8ObA96/21g – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann Prentner und Mag. Wessely Kristöfel als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Andreas Mörk (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Robert Hauser. (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei F*, vertreten durch Freimüller/Obereder/Pilz Rechtsanwält_innen GmbH in Wien, wider die beklagte Partei V* AG, *, vertreten durch Mag. Johannes Kautz, Rechtsanwalt in Wien, wegen zuletzt 25,03 EUR brutto sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 24. September 2021, GZ 9 Ra 28/21k 27, mit dem das Urteil des Arbeits und Sozialgerichts Wien vom 19. November 2020, GZ 3 Cga 16/20y 22, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 86,42 EUR (darin 14,40 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung:
[1] Die Beklagte verwaltet die vom ehemaligen Dienstgeber der Klägerin entrichteten Beiträge zum System der „Abfertigung-Neu“ aufgrund eines Beitrittsvertrags, der ihr am 2. 1. 2006 vom Hauptverband der Sozialversicherungsträger zugewiesen wurde. Mit Schreiben vo m 30. 4. 2019 informierte die Beklagte die Klägerin darüber, dass sie aufgrund ihres Pensionsantritts zum Stichtag 31. 3. 2019 über ein Guthaben von 274,16 EUR brutto verfügen könne, das durch die Veranlagung ihrer Beiträge aus ihrer Erwerbstätigkeit bei ihrem ehemaligen Dienstgeber erwirtschaftet worden sei. Au s Anlass eines Auszahlungsbegehrens teilte die Beklagte der Klägerin jedoch mit, dass aufgrund einer Differenz in der Höhe von 38,89 EUR zwischen den gemeldeten Lohnzetteln und den tatsächlich eingelangten Beiträgen nur ein um diese Differenz verminderter Betrag des Guthabens ausbezahlt werden könne. Es bestand Unterdeckung, weil die Beitragsnachweise, aufgrund derer die Beklagte bis 2019 Pauschalzahlungen vom Sozialversicherungsträger erhielt, in Summe geringer als die Summe der bei der Beklagten gemeldeten Beitragsgrundlagennachweise (Lohnzettel) waren, auf die sich die Kontonachrichten beziehen. Es konnte nicht festgestellt werden, ob Grund für die Unterdeckung unrichtige Beitragsgrundlagennachweise waren oder ob die Beiträge vom ehemaligen Dienstgeber der Klägerin nicht vollständig bezahlt wurden.
[2] D ie Klägerin begehrte zuletzt (nach Erhalt von 249,13 EUR brutto die Differenz auf 274,16 EUR brutto von) 25,03 EUR brutto. Die Beklagte hafte für die Richtigkeit des in der Kontonachricht zum Stichtag 31. 3. 2019 ausgewiesenen Guthabens.
[3] Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage. Sie sei nicht zur Zahlung einer Abfertigung für Beiträge verpflichtet, die niemals an sie überwiesen worden seien.
[4] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab .
[5] Das Berufungsgericht gab der Berufung de r Klägerin nicht Folge . Sowohl bei der Abfertigungsanwartschaft als auch bei der Garantieleistung gelte das Zuflussprinzip. Die Beklagte hafte für die Richtigkeit ihrer Kontonachrichten nur bis zur Summe jener Beiträge, die ihr vom Krankenversicherungsträger, dessen Aufgabe die Einhebung der Beiträge zu BV Kasse sei, tatsächlich zugeflossen seien. Eine Pflicht der Beklagten zur Überprüfung der ordnungsgemäßen Bemessung, Einhebung, Verrechnung und Abfuhr der für sie bestimmten Beitragsteile ergebe sich weder aus den Normen des BMSVG noch aus dem Beitrittsvertrag.
[6] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil zur Frage der Haftung der BV Kassen für ihre Kontonachrichten im Falle einer Unterdeckung der Abfertigungsanwartschaft noch keine oberstgerichtliche Rechtsprechung vorliege.
[7] Die vo n der Beklagten beantwortete Revision der Klägerin ist entgegen dem – nicht bindenden – Ausspruch des Berufungsgerichts mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig .
Rechtliche Beurteilung
[8] 1. Gemäß § 15 BMSVG i n der Fassung BGBl I 102/2007 ergibt sich die Höhe der Abfertigung aus der Abfertigungsanwartschaft zum Ende jenes Monats, zu dem ein Anspruch gemäß § 16 BMSVG fällig geworden ist , einschließlich einer allfälligen Garantieleistung gemäß § 24 BMSVG bei Verfügung gemäß § 17 Abs 1 Z 1, 3 und 4, Abs 2a oder Abs 3 BMSVG.
[9] Abfertigungsanwartschaft sind nach § 3 Z 3 BMSVG die in einer BV Kasse verwalteten Ansprüche eine s Anwartschaftsberechtigten; diese setzen sich zusammen aus
den in diese BV Kasse eingezahlten Abfertigungsbeiträgen abzüglich der einbehaltenen Verwaltungskosten und/oder einer allenfalls in diese BV Kasse übertragenen Altabfertigungsanwartschaft abzüglich der jeweils einbehaltenen Verwaltungskosten zuzüglich
allfälliger der BV Kasse zugeflossener Verzugszinsen für Abfertigungsbeiträge und/oder für eine Altabfertigungsanwartschaft zuzüglich
- der allenfalls aus einer anderen BV Kasse in diese BV Kasse übertragenen Abfertigungsanwartschaft zuzüglich
der zugewiesenen Veranlagungsergebnisse.
Gemäß § 24 Abs 1 BMSVG beträgt in den Fällen des § 14 Abs 5 und § 17 Abs 1 Z 1, 3 und 4, Abs 2a sowie Abs 3 BMSVG der Mindestanspruch des Anwartschaftsberechtigten gegenüber der BV Kasse
1. die Summe der dieser BV Kasse zugeflossenen Abfertigungsbeiträge zuzüglich
2. einer allenfalls übertragenen Altabfertigungsanwartschaft sowie
3. der allenfalls aus einer anderen BV-Kasse übertragenen Abfertigungsanwartschaft.
[10] Bei Übertragung einer Abfertigungsanwartschaft gemäß § 12 Abs 3 BMSVG erhöht sich der Mindestanspruch gegenüber der neuen BV Kasse im Ausmaß der der übertragenden BV Kasse zugeflossenen Abfertigungsbeiträge.
[11] Die Klägerin setzt der auf diesem Gesetzeswortlaut fußenden Beurteilung der Vorinstanzen, dass sowohl be i der Abfertigungsanwartschaft als auch der Garantieleistung das Zuflussprinzi p gilt, nichts entgegen. Für die Höhe der Abfertigung sind daher die der BV-K asse zugeflossenen Beiträge maßgeblich.
[12] 2. Die Klägerin meint, der geltend gemachte Anspruch gegenüber der Beklagten ergebe sich trotz Unterdeckung aus § 25 Abs 5 BMSVG iVm § 27 Abs 8 BMSVG.
[13] N ach § 25 Abs 5 BMSVG haftet die B V Kasse für die Richtig keit der Kontonachrichten auf der Grundlage der von den Sozialversicherungsträgern im Wege des Dachverbandes zur Verfügung gestellten Beitragsgrundlagenmeldungen im Ausmaß der gemäß § 27 Abs 8 BMSVG vom jeweiligen zuständigen Sozialversicherungsträger überwiesenen Beiträge. Nach § 27 Abs 8 BMSVG sind die jeweils zuständigen Träger der Krankenversicherung verpflichtet, die Beiträge nach den §§ 6 und 7 BMSVG an die BV Kasse unabhängig davon, ob der/die Arbeitgeber/in die Beiträge ordnungsgemäß geleistet hat, zur Gänze entsprechend den monatlichen Beitragsgrundlagen gemäß § 34 Abs 2 ASVG abzuführen.
[14] Bereits das Berufungsgericht hat hervorgehoben, dass die Einfügung der Wortfolge „im Ausmaß der gemäß § 27 Abs 8 vom jeweils zuständigen Sozialversicherungsträger überwiesenen Beiträge“ in § 25 Abs 5 BMSVG durch die BMSVG Novelle 2018, BGBl I 107/2017, die Haftung der BV Kasse auf das Ausmaß der tatsächlich überwiesenen Beiträge beschränkt. Selbst die Klägerin räumt ein, dass mit dieser Novellierung nur Klarstellungen verbunden waren (vgl ErlRV 1661 BlgNR 25. GP 52). Dieser Umstand bekräftigt, dass eine Haftung der BV Kasse für ihr nicht zugeflossene Beträge auch davor schon nicht vorgesehen war.
[15] § 27 Abs 8 BMSVG normiert eine Vorleistungspflicht zu Lasten der KV Träger (vgl Neubauer/Rath in Neubauer/Rath/Hofbauer/Choholka , BMSVG § 27 Rz 10 ff).
[16] Die Klägerin erklärt nicht näher, inwiefern sich aus dieser ausschließlich die KV-Träger verpflichtenden Bestimmung entgegen ihrem Wortlaut eine – das Zuflussprinzip konterkarierende – Haftung der Beklagten für ihr nicht überwiesene Beiträge ergeben soll. Außerdem setzt sie sich mit der Schlussfolgerung des Berufungsgerichts nicht auseinander, dass § 27 Abs 8 BMSVG hier nicht anwendbar sei, insbesondere weil die vom 2. 5. 2003 bis 31. 10. 2004 als einzige Dienstnehmerin ihres Dienstgebers beschäftigte Klägerin gar nicht ordnungsgemäß gemeldet gewesen sein dürfte (s dazu auch K. Mayr in ZellKomm 3 § 27 BMSVG Rz 7).
[17] Letztlich muss aber auf all das nicht weiter eingegangen werden, weil die Ausführungen der Klägerin unter der Prämisse stehen, dass die Beitragsgrundlagenmeldungen richtig waren. Das konnte im Anlassfall allerdings gerade nicht festgestellt werden.
[18] 3. Im Wesentlichen konzentriert sich d ie Argumentation der Klägerin auf die Behauptung , die Beklagte hätte die korrekten Zahlungen des K V Tr ägers an sie selbst entsprechend den Beitragsgrundlagenmeldungen überprüfen müssen , zumal die Beklagte für die Veranlagung der Entgelte der Arbeitnehmer eine Verwaltungsgebühr einbehalte. Ausgehend davon treffe die Beklagte ein Organisationsverschulden, weil sie die Höhe der abgeführten Beträge trotz der dazu bestehenden Möglichkeit nicht jährlich überprüfe bzw überprüft habe, den Arbeitnehmern aber dennoch Kontonachrichten übermittle, in denen un über prüfte Beträge ausgewiesen seien . Bei einer Überprüfung hätte die Beklagte erkennen müssen, dass die ÖGK geringere Beträge zur Anweisung bringe, als in den Beitragsgrundlagen ausgewiesen sei. Die Nichtüberprüfung sei sittenwidrig und verstoße gegen Treu und Glauben, weil die Beklagte einen Vertrauenstatbestand geschaffen habe, indem sie in den Kontonachrichten den Klagsbetrag als Anspruch der Klägerin angeführt habe, und sich nunmehr darauf berufe, weniger erlangt zu haben, ohne der Klägerin die Möglichkeit zu geben, noch innerhalb der Verjährungsfrist allfällige Ansprüche gegen den Arbeitgeber geltend zu machen. Daran änderten auch die Hinweise auf den Kontonachrichten nichts, dass die Beklagte keine Möglichkeit habe, die Richtigkeit der Beitragsleistung zu überprüfen.
[19] Mit diesen auf einen Schadenersatzanspruch abzielenden Ausführungen zeigt die Klägerin aber schon deshalb keine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO auf, weil sie einen Schaden nicht schlüssig zur Darstellung zu bringen vermag:
[20] Wie das Berufungsgericht erkannt hat, stünde der Klägerin für den Fall, dass die behauptete Unterdeckung selbst auf unrichtige Beitragsgrundlagennachweise zurückzuführen wäre, von Vornherein keine höhere Abfertigung zu. Da nicht feststeht, dass die Beitragsgrundlagennachweise korrekt waren und die Beiträge des Dienstgebers nicht zur Gänze geleistet wurden, hat die Klägerin den Eintritt eines Schadens nicht bewiesen. Nach den Feststellungen bleibt nämlich auch die erste – mit keinem Schaden verbundene – Sachverhaltsvariante möglich. Ungeachtet dessen hat die Klägerin – wie das Berufungsgericht zutreffend bemerkt hat – für den zweiten denkbaren Fall kein Vorbringen zur Einbringlichkeit allfälliger nicht bezahlter Beiträge beim Dienstgeber bei früherer Feststellung der Unterdeckung erstattet. Dies wäre aber Voraussetzung für einen insoweit auf eine Verschleierung der Unterdeckung gegründeten Schadenersatzanspruch gewesen. Einen anderen – nicht auf die höhere Abfertigung gerichteten – Vertrauensschaden hat die Klägerin nicht vorgetragen.
[21] Aus diesem Grund k ann die von der Klägerin in der Revision relevierte Frage, ob die Beklagte eine Prüfpflicht verletzt hat bzw ob ihr ein rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten anzulasten ist, auf sich beruhen.
[22] 4. Gleiches gilt für den Einwand der Klägerin, das Vorgehen der Beklagten nach dem „first come, first serve“ Prinzip wäre verfassungswidrig, weil es in Verstoß gegen das Eigentumsrecht und den Gleichheitssatz dazu führen könnte, dass der Arbeitnehmer, der als letzter Ansprüche gegenüber der BV Kass e geltend mache, diese unter Umständen nicht mehr ausbezahlt erhalte. Da mit versucht die Klägerin nur, eine – schon mangels Schadens nicht weiter relevante – Prüfpflicht der Beklagten in Bezug auf die einbehaltenen Beträge zu untermauern . D a die Klägerin nach den Feststellungen die einzige Dienstnehmerin ihres (ehemaligen) Dienst gebers war, konnte sich d ie kritisierte Vorgehensweise in concreto gar nicht auswirken .
[23] 5. D ie Revision der Klägerin war daher zurückzuweisen.
[24] 6. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO. Die Beklagte hat auf die Unzulässigkeit der Revision der Klägerin in ihrer Revisionsbeantwortung hingewiesen (RS0035979 [T16]).