8Ob89/21b – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann Prentner und Mag. Korn, den Hofrat Dr. Stefula und die Hofrätin Mag. Wessely Kristöfel als weitere Richter in der Erlagssache der erlegenden Partei V*****, gegen die Erlagsgegner 1. Verlassenschaft nach dem am ***** 2017 verstorbenen K***** T*****, 2. R***** T*****, p.A. *****, beide vertreten durch Oberbichler Kramer Rechtsanwälte in Feldkirch, über die Revisionsrekurse des Zweiterlagsgegners und der E***** M***** T*****, ebenso vertreten durch Oberbichler Kramer Rechtsanwälte in Feldkirch, gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch als Rekursgericht vom 28. Jänner 2019, GZ 1 R 278/18t 91, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Bregenz vom 17. September 2018, GZ 32 Nc 15/17y 84, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
I. Das Revisionsrekursverfahren wird fortgesetzt.
II. Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass dem Antrag der Erlagsgegner auf Ausfolgung des gerichtlichen Erlags
a) des zu HMB 275/15 bei der Buchhaltungsagentur des Bundes erlegten Betrags,
b) der bei der Erlegerin verwahrten Wertpapiere gemäß Punkt 3. des Verwahrungsbeschlusses des Bezirksgerichts Bregenz vom 13. November 2015, 7 Nc 98/15t (nunmehr 32 Nc 15/17y),
stattgegeben wird.
Text
Begründung:
Zu I.:
[1] Mit Beschluss vom 27. 5. 2020, 8 Ob 40/19v, wurde das Revisionsrekursverfahren bis zum Einlangen der unter einem beantragten Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90 Abs 1 GOG ausgesetzt. Der EuGH hat mit Urteil vom 1. 7. 2021, C 301/20, die Vorabentscheidung getroffen. Das Revisionsrekursverfahren ist daher von Amts wegen fortzusetzen.
Zu II.:
[2] Mit Beschluss des Erstgerichts vom 13. 11. 2015 wurde über Antrag der Erlegerin, einer Bank, ein bei dieser deponierter, aus Geld und Wertpapieren bestehender Erlag zu Gericht angenommen. Der Erlag erfolgte, weil die (ursprünglichen) Erlagsgegner konkurrierende Ansprüche auf die Vermögenswerte erhoben hatten und ihre materielle Anspruchsberechtigung ungeklärt war.
[3] Dem Verwahrungsbeschluss des Erstgerichts folgend darf der Erlag nur über einen gemeinsamen schriftlichen Antrag der Erlagsgegner oder aufgrund einer – nicht vorliegenden – rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung ausgefolgt werden.
[4] Der Ersterlagsgegner, bei dem es sich um den Vater des Zweiterlagsgegners (Erstantragstellers) handelte, ist am 5. 5. 2017 verstorben. Sein letzter gewöhnlicher Aufenthalt lag in Spanien. Die Abhandlung seines Nachlasses wurde nach spanischem Recht vor einem Notar durchgeführt. Die Zweitantragstellerin ist die Tochter des verstorbenen Ersterlagsgegners und Halbschwester des Erstantragstellers.
[5] Beide Antragsteller begehrten als Erben ihres Vaters – der Erstantragsteller auch im eigenen Namen als weiterer Erlagsgegner – gemeinsam die Ausfolgung des Erlags. Zum Nachweis dafür, dass sie je zur Hälfte Erben nach dem Ersterlagsgegner seien, legten sie eine beglaubigte Kopie eines am 29. 12. 2017 vom spanischen Notar ausgestellten europäischen Nachlasszeugnisses gemäß Art 62 ff der Verordnung (EU) Nr 650/2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses (EuErbVO), auf dem Formblatt V nach der Durchführungsverordnung (EU) 1329/2014 (Durch-führungsVO) vor. Diese Urkunde wurde über Antrag der Tochter (Zweitantragstellerin) ausgestellt und weist in der Rubrik „Gültig bis“ den Vermerk „unbefristet“ auf. Der Erstantragsteller ist in dem Nachlasszeugnis neben seiner Halbschwester als Hälfteerbe namentlich genannt.
[6] Das Erstgericht wies den Ausfolgungsantrag im Wesentlichen mangels ausreichenden Nachweises der Rechtsnachfolge nach dem verstorbenen Ersterlagsgegner ab.
[7] Das Rekursgericht gab dem Rechtsmittel der Antragsteller keine Folge. Das Europäische Nachlasszeugnis sei grundsätzlich als bindender Nachweis der Erbenstellung und damit der Rechtsnachfolge geeignet. Aus der vorgelegten Urkunde gehe jedoch hervor, dass sie lediglich zu Gunsten der Zweitantragstellerin ausgestellt wurde. Darüber hinaus sei die höchstens sechsmonatige Gültigkeitsdauer des Europäischen Nachlasszeugnisses im Zeitpunkt der Entscheidung des Erstgerichts bereits abgelaufen gewesen. Schließlich sei auch der nach dem Abhandlungsprotokoll noch ausständige, durch „Akkreditierung oder Ratifizierung“ zu erbringende Nachweis der Bevollmächtigung jenes Rechtsanwalts, der als Vertreter des Erstantragstellers die Erbsannahmeerklärung abgegeben habe, nicht beigebracht worden.
[8] G egen diese Entscheidung richte t sich der Revisionsrekurs der Antragsteller, der zur Klärung der über den Einzelfall hinaus bedeutenden Rechtsfragen der Gültigkeit des Europäischen Nachlasszeugnisses zulässig ist. Die Erlegerin hat sich am Rechtsmittelverfahren nicht beteiligt. Der Revisionsrekurs ist auch berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[9] 1. Der EuGH hat die ihm gestellten Vorlagefragen in seinem Urteil vom 1. 7. 2021, Rs C 301/20, wie folgt beantwortet:
„ 1. Art 70 Abs 3 der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses ist dahin auszulegen, dass die beglaubigte Abschrift eines Europäischen Nachlasszeugnisses, die mit dem Vermerk 'unbefristet' versehen ist, für die Dauer von sechs Monaten ab dem Ausstellungsdatum gültig ist und ihre Wirkungen im Sinne von Art. 69 dieser Verordnung entfaltet, wenn sie bei ihrer erstmaligen Vorlage gültig war.
2. Art 65 Abs 1 in Verbindung mit Art 69 Abs 3 der Verordnung Nr. 650/2012 ist dahin auszulegen, dass sich die Wirkungen des Europäischen Nachlasszeugnisses gegenüber allen dort namentlich genannten Personen entfalten, auch wenn sie seine Ausstellung nicht selbst beantragt haben.“
[10] 2. Davon ausgehend kann die Entscheidung des Rekursgerichts nicht bestehen.
[11] 2.1. Die mit dem Vermerk „unbefristet“ versehene gegenständliche Kopie des Europäischen Nachlasszeugnisses wurde dem Erstgericht am 22. 5. 2018 vorgelegt. Zu diesem Zeitpunkt waren seit dem Ausstellungsdatum 29. 12. 2017 noch keine sechs Monate verstrichen. Allein der Umstand, dass die Gültigkeitsdauer der Kopie in der Folge noch vor der Entscheidung des Erstgerichts abgelaufen ist, steht der vollen Wirksamkeit des Europäischen Nachlasszeugnisses im anhängigen Verfahren nicht entgegen.
[12] 2.2. Auch der Erstantragsteller kann sich zum Nachweis seiner Rechtsnachfolge nach seinem Vater auf die vorgelegte Kopie des Nachlasszeugnisses berufen. Es schadet nicht, dass die Urkunde nur über Antrag der Zweitantragstellerin ausgestellt wurde, weil beide Antragsteller darin namentlich und unter eindeutiger Angabe der Quote als Erben nach ihrem Vater, dem Ersterlagsgegner, bezeichnet werden.
[13] 2.3. Nach Art 67 Abs 1 EuErbVO stellt die Ausstellungsbehörde das Europäische Nachlasszeugnis unverzüglich nach dem in diesem Kapitel festgelegten Verfahren aus, wenn der zu bescheinigende Sachverhalt nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht oder jedem anderen auf einen spezifischen Sachverhalt anzuwendenden Recht feststeht.
[14] Das Europäische Nachlasszeugnis entfaltet seine Wirkungen in allen Mitgliedstaaten und es wird vermutet, dass das Zeugnis die Sachverhalte, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht oder einem anderen auf spezifische Sachverhalte anzuwendenden Recht festgestellt wurden, sowie die Rechtsstellung und/oder die Rechte der Personen, die im Zeugnis als Erbe, Vermächtnisnehmer, Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter genannt sind, gemäß Art 69 Abs 1 und 2 EuErbVO zutreffend ausweist (EuGH C 301/20, Rn 23).
[15] Auch im vorliegenden Verfahren ist daher von der Richtigkeit der im Nachlasszeugnis verbrieften Rechtsstellung der Antragsteller auszugehen. Eine Überprüfung des der Ausstellung des Nachlasszeugnisses vorangegangenen Verfahrens, insbesondere ob, wann und wie die Bevollmächtigung des Vertreters des Erstantragstellers bei der Einantwortung zu deren Wirksamkeit nachträglich „akkreditiert“ bzw „ratifiziert“ wurde, hat daher nicht stattzufinden. Diese Überprüfung oblag der das Nachlasszeugnis ausstellenden Behörde.
[16] 3. Den Antragstellern ist mit der Vorlage der Nachweis ihrer Rechtsnachfolge nach dem Ersterlagsgegner gelungen. Aufgrund der übereinstimmenden Erklärung beider Erlagsgegner ist dem Ausfolgungsantrag stattzugeben.