiheit [...]. Jede Beeinträchtigung dieser anderen Rechte bedarf einer Rechtfertigung, wobei eine solche auch in Aspekten der Sicherheit, insb zur Vermeidung von Verbrechen und Unruhen, zu sehen ist, die unweigerlich aus den Umständen der Inhaftierung herrühren. Daher ist es undenkbar, dass ein Gefangener seine Rechte ausschließlich aufgrund seines Gefangenenstatus verlieren soll [...]. [...]

(54) Der Fall des Bf hängt mit der Verbüßung seiner lebenslangen Freiheitsstrafe in der Slowakei zusammen. Es ist eine Eigenheit des betreffenden Vollzugssystems, dass partnerschaftliche Besuche untersagt sind. Zwar ist dies für sich genommen nicht Gegenstand des vorliegenden Falls und [...] die Konvention verpflichtet die Vertragsstaaten nicht, dafür Regelungen vorzusehen [...]. Dennoch ist dies Teil des Kontexts, in dem die bestrittenen Einschränkungen des Sexuallebens des Bf zu sehen sind.

(55) Es ist unstrittig, dass der Bf gedruckte Materialien besaß, die für diesen Zweck als autoerotische Stimuli in seiner Privatsphäre verwendet werden können. Dementsprechend enthält der vorliegende Fall keine Fragen allgemeiner oder konkreter positiver [staatlicher] Verpflichtungen jedweder Art. Auch wenn der Status dieses Materials gleichsam nicht Teil der gegenständlichen Beschwerde ist, hält der GH fest, dass sein Besitz im belangten Vertragsstaat generell nicht gesetzwidrig ist. Jedoch war dieser in der spezifischen Situation des Bf gesetzlich verboten, was durch die Beschlagnahme des Materials und die Verhängung einer Disziplinarstrafe vollzogen wurde.

(56) [...] Daher fällt der gegenständliche Fall in den Anwendungsbereich des Rechts auf Achtung des Privatlebens gemäß Art 8 EMRK in seinem materiellen Aspekt. Die Beschlagnahme des strittigen Materials und die Abmahnung, die der Bf für den Besitz erhielt, griffen folglich in dieses Recht ein.

b.Rechtfertigung des Eingriffs

i. Gesetzlich vorgesehen

(58) Im vorliegenden Fall beruhte der Eingriff auf § 40 lit i StVG [...]. Er war daher iSd EMRK gesetzlich vorgesehen.

ii.Legitimes Ziel

(60) Gegenständlich berief sich die Regierung, übereinstimmend mit dem Verfassungsgerichtshof, auf die Ziele des Schutzes der Sittlichkeit, der Vermeidung von Unruhen und des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer.

(62) [...] Über den Bf wurde eine Disziplinarstrafe für den Besitz des fraglichen Materials verhängt, das er ausschließlich für seine privaten Bedürfnisse besaß, und es gab in keinem Stadium einen Hinweis darauf, dass es an andere Personen weitergegeben hätte werden sollen oder können. Insoweit die Begriffe der Sittlichkeit, öffentlichen Ordnung und Rechte und Freiheiten anderer die Involvierung einer dritten Person voraussetzen, scheinen sie daher für den gegenständlichen Fall nicht relevant zu sein.

(63) Der GH hält es jedoch nicht für erforderlich, endgültig Stellung zur Frage zu beziehen, ob die strittige Maßnahme eines der dargestellten Ziele verfolgte, weil er [den Eingriff] jedenfalls als in einer demokratischen Gesellschaft nicht für notwendig erachtet, und zwar aus den folgenden Gründen [...].

iii.Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft

(64) »Notwendigkeit« impliziert, dass der Eingriff in das Recht eines Bf auf Achtung seines Privatlebens einem dringenden sozialen Bedürfnis dient [...]. Bei der Beurteilung, ob ein Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war, wird der GH den staatlichen Ermessensspielraum berücksichtigen, dessen Breite von zahlreichen Faktoren, wie der Art der beschränkten Aktivitäten und den mit der Einschränkung verfolgten Zielen, abhängt. Jedenfalls obliegt es dem belangten Staat, das Bestehen eines dringenden sozialen Bedürfnisses hinter dem Eingriff aufzuzeigen [...].

(65) Gegenständlich erkannte der Verfassungsgerichtshof, dass die fragliche Bestimmung absolut formuliert war [...]. [...]

(66) Vom Verfassungsgerichtshof wurde ebenfalls anerkannt, dass der Besitz von explizitem Material im Gefängnis die privaten Interessen der betroffenen Person in Widerspruch zum öffentlichen Interesse stellt.

(67) Im Bewusstsein, dass die Inhaftierung einen völligen Ausschluss intimer Kontakte mit dem anderen Geschlecht mit sich brachte, erkannte der Verfassungsgerichtshof, dass Pornografie als Stimulus für die autoerotische Befriedigung dienen kann.

(68) Zusätzlich hält der GH seinerseits fest, dass die individuelle Situation des Bf von folgenden relevanten Faktoren gekennzeichnet ist. In Bezug auf seine Strafe und die Organisation des slowakischen Vollzugssystems ist der Zustand, in dem der Bf keinen direkten intimen Kontakt hat, von langer Dauer, wenn nicht permanent. Es gibt keine Hinweise, dass der Bf jemals wegen eines Sexualdelikts verurteilt wurde oder an einer Krankheit litt, in deren Rahmen das gegenständliche Material ein gewalttätiges oder sonst unangemessenes Verhalten auslösen könnte. Weiters gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass das gegenständliche Material per se verbotene Elemente enthielt. Im Gegenteil ist derartiges Material für die erwachsene Bevölkerung über den allgemeinen Pressevertrieb im belangten Staat und darüber hinaus erhältlich. Die verfügbaren Informationen weisen darauf hin, dass das Material in der Privatsphäre des Bf blieb und ausschließlich für seine individuelle und private Nutzung innerhalb dieser Sphäre

bestimmt war, insb in seiner Einzelzelle.

(69) In diesem Kontext erwägt der GH, dass die relativ vernachlässigbare Höhe der gegenüber dem Bf verhängten Strafe nicht entscheidend ist. Dies primär, weil der Problemkern das zugrundeliegende Verbot und nicht die Sanktion ist und weil die Härte der Sanktion bei wiederholten Verstößen gestiegen wäre [...].

(70) In Bezug auf die gegenständlichen öffentlichen Interessen, insb den Schutz der Sittlichkeit, hält der GH fest, dass es nicht möglich ist, in den Rechts- und sozialen Ordnungen der Vertragsstaaten eine einheitliche europäische Konzeption der Sittlichkeit zu erkennen. Die Anforderungen an die Sittlichkeit variieren von Zeit zu Zeit und Ort zu Ort, besonders in der gegenwärtigen Zeit, die durch die weitreichende Entwicklung von Meinungen zu diesem Thema gekennzeichnet ist. Aufgrund ihres direkten und ständigen Kontakts mit den gesellschaftlichen Kräften ihrer Länder sind staatliche Behörden grundsätzlich besser geeignet als der internationale Richter, den genauen Inhalt dieser Voraussetzungen sowie die »Notwendigkeit« einer »Beschränkung« oder »Strafe«, die diese Voraussetzungen erfüllen sollen, zu beurteilen [...].

(71) Daher müsste der Ermessensspielraum des belangten Vertragsstaats hinsichtlich der Mittel zum Schutz der Sittlichkeit ein weiter sein [...]. Gleichzeitig betont der GH jedoch, dass die Rechtfertigung für jegliche Einschränkung der Konventionsrechte von Gefangenen nicht ausschließlich [auf Gründe] gestützt werden kann, die die öffentliche Meinung verletzen

könnten.

(72) Weiters hält der GH hinsichtlich der Vermeidung von Unruhen im Gefängnis und des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer fest, dass keine konkreten Beweise oder Beispiele zur Unterstützung des Vorbringens aufgezeigt wurden, wonach der Besitz von Inhalten für Erwachsene wie im Fall des Bf eine ernsthafte Gefahr in Bezug auf diese Werte darstellen würde. Hinsichtlich des Rehabilitations- und Reintegrationszwecks einer Gefängnisstrafe [...] hält der GH fest, dass auf nationaler Ebene allgemein anerkannt ist, dass es Gefangenen verboten ist, Objekte zu besitzen, die diesem Zweck zuwiderlaufen. Dieser besondere Grund für die Bestrafung des Bf für den Besitz des strittigen Materials wurde jedoch bei der Beurteilung seines Falls auf nationaler Ebene nicht herangezogen.

(73) Bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen unterschied der Verfassungsgerichtshof zwischen jenen auf persönlicher Ebene des Bf und jenen auf allgemeiner Ebene. In Bezug auf den ersten Punkt bestätigte er, dass der Gesetzgeber keinen Spielraum für die Berücksichtigung von Einzelinteressen hat und dass die Gefängnisleitung praktisch nicht in der Lage ist, Einzelfälle auch unterschiedlich zu behandeln [...].

(74) Darüber hinaus hat der Verfassungsgerichtshof allgemein festgestellt, dass er nicht befugt ist, das Problem im Hinblick auf eine individuelle Beschwerde zu behandeln. Vielmehr verwies er auf die Vorstellungen rationaler Gesetzgeber und nahm an, dass diese die verabschiedeten Gesetze auf die erforderlichen Expertenmeinungen stützen würden. Diese Annahme wurde jedoch weder vom Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil noch von der Regierung im Verfahren vor dem GH durch den Verweis auf irgendeine tatsächliche Experteneinschätzung unterstützt [...].

(75) Unter diesen Umständen kann nicht einmal die Beurteilung des Verfassungsgerichtshofs als eine echte Abwägung der konkurrierenden individuellen und öffentlichen Interessen akzeptiert werden [...].

(76) Das strittige Verbot stellte daher eine allgemeine und unterschiedslose Einschränkung dar, die die erforderliche Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall nicht zuließ [...].

(77) [...] Das Fehlen einer solchen Prüfung sowohl auf gesetzgeberischer Ebene als auch im Einzelfall des Bf in Bezug auf eine für ihn wichtige Sache ist als Überschreitung jedes zulässigen Ermessensspielraums anzusehen, sodass kein angemessener Ausgleich zwischen den konkurrierenden öffentlichen und privaten Interessen hergestellt wurde.

c.Schlussfolgerung

(78) Es liegt sohin eine Verletzung von Art 8 EMRK vor (5:2 Stimmen; abweichende Sondervoten von Richter Wojtyczek und Richter Derencinovic).

II.Entschädigung nach Art 41 EMRK

€ 2.600,– für immateriellen Schaden (5:2 Stimmen; abweichende Sondervoten von Richter Wojtyczek und Richter Derencinovic).

Vom GH zitierte Judikatur:

Hirst/GB (Nr 2), 6.10.2005, 74025/01 (GK) = NL 2005, 236

Khoroshenko/RU, 30.6.2015, 41418/04 (GK) = NLMR 2015, 228

Biržietis/LT, 14.6.2016, 49304/09

Leslaw Wójcik/PL, 1.7.2021, 66424/09

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 7.7.2022, Bsw. 81292/17, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2022, 336) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise