1Ob71/22f – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Univ. Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofrätin und die Hofräte Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei L*, vertreten durch Mag. Britta Schönhart Loinig, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei A*, vertreten Dr. Kristina Venturini, Rechtsanwältin in Wien, wegen Anfechtung (Streitwert 72.000 EUR), über die außerordentliche Revision der klagenden Partei, gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 8. Februar 2022, GZ 44 R 466/21m 107, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Döbling vom 15. Oktober 2021, GZ 35 C 5/17p 103, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Text
Begründung:
[1] Der Kläger und die Beklagte waren verheiratet. Am 22. 12. 2015 fand die Tagsatzung über ihre einvernehmliche Scheidung statt, in der sie einen umfangreichen Vergleich über deren Folgen abschlossen. Unter anderem vereinbarten sie darin detaillierte Regelungen über die Verpflichtung des Klägers zur Unterhaltszahlung an die Beklagte. Dieser Vergleich war unter Beteiligung der dam aligen Rechtsvertreter der Streitteile ausgearbeitet worden und war bereits Teil ihres Antrags auf einvernehmliche Scheidung vom 17. 12. 2015. Auch bei der Scheidungstagsatzung selbst war der Kläger rechtsfreundlich vertreten.
[2] Der Kläger begehrte, die Unwirksamkeit des am 22. 12. 2015 abgeschlossenen Scheidungsfolgenvergleichs festzustellen , weil er bei dessen Abschluss geschäftsunfähig gewesen sei.
[3] Das Berufungsgericht bestätigte das die Klage abweisende Urteil des Erstgerichts und erklärte die Revision für nicht zulässig.
[4] Die außerordentliche Revision des Klägers zeigt keine Fragen von der Bedeutung gemäß § 502 Abs 1 ZPO auf und ist daher zurückzuweisen. Das ist kurz zu begründen:
Rechtliche Beurteilung
[5] 1.1 Die Frage, ob ein Sachverständigengutachten schlüssig und nachvollziehbar ist, gehört zur Beweiswürdigung (vgl RIS Justiz RS0043320 [T12]; RS0043371 [T15]) und kann daher im Revisionsverfahren grundsätzlich nicht überprüft werden.
[6] 1.2 Der Revisionsgrund nach § 503 Z 2 ZPO kann zwar verwirklicht sein, wenn eine nachvollziehbare Begründung bei der Erledigung der Beweisrüge fehlt, so wenn sich das Berufungsgericht mit den A usführungen zur Verfahrens und Beweisrüge in der Berufung überhaupt nicht befasst (RS0043371 [T23]) oder gewichtige Argumente unbeachtet gelassen hat (RS0043144 [T7]). Davon kann im vorliegenden Fall aber schon deshalb keine Rede sein, weil sich das Berufungsgericht mit den vom Kläger gegen die Ausführungen des vom Erstgericht bestellten Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Psychiatrie vorgetragenen Argumenten ausführlich auseinandergesetzt und schlüssig begründet hat, warum es der von ihm vermissten ergänzenden Stellungnahme nicht bedurfte.
[7] 2.1 Die Anfechtung der Ergebnisse von Sachverständigengutachten, die die Tatsacheninstanzen ihrer Entscheidung zugrunde gelegt haben , wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung ist nur insoweit möglich, als dabei dem Sachverständigen bei seinen Schlussfolgerungen ein Verstoß gegen zwingende Denkgesetze oder gegen objektiv überprüfbare (sonstige) Erfahrungssätze unterlaufen wäre (RS0043168 [T8; T14]; RS0043404). Das ist nicht der Fall.
[8] 2.2 Der Kläger bezieht sich vielmehr auf ein Privatgutachten, das seinen Standpunkt stützt, und leitet aus dessen Nichtbeachtung einerseits eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens ab und sieht darin andererseits den Revisionsgrund nach § 503 Z 4 ZPO verwirklicht. Die Frage, welche Bedeutung die Tatsacheninstanzen dem von einer Partei vorgelegten Privatgutachten beigemessen haben, betrifft aber ebenfalls die in dritter Instanz nicht angreifbare Beweiswürdigung ( RS0043291 [T3]; 1 Ob 14/20w). Im vorliegenden Fall hat der vom Gericht bestellte Sachverständige ohnedies Stellung zu dem vom Kläger vorgelegten Privatgutachten bezogen und Antworten auf die vo m Kläger auch noch in dritter Instanz thematisierte Frage nach der Klassifizierung seiner Erkrankung – wenn auch nicht in seinem Sinn – gegeben. Darauf hat bereits das Berufungsgericht bei Erledigung der Verfahrensrüge zu diesem Themenkomplex zutreffend hingewiesen.
[9] 3. Selbst wenn das Berufungsgericht die Rechtsrüge unzutreffend als – weil nicht von den Feststellungen ausgehend – nicht gesetzmäßig ausgeführt angesehen und deshalb ihre sachliche Behandlung verweigert hätte, wäre allenfalls der Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit nach § 503 Z 2 ZPO verwirklicht (RS0043231). Warum das Urteil des Berufungsgerichts nichtig im Sinn des Revisionsgrundes nach § 503 Z 1 ZPO sein soll, weil es die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts ausgehend von den von ihm übernommenen Feststellungen für zutreffend erachtete und Feststellungsmängel verneinte, ist damit nicht erkennbar.
[10] 4.1 Die faktischen Umstände und persönlichen Eigenschaften im Zeitpunkt der Abgabe einer Willenserklärung (hier: Abschluss des Vergleichs über die Folgen der Scheidung) sind tatsächlicher Natur und als Teil der Feststellungen irrevisibel. Lediglich d ie Schlussfolgerung, ob sich der Kläger nach den festgestellten Umständen verpflichten konnte (§ 865 Abs 1 ABGB), ist als Rechtsfrage in dritter Instanz überprüfbar (RS0014641).
[11] 4 .2 Die Beurteilung, ob eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt die Tragweite einer von ihr abgegebenen Willenserklärung verstandesmäßig erfassen konnte oder ob ihr die Fähigkeit, sich durch eigenes Handeln rechtsgeschäftlich zu verpflichten wegen einer die Entscheidungsfähigkeit ausschließenden geistigen Störung fehlte, ist eine Frage des Einzelfalls (vgl RS0117658), deren Lösung durch die Vorinstanzen vor dem Hintergrund der maßgeblichen Feststellungen auch keiner Korrektur bedarf.
[12] 4 .3 Die Geschäftsfähigkeit wird nach § 865 Abs 1 ABGB bei Volljährigen vermutet. Für den vorliegenden Fall trifft es zwar zu, dass der Kläger bei Abschluss des Vergleichs aufgrund der Trennung an einer Belastungsreaktion (Anpassungsstörung nach IVD 1, WHO) litt und diese Affektstörung im Sinne eines leichten, depressiven Zustands ausgeprägt war, Symptome einer depressiven Episode schwerer Ausprägung – und damit Anhaltspunkte für eine Beeinträchtigung seiner Entscheidungsfähigkeit – konnten für den 22. 12. 2015 jedoch nicht festgestellt werden. Dass er nicht geschäftsfähig gewesen wäre, wie er meint, kann daher aus den festgestellten Umständen nicht abgeleitet werden. Die Vorinstanzen sind daher in unbedenklicher Weise davon ausgegangen, dass der Kläger in der Lage war, die Bedeutung seines rechtsgeschäftlichen Handelns und damit die Tragweite des Vergleichs zu erkennen.
[13] 4 .4 Es mag zutreffen, dass der Kläger, wie er argumentiert, vom Scheidungswunsch der Beklagten getroffen war und versuchte, sie durch besonders großzügige Zugeständnisse im Scheidungsfolgenv ergleich zurückzugewinnen. Seine Ausführungen, wonach selbst bei Bejahen seiner Geschäftsfähigkeit der Klage stattzugeben wäre, weil es seiner E rklärung an der erforderlichen Ernstlichkeit gemangelt hätte, können aber schon deshalb nicht nachvollz ogen werden , weil dem Vergleichsabschluss Verhandlungen unter Beteiligung von Rechtsanwälten auf beiden Seiten vorang egangen waren . Ernstlich ist eine Willense rklärung, wenn sie auf die Herbeiführung von Rechtsfolgen gerichtet ist, was primär aus der Sicht eines redlichen Erklärungsempfängers, also nach objektiven Kriterien zu beurteilen ist (RS0014690). Ein Vorbringen, dass Anlass zu einer Auseinandersetzung in diesem Zusammenhang in tatsächlicher Hinsicht gegeben hätte, hat der Kläger im Verfahren erster Instanz ohnedies nicht erstattet. Seine Ausführungen verstoßen damit auch gegen das Neuerungsverbot.
[14] 5. Einer weiteren Begründung bedarf es nicht (§ 510 Abs 3 ZPO).