JudikaturOGH

12Os38/22p – OGH Entscheidung

Entscheidung
27. September 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 2. Juni 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Oshidari, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel Kwapinski und Dr. Brenner und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Marko, BA, BA, in der Auslieferungssache des * O*, AZ 4 HR 60/21v des Landesgerichts für Strafsachen Graz, über die von der Generalprokuratur gegen die Beschlüsse des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 10. Mai 2021, GZ 4 HR 60/21v 17, und des Oberlandesgerichts Graz als Beschwerdegericht vom 27. Mai 2021, AZ 8 Bs 166/21d, sowie einen Vorgang erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Leitner, zu Recht erkannt:

Spruch

In der Auslieferungssache des * O*, AZ 4 HR 60/21v des Landesgerichts für Strafsachen Graz verletzt

1./ die erst am 10. Mai 2021 erfolgte Durchführung der ersten Auslieferungshaftverhandlung § 9 Abs 1 ARHG iVm § 175 Abs 2 Z 1 StPO iVm Art 6 Abs 1 3. ZP EuAlÜbk;

2./ der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 10. Mai 2021, GZ 4 HR 60/21v 17, in seinem Ausspruch, wonach die Fortsetzung der Auslieferungshaft bis längstens 10. Juni 2021 wirksam sei, § 29 Abs 5 ARHG;

3./ der Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Beschwerdegericht vom 27. Mai 2021, AZ 8 Bs 166/21d, in seinem Ausspruch, wonach die Auslieferungshaft aufzuheben wäre, wenn das Auslieferungsersuchen nicht bis zum 31. Mai 2021 beim Bundesministerium für Justiz einlange, § 29 Abs 5 ARHG und Art 2 Abs 1 erster Satz 3. ZP EuAlÜbk.

Text

Gründe:

[1] Mit Urteil vom 17. November 2016, Nr 03 0 K 015423 16 K erkannte das Kantonalgericht Tuzla den bosnischen Staatsangehörigen * O* des Raubes („briganding“, Art 289 Al 2 iVm Al 1 iVm Art 31 und 54 des Strafgesetzes von Bosnien und Herzegowina) schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten (vgl ON 2 S 111).

[2] Nachdem der Genannte aufgrund internationalen Fahndungsersuchens zum Zweck der Auslieferung zur Strafvollstreckung (ON 2 S 45 und 111) am 22. April 2021 festgenommen worden war (ON 5), verhängte das Landesgericht für Strafsachen Graz über * O* mit Beschluss vom 24. April 2021, GZ 4 HR 60/21v 7, die Auslieferungshaft wegen Fluchtgefahr (§ 173 Abs 1 und 2 Z 1 StPO iVm § 29 ARHG) mit Wirksamkeit bis 10. Mai 2021.

[3] Nach entsprechender Verständigung durch das Landesgericht für Strafsachen Graz (ON 11 f) fragte das Bundesministerium für Justiz am 7. Mai 2021 beim bosnischen Justizministerium unter Bestimmung einer Antwortfrist bis 31. Mai 2021 (ON 15) an, ob die Auslieferung des * O* begehrt werde.

[4] In der Auslieferungshaftverhandlung vom 10. Mai 2021 erklärte sich der Betroffene mit der vereinfachten Auslieferung ausdrücklich einverstanden (ON 16 S 2).

[5] Das Landesgericht für Strafsachen Graz setzte am selben Tag die Auslieferungshaft aus dem erwähnten Haftgrund fort und sprach dabei aus, dass die Haftfortsetzung bis 10. Juni 2021 wirksam sei.

[6] Der gegen die Verlängerung der Auslieferungshaft gerichteten Beschwerde des Betroffenen (ON 18) gab das Oberlandesgericht Graz mit Beschluss vom 27. Mai 2021, AZ 8 Bs 166/21d, nicht Folge und setzte die über den Genannten verhängte Auslieferungshaft aus dem Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 173 Abs 2 Z 1 StPO fort.

[7] Dabei stellte das Oberlandesgericht Graz zwar fest, dass die Wirksamkeit des Beschlusses nicht mehr durch eine Haftfrist begrenzt sei, sprach gleichzeitig aber aus, dass die Auslieferungshaft aufzuheben wäre, wenn nicht (innerhalb der Höchstfrist des Art 16 Abs 4 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens [EuAlÜbk]) bis 31. Mai 2021 ein Auslieferungsersuchen beim Bundesministerium für Justiz einlange (BS 1 und 3).

[8] Am 11. Juni 2021 wurde die Auslieferungshaft infolge Bewilligung und Durchführung der Auslieferung beendet.

Rechtliche Beurteilung

[9] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, stehen im Auslieferungsverfahren AZ 4 HR 60/21v des Landesgerichts für Strafsachen Graz die Durchführung der ersten Auslieferungshaftverhandlung erst am 10. Mai 2021, somit 18 Tage nach erfolgter Festnahme der gesuchten Person, die Festsetzung einer Haftfrist im Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 10. Mai 2021 trotz vorliegender Einverständniserklärung des Betroffenen zur Durchführung einer vereinfachten Auslieferung sowie der Ausspruch des Oberlandesgerichts Graz als Beschwerdegericht im Beschluss vom 27. Mai 2021, AZ 8 Bs 166/21d, wonach die Auslieferungshaft aufzuheben wäre, wenn das Auslieferungsersuchen der Republik Bosnien Herzegowina nicht (innerhalb der Höchstfrist des Art 16 Abs 4 EuAlÜbk) bis zum 31. Mai 2021 beim Bundesministerium für Justiz einlangen würde, mit dem Gesetz nicht im Einklang.

[10] 1./ Zwischen der Republik Österreich und der Republik Bosnien Herzegowina ist das Europäische Auslieferungsübereinkommen (EuAlÜbk) vom 13. Dezember 1957, BGBl 1969/320, ergänzt durch das Zweite Zusatzprotokoll vom 17. März 1978, BGBl 1983/297, und das Dritte Zusatzprotokoll vom 10. November 2010, BGBl III 2015/70 (3. ZP EuAlÜbk), anwendbar (BGBl III 2006/21, BGBl III 2006/140, BGBl III 2015/70).

[11] Nach Art 12 Abs 1 3. ZP EuAlÜbk ist das Europäische Auslieferungsübereinkommen sinngemäß anzuwenden, soweit es mit den Bestimmungen dieses Protokolls vereinbar ist. Gemäß Art 22 EuAlÜbk findet auf das Verfahren der Auslieferung und der vorläufigen Auslieferungshaft ausschließlich das Recht des ersuchten Staats – somit das ARHG unter teils sinngemäßer Anwendung der österreichischen Strafprozessordnung (§§ 9 Abs 1, 26 Abs 1, 29 Abs 1 ARHG) – Anwendung, soweit in diesem Übereinkommen nichts anderes bestimmt ist.

[12] Gemäß § 32 Abs 1 ARHG kann sich die betroffene Person aufgrund eines ausländischen Ersuchens um Auslieferung oder um (vorläufige) Verhängung der Auslieferungshaft mit der Auslieferung einverstanden erklären und einwilligen, ohne Durchführung eines förmlichen Auslieferungsverfahrens übergeben zu werden (vgl auch Art 1 3. ZP EuAlÜbk).

[13] Befindet sich die betroffene Person in Auslieferungshaft, so kann sie diese Einwilligung gemäß § 32 Abs 1 ARHG frühestens in der gemäß § 175 Abs 2 Z 1 StPO durchzuführenden Haftverhandlung wirksam abgeben. Die Einwilligung wird nur dann rechtsgültig, wenn sie gerichtlich zu Protokoll gegeben wird (§ 32 Abs 1 vorletzter und letzter Satz ARHG; vgl auch Göth Flemmich in WK 2 ARHG § 32 Rz 4).

[14] Da der ersuchte Staat dem ersuchenden Staat – damit dieser gegebenenfalls ein Auslieferungsersuchen nach Art 12 EuAlÜbk stellen kann – sobald wie möglich, spätestens aber zehn Tage nach der vorläufigen Verhaftung mitzuteilen hat, ob die gesuchte Person ihre Zustimmung zur (vereinfachten) Auslieferung erteilt hat (Art 6 Abs 1 3. ZP EuAlÜbk), muss diese erste Haftverhandlung in sinngemäßer Anwendung des § 175 Abs 2 Z 1 StPO (vgl § 9 Abs 1 ARHG) – und damit abweichend von der in dieser Vorschrift normierten Frist von 14 Tagen ab Verhängung der Haft – spätestens zehn Tage ab Festnahme der gesuchten Person durchgeführt werden (vgl EB zum 3. ZP EuAlÜbk 374 BlgNR XXV. GP 4; Nimmervoll , Haftrecht 3 Rz 1844 und 1889 f zum – inhaltlich Art 6 Abs 1 3. ZP EuAlÜbk entsprechenden – Art 8 Abs 1 EUvereinfAuslÜbk).

[15] Art 10 3. ZP EuAlÜbk ermöglicht dem ersuchten Staat zwar die Durchführung des vereinfachten Verfahrens auch bei erst nach Ablauf der genannten Frist von zehn Tagen erteilter Zustimmung (sofern ihm noch kein Auslieferungsersuchen iSd Art 12 EuAlÜbk zugegangen ist), enthält jedoch keine Einschränkung in Bezug auf die grundsätzliche Beachtlichkeit der in Art 6 Abs 1 3. ZP EuAlÜbk normierten Frist (vgl 374 BlgNR XXV. GP 3 f).

[16] Die im vorliegenden Auslieferungsverfahren erst am 10. Mai 2021 und somit erst 18 Tage nach der Festnahme der gesuchten Person erfolgte Durchführung der Auslieferungshaftverhandlung verletzt damit § 9 Abs 1 ARHG iVm § 175 Abs 2 Z 1 StPO iVm Art 6 Abs 1 3. ZP EuAlÜbk.

[17] 2./ Sobald sich die betroffene Person iSd § 32 ARHG mit der vereinfachten Auslieferung einverstanden erklärt, ist die Wirksamkeit eines Beschlusses auf Verhängung oder Fortsetzung der Auslieferungshaft nicht mehr durch eine Haftfrist begrenzt (§ 29 Abs 5 ARHG).

[18] Vorliegend gab der Betroffene eine solche Erklärung bereits in der Auslieferungshaftverhandlung vom 10. Mai 2021 zu Protokoll. Indem das Landesgericht für Strafsachen Graz die Wirksamkeit der daraufhin beschlossenen Fortsetzung der Auslieferungshaft dennoch bis zum 10. Juni 2021 beschränkte, verletzte sein am 10. Mai 2021 gefasster Beschluss somit § 29 Abs 5 ARHG.

[19] 3./ Gemäß Art 16 Abs 1 EuAlÜbk können die zuständigen Behörden des ersuchenden Staats in dringenden Fällen – und damit vor Übermittlung eines schriftlichen Auslieferungsersuchens und der in Art 12 EuAlÜbk erwähnten Unterlagen – um vorläufige Verhaftung der gesuchten Person ersuchen. Diese bis zum Einlangen dieser Unterlagen lediglich vorläufige Haft darf 40 Tage vom Zeitpunkt der Verhaftung an nicht überschreiten (Art 16 Abs 4 EuAlÜbk).

[20] Eine – wie vorliegend – internationale Roteck Ausschreibung ist ein Ersuchen um vorläufige Verhaftung iSd Art 16 EuAlÜbk (12 Os 141/15z; Göth Flemmich in WK 2 ARHG § 27 Rz 2 und § 32 Rz 2).

[21] Liegt gegen die gesuchte Person bereits ein Ersuchen um vorläufige Verhaftung nach Art 16 EuAlÜbk vor, so bedarf es – bei entsprechender Zustimmung des Betroffenen iSd § 32 Abs 1 ARHG, Art 1 3. ZP EuAlÜbk – für eine vereinfachte Auslieferung nicht der weiteren Vorlage eines förmlichen Auslieferungsersuchens und der Unterlagen iSd Art 12 EuAlÜbk (Art 2 Abs 1 erster Satz 3. ZP EuAlÜbk).

[22] Sobald diese Voraussetzungen erfüllt sind, verliert somit auch die lediglich auf das Einlangen dieser Unterlagen abstellende Frist des Art 16 Abs 4 EuAlÜbk ihren Bezugspunkt, zumal ab diesem Zeitpunkt eine „vorläufige“ Haft gar nicht mehr vorliegt. Vielmehr ist in solchen Fällen die Wirksamkeit eines Beschlusses auf Verhängung oder Fortsetzung der (solcherart nicht mehr vorläufigen) Auslieferungshaft gemäß Art 29 Abs 5 ARHG nicht mehr durch eine Haftfrist begrenzt.

[23] Der im vorliegenden Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Beschwerdegericht vom 27. Mai 2021, AZ 8 Bs 166/21d, trotz Zustimmung des Betroffenen zu einer vereinfachten Auslieferung iSd § 32 Abs 1 ARHG bzw Art 1 3. ZP EuAlÜbk enthaltene Ausspruch, wonach die Auslieferungshaft aufzuheben wäre, wenn das Auslieferungsersuchen nicht (innerhalb der in Art 16 Abs 4 EuAlÜbk normierten Höchstfrist) bis zum 31. Mai 2021 beim Bundesministerium für Justiz einlangen würde, verletzt somit § 29 Abs 5 ARHG und Art 2 Abs 1 erster Satz 3. ZP EuAlÜbk.

[24] Im Hinblick auf die bereits erfolgte Beendigung des Auslieferungsverfahrens kommt bloß die Feststellung der aufgezeigten Gesetzesverletzungen in Betracht (§ 292 vorletzter Satz StPO; vgl 11 Os 26/18k).

Rückverweise