Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden, die Hofräte Univ. Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny, die Hofrätin Dr. Faber und den Hofrat Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Pflegschaftssache des Minderjährigen B*, geboren am * 2010, wohnhaft bei der Mutter A*, vertreten durch Mag. Julia Goth, Rechtsanwältin in Linz, als Verfahrenshelferin, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters M*, vertreten durch Dr. Matthäus Metzler, Rechtsanwalt in Linz, als Zustellkurator, gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht, vom 6. Oktober 2021, GZ 15 R 352/21x 33, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).
Begründung:
[1] Die Eltern des Minderjährigen schlossen am 24. 8. 2006 im Iran die Ehe. Der Minderjährige kam dort als eheliches Kind zur Welt. Im Jahr 2013 kam die Familie nach Österreich. Bezüglich der Mutter und des Minderjährigen ergingen positive Asylbescheide; sie sind somit Flüchtlinge im Sinne des Art 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK).
[2] Während des Zusammenlebens in Linz kam es immer wieder zu tätlichen Angriffen des Vaters gegenüber der Mutter. Im Jahr 2014 sprach die Polizei gegen den Vater ein Betretungsverbot aus. Generell kam es oft zu Streitigkeiten, weil der Vater häufig übermäßig Alkohol konsumierte und sich unter Alkoholeinfluss gegenüber der Mutter aggressiv und gewaltbereit verhielt. Bei der Pflege, Betreuung und Erziehung unterstützte der Vater die Mutter nicht, er war vielmehr der Ansicht, dass dies die Aufgabe der Mutter sei. Im Februar 2016 verließ der Vater die Familie, um in den Iran zurückzukehren. Seither fand kein persönliches Zusammentreffen zwischen dem Vater und dem Minderjährigen mehr statt. Der Vater äußerte jedoch wiederholt, er werde der Mutter den Minderjährigen wegnehmen und diesen in den Iran bringen.
[3] Der Vater leitete außerdem zwischenzeitig ein Gerichtsverfahren vor dem Landesgericht Teheran ein, im Zuge dessen die Mutter eine Entscheidung erhielt, wonach sie binnen eines Monats den Sohn an den Vater zurückzugeben habe.
[4] Die Vorinstanzen sprachen aus, dass dem Vater die Obsorge für den Minderjährigen vorläufig entzogen werde und vorläufig zur Gänze allein der Mutter zukomme; außerdem wurde dem Vater die Ausreise aus Österreich mit dem Minderjährigen verboten. Dem Beschluss wurde vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zuerkannt.
[5] Das Rekursgericht, das den Revisionsrekurs für nicht zulässig erklärte, vertrat die Auffassung, dass gemäß Art 8 Abs 1 Brüssel IIa VO iVm Art 1 Abs 2 lit b, Art 1 Abs 1, Art 6 Abs 1 und Art 15 Abs 1 Haager KSÜ Österreich international zuständig und österreichisches Recht als lex fori maßgeblich sei, weil das Kind bei Verfahrenseinleitung den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatte. Da es sich beim Minderjährigen um einen anerkannten Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention handle, dürfe gemäß Art 12 GFK nicht iranisches Recht angewendet werden. Der Minderjährige könne deshalb auch nicht der Jurisdiktion seines Fluchtstaats (Iran) unterworfen werden.
[6] Der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters ist nicht zulässig.
[7] 1. Zutreffend gingen die Vorinstanzen davon aus, dass die Entscheidung des Landesgerichts Teheran nicht anzuerkennen ist:
[8] 1.1. Die Voraussetzungen für die Anerkennung ausländischer Entscheidungen über die Obsorge und das Recht auf persönlichen Verkehr richten sich nach §§ 112 ff AußStrG. Dabei sind auf die Anerkennung gemäß § 116 AußStrG die Bestimmungen über die Vollstreckbarerklärung sinngemäß anzuwenden.
[9] Gemäß § 113 AußStrG ist die Vollstreckbarerklärung zu verweigern, wenn sie (Z 1) dem Kindeswohl oder anderen Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung (ordre public) offensichtlich widerspricht, (Z 2) das rechtliche Gehör des Antragsgegners im Ursprungsstaat nicht gewahrt wurde, sofern dieser nicht mit der Entscheidung offenkundig einverstanden ist, (Z 3) die Entscheidung mit einer späteren österreichischen oder einer späteren ausländischen Obsorge oder Besuchsrechtsentscheidung unvereinbar ist oder (Z 4) die erkennende Behörde bei Anwendung österreichischen Rechts für die Entscheidung nicht zuständig gewesen wäre.
[10] 1.2. Die Anerkennung der Entscheidung des Landesgerichts Teheran scheitert im vorliegenden Fall schon daran, dass diese dem Kindeswohl und grundlegenden Wertungen des österreichischen Rechts widerspricht (§ 113 Abs 1 Z 1 AußStrG). Durch dessen prominente Anführung an erster Stelle wird vom Gesetz verdeutlicht, dass das Kindeswohl anlässlich der Prüfung der Anerkennung bzw der Vollstreckbarerklärung besondere Beachtung verdient. Die Erteilung der Vollstreckbarerklärung ist nach den Erläuterungen jedenfalls ausgeschlossen, wenn in der ausländischen Entscheidung auf das Kindeswohl gar nicht Rücksicht genommen oder dieses anderen Interessen (gänzlich) untergeordnet wird (ErläutRV 296 BlgNR 21. GP 95). Dies wird durch die Formulierung des § 138 Satz 1 ABGB idF KindNamRÄG 2013 noch unterstrichen, der normiert, dass „(i)n allen das minderjährige Kind betreffenden Angelegenheiten ... das Wohl des Kindes ... als leitender Gesichtspunkt zu berücksichtigen und bestmöglich zu gewährleisten“ ist. Wird in einer fremden Entscheidung darauf von vornherein keine Rücksicht genommen oder wird es anderen Interessen – etwa dem „Recht“ eines Elternteils auf das Kind – gänzlich untergeordnet, so ist eine Anerkennung und Vollstreckbarerklärung zu verweigern ( Neumayr in Burgstaller/Neumayr/Geroldinger/Schmaranzer , IZVR § 113 AußStrG Rz 3).
[11] Der 2010 geborene Minderjährige lebt seit 2013 in Österreich. Seit Februar 2016 besteht kein Kontakt zum Vater. Dazu kommt, dass nach Art 12 GFK die personenrechtliche Stellung eines Flüchtlings vom Gesetz seines Wohnsitzlandes oder, wenn er keinen Wohnsitz hat, vom Gesetz seines Aufenthaltslandes bestimmt wird. Eine Entscheidung, die die Obsorge über einen in Österreich anerkannten Flüchtling, der hier bereits seit mehreren Jahren lebt und seit mehreren Jahren keinen Kontakt zu seinem Vater hatte, dem Vater zuspricht und die Rückführung des Kindes in gerade das Land anordnet, aus dem er geflüchtet ist, widerspricht ganz offensichtlich sowohl dem Kindeswohl als auch Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung (ordre public). Damit ist jedenfalls der Anerkennungsverweigerungsgrund des § 113 Z 1 AußStrG verwirklicht.
[12] 1.3. Darüber hinaus ergingen die Entscheidungen der Vorinstanzen nach der Entscheidung des Landesgerichts Teheran. Letztere ist aber – was der Revisionsrekurs auch nicht bestreitet – mit der Entscheidung der Vorinstanzen unvereinbar. Damit scheitert die Anerkennung der Entscheidung des Landesgerichts Teheran aber auch an § 113 Z 3 AußStrG, weil diese Entscheidung mit einer späteren österreichischen oder einer späteren ausländischen Obsorge oder Besuchsrechtsentscheidung unvereinbar ist. Dieser Versagungsgrund entspricht inhaltlich Art 23 lit e und f Brüssel II a VO. Dabei wird der jüngeren inländischen Entscheidung der Vorrang eingeräumt, weil bei jener Entscheidung, die dem Zeitpunkt der Vollstreckbarerklärung am nächsten liegt, vermutet wird, dass sie „der jüngsten Sachlage am ehesten gerecht wird“ (ErläutRV 296 BlgNR 21. GP 96) und damit dem Kindeswohl dient ( Fuchs in Gitschthaler/Höllwerth , AußStrG² §§ 112–116 Rz 25; ähnlich Neumayr in Burgstaller/Neumayr/Geroldinger/Schmaranzer , IZVR § 113 AußStrG Rz 8; vgl Deixler-Hübner in Rechberger/Klicka , AußStrG³ § 113 AußStrG Rz 7).
[13] 1 .4. Damit bedarf es keines Eingehens auf die Frage, ob die Anerkennung zusätzlich auch deshalb zu verweigern wäre, weil der Mutter im Verfahren vor dem Landesgericht Teheran kein ausreichendes Gehör gewährt wurde (§ 113 Z 2 AußStrG).
[14] 2 . Aus demselben Grund ist auf die Ausführungen im Revisionsrekurs zur internationalen Zuständigkeit des Landesgerichts Teheran nicht weiter einzugehen. Selbst wenn man dessen Zuständigkeit bejahte, ergäbe sich daraus lediglich, dass der Anerkennungsverweigerungsgrund des § 113 Z 4 AußStrG nicht zum Tragen kommt. Im vorliegenden Fall scheitert jedoch die Anerkennung – wie ausgeführt – bereits an § 113 Z 1 und Z 3 AußStrG.
[15] 3. Die Notwendigkeit der Beiziehung eines Sachverständigen wurde von den Vorinstanzen übereinstimmend verneint. Dies ist schon deshalb nicht zu beanstanden, weil es sich im vorliegenden Fall um eine Entscheidung über die vorläufige Obsorge handelt, sodass schon aus Gründen der Dringlichkeit kein Raum für die Einholung eines Gutachtens bestand.
[16] 4. Zusammenfassend bringt der Revisionsrekurs daher keine Rechtsfragen der vom § 62 Abs 1 AußStrG geforderten Bedeutung zur Darstellung, sodass er spruchgemäß zurückzuweisen war.
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