JudikaturOGH

10Ob24/22k – OGH Entscheidung

Entscheidung
24. Mai 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Univ. Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie den Hofrat Mag. Ziegelbauer, die Hofrätin Dr. Faber und die Hofräte Mag. Schober und Dr. Annerl als weitere Richter in der Pflegschaftssache der 1. mj E* und 2. mj Y*, beide geboren * 2019, *, beide vertreten durch das Land Niederösterreich als Kinder und Jugendhilfeträger (Bezirkshauptmannschaft St. Pölten, Am Bischofteich 1, 3100 St. Pölten), wegen Unterhaltsvorschuss, über den Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch die Präsidentin des Oberlandesgerichts Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 9. März 2022, GZ 23 R 69/22b, 23 R 70/22z 48, womit die Beschlüsse des Bezirksgerichts St. Pölten vom 12. November 2021, GZ 1 Pu 184/19s 34 und 1 Pu 184/19s 35, bestätigt wurden, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Akten werden dem Erstgericht mit dem Auftrag zurückgestellt, jeweils eine Ausfertigung der Entscheidung des Erstgerichts, der Rekursentscheidung und dieser Entscheidung dem Vater R*, Türkei, samt Rechtsmittelbelehrung zur allfälligem Erhebung eines Revisionsrekurses sowie jeweils eine Gleichschrift des Revisionsrekurses des Bundes dem Vater, der Mutter und dem Träger der Kinder und Jugendhilfe als Vertreter der Kinder samt entsprechender Belehrung zur allfälligen Erstattung einer Revisionsrekursbeantwortung zuzustellen sowie die Akten nach Erstattung eines Revisionsrekurses bzw einer Revisionsrekursbeantwortung oder nach fruchtlosem Verstreichen der Frist erneut dem Obersten Gerichtshof vorzulegen.

Text

Begründung:

[1] Mit Beschluss des Erstgerichts vom 17. Dezember 2020 (ON 21) wurde die Unterhaltsverpflichtung des in der Türkei wohnhaften Vaters ab 21. April 2019 mit monatlich 85 EUR je Kind festgesetzt. Der Vater beteiligte sich nicht am Unterhaltsverfahren; die Entscheidung des Erstgerichts wurde ihm aufgrund eines Zustellersuchens nach dem Haager Zustellungsübereinkommen am 7. April 2021 zugestellt (ON 30).

[2] Mit den nunmehr angefochtenen Beschlüssen gewährte das Erstgericht den Kindern von 1. Oktober 2021 bis 30. September 2026 einen monatlichen Unterhaltsvorschuss von jeweils 85 EUR.

[3] Das Erstgericht stellte diese Beschlüsse dem Träger der Kinder und Jugendhilfe als Vertreter der Kinder, der Mutter und der Präsidentin des Oberlandesgerichts Wien, nicht aber dem Vater zu.

[4] Gegen die Beschlüsse des Erstgerichts erhob die Präsidentin des Oberlandesgerichts Wien Rekurs und führte darin aus, dass beide Elternteile und die Kinder türkische Staatsangehörige seien, sodass die Kinder keinen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen hätten; die Mutter beziehe lediglich bedarfsorientierte Mindestsicherung und sei somit zwar krankenversichert, aber in Österreich nicht von einem System der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer erfasst.

[5] Den Rekurs stellte das Erstgericht dem Träger der Kinder und Jugendhilfe als Vertreter der Kinder und der Mutter zur allfälligen Rekursbeantwortung zu, nicht aber dem Vater.

[6] Das Rekursgericht gab dem Rekurs nicht Folge und ließ den Revisionsrekurs zu. Die Arbeitnehmereigenschaft der Mutter nach der Verordnung (EWG) 1408/71 leite sich ausschließlich aus dem Bestehen einer Teilversicherung ab.

[7] Die Rekursentscheidung wurde dem Träger der Kinder und Jugendhilfe als Vertreter der Kinder, der Mutter und der Präsidentin des Oberlandesgerichts, nicht aber dem Vater zugestellt.

[8] Gegen die Rekursentscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Bundes , vertreten durch die Präsidentin des Oberlandegerichts Wien, mit dem Antrag auf Abweisung der Anträge der Kinder; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Bezieher einer bedarfsorientierten Mindestsicherung seien zwar krankenversichert, jedoch in Österreich nicht von einem System der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer erfasst, zumal bedarfsorientierte Mindestsicherung allen hilfsbedürftigen Personen gewährt werde, die einen dauernden Aufenthalt im Inland hätten.

[9] Die Akten wurden dem Obersten Gerichtshof im Wege des Rekursgerichts vorgelegt, ohne den Revisionsrekurs einer anderen Partei zuzustellen.

Rechtliche Beurteilung

[10] Die Aktenvorlage ist verfrüht.

[11] 1.1. Dem Vater wurden weder die Entscheidungen der Vorinstanzen noch die Rechtsmittel im Rekurs und im Revisionsrekursverfahren zur allfälligen Erstattung einer Rechtsmittelbeantwortung zugestellt, was das Erstgericht nach dem Aktenvermerk vom 10. Dezember 2021 (ON 43) mit verfahrensökonomischen Gründen und der Annahme begründete, dass der Vater (mangels Rechtskraft der Gewährung und infolge Innehaltung mit der Auszahlung der Vorschüsse) nicht beschwert sei.

[12] 1.1.1. Der Unterhaltsschuldner und die Präsidentin des Oberlandesgerichts sind im (erstinstanzlichen) Verfahren nach dem Unterhaltsvorschussgesetz nur zu hören, wenn dadurch Zweifel über das Vorliegen der Voraussetzungen geklärt werden können und das Verfahren nicht verzögert wird (§ 12 UVG). Gründe dafür, die genannten Parteien im erstinstanzlichen Verfahren vor Beschlussfassung zu hören, sind nicht ersichtlich, sodass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs insofern nicht nahe liegt.

[13] 1.1.2. Der Beschluss, mit dem Vorschüsse bewilligt werden, ist allerdings in jedem Fall den im Gesetz genannten Personen, ua also auch dem Unterhaltsschuldner zuzustellen (§ 14 UVG; ähnlich § 38 AußStrG: „allen aktenkundigen Parteien“). Der Unterhaltsschuldner ist im Hinblick auf allfällige Rückersatzansprüche des Bundes (§§ 22, 28 und 29 UVG) sowie die Verpflichtung zur Zahlung der Unterhaltsbeträge an den Träger der Kinder und Jugendhilfe (§ 26 Abs 2 UVG) und zur Zahlung der Pauschalgebühr (§ 24 UVG) zum Rekurs dagegen berechtigt (10 Ob 71/15m [Pkt 1.1]; Neumayr in Schwimann/Kodek , ABGB 4 § 15 UVG Rz 9). Der in den Entscheidungen der Vorinstanzen als unterhaltspflichtig angesehene Vater hatte somit im Rekursverfahren – entgegen der gesetzlichen Vorschriften – kein rechtliches Gehör. Gründe der Verfahrensökonomie rechtfertigen diese Gehörsverletzung nicht und der Vater ist durch die (Unterhaltsvorschüsse gewährenden) Entscheidungen – entgegen der Rechtsansicht des Erstgerichts – auch vor ihrer Rechtskraft oder Auszahlung der damit gewährten Vorschüsse beschwert.

[14] 1.2.1. Damit haftet dem rekursgerichtlichen Verfahren ein Verstoß gegen § 66 Abs 1 Z 1 iVm § 58 Abs 1 Z 1 AußStrG an, der auch im Revisionsrekursverfahren analog § 55 Abs 3 AußStrG von Amts wegen wahrzunehmen wäre (RIS Justiz RS0119971 [T3]).

[15] 1.2.2. Nach § 58 Abs 1 Z 1 und Abs 3 iVm § 71 Abs 4 AußStrG ist bei einem solchen schweren Verfahrensmangel vor der Entscheidung auf Aufhebung und Zurückweisung der Außerstreitsache an eine Vorinstanz zu prüfen, ob nicht eine Bestätigung selbst aufgrund der Angaben im Rechtsmittel oder eine Abänderung ohne weitere Erhebungen möglich ist. Zu diesem Zweck ist es erforderlich, der bisher nicht gehörten Partei Gelegenheit zu geben, sich am Revisionsrekursverfahren zu beteiligen und ihre materiellen und/oder prozessualen Rechte geltend zu machen oder auch nicht (RS0123128). Mit Rücksicht auf § 58 Abs 2 AußStrG ist davon auszugehen, dass auch eine Beteiligung am Rechtsmittelverfahren ohne Geltendmachung der Gehörsverletzung deren Heilung bedeutet (10 Ob 18/19y [Pkt 3.2]; 5 Ob 237/09b [Pkt 3.4]).

[16] 1.3. D as Erstgericht wird daher den erstinstanzlichen Beschluss, die Rekursentscheidung (samt Rechtsmittelbelehrung) sowie die vorliegende Entscheidung nachweislich dem Vater zuzustellen haben, um diesem die Möglichkeit zu eröffnen, durch Erhebung eines – infolge des Ausspruchs des Rekursgerichts zulässigen – Revisionsrekurses sein rechtliches Gehör in diesem Verfahren zu wahren.

[17] 2.1. Darüber hinaus wurde der vorliegende Revisionsrekurs keiner anderen Partei zugestellt.

[18] 2.1.1. Wird ein Revisionsrekurs (oder eine Zulassungsvorstellung mit der ein ordentlicher Revisionsrekurs verbunden ist) gegen einen Beschluss erhoben, mit dem über die Sache entschieden worden ist und findet das Gericht erster Instanz keinen Grund zur Zurückweisung, so ist aber jeder anderen aktenkundigen Partei eine Gleichschrift zuzustellen (§ 68 Abs 1 AußStrG; vgl RS0120860). Diese Parteien können binnen 14 Tagen eine Beantwortung des Revisionsrekurses mittels Schriftsatzes überreichen (§ 68 Abs 1 Satz 2 AußStrG).

[19] 2.1.2. In diesem Sinn sind im Gewährungsverfahren das Kind (vertreten durch den Träger der Kinder und Jugendhilfe), die Mutter als Zahlungsempfängerin und der Vater als Geldunterhaltsschuldner Parteien iSd § 2 Abs 1 AußStrG (RS0120860 [T12, T24]; 10 Ob 23/19h [Pkt 2.]). Auch ihnen steht es daher frei, eine Beantwortung des Revisionsrekurses des Bundes einzubringen (§ 68 Abs 1 und Abs 3 Z 2 AußStrG; 10 Ob 23/19h). Die Mutter und der Vater – nicht aber die anderen genannten Personen (§ 6 Abs 3 AußStrG) – müssten dabei durch einen Rechtsanwalt vertreten sein (§ 6 Abs 1 AußStrG).

[20] 2.2. Das Erstgericht wird daher dem Träger der Kinder und Jugendhilfe als Vertreter der Kinder, der Mutter als Zahlungsempfängerin und dem Vater als Unterhaltsschuldner eine Gleichschrift des Revisionsrekurses des Bundes (soweit jeweils nötig mit entsprechender Belehrung) zuzustellen haben.

[21] 3. Erst nach Zustellung der im Verfahren ergangenen Beschlüsse an den Vater (oben Punkt 1.3.) und des Revisionsrekurses an die anderen aktenkundigen Parteien (oben Punkt 2.2.) sowie allfälligem Einlangen entsprechender Schriftsätze oder fruchtlosem Ablauf der dafür vorgesehenen Fristen wird der Akt wieder vorzulegen sein.

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