12Os92/21b – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 16. September 2021 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden sowie durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Oshidari, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel Kwapinski und Dr. Brenner sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Lampret als Schriftführer in der Strafsache gegen * S* und andere wegen des Verbrechens des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3 StGB, AZ 16 St 138/20y der Staatsanwaltschaft Innsbruck, im Verfahren über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck vom 27. Oktober 2020, AZ 21 Bl 172/20g, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die hier zu lösende Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, ob die Beischaffung eines gerichtlichen Aktes die Nutzung einer behördeninternen Informationsquelle nach § 91 Abs 2 letzter Satz StPO darstellt, ist in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht einheitlich beantwortet worden.
Text
Gründe:
[1] Bei der Staatsanwaltschaft Innsbruck langte am 18. Juni 2020 zu AZ 16 St 138/20y eine gegen mehrere Personen gerichtete Sachverhaltsdarstellung der S* LLC ein, in der um „Überprüfung [des Anzeigesachverhalts] hinsichtlich eines strafrechtlich relevanten Tatbestands (etwa auf Grundlage des Verbandsverantwortlichkeitsgesetzes bzw wegen §§ 146, 147, 156, 158, 159 StGB)“ ersucht wurde.
[2] Die Staatsanwaltschaft verfügte daraufhin, die Akten AZ 15 Cg 68/17b und AZ 15 Cg 77/19d jeweils des Landesgerichts Innsbruck sowie in der Sachverhaltsdarstellung angeführte – offenbar zunächst aufgrund eines Versehens beim Landesgericht Innsbruck eingelangte und dann von diesem an die Staatsanwaltschaft weitergeleitete (vgl Eingangsstampiglie auf Beilage ./A [in Mappe „Beilagen zu ON 2“]; ON 2a; ON 3) – Beilagen „einzuholen“ (ON 1 S 1). In der Folge wurde der Akt AZ 15 Cg 68/17b im Original an die Staatsanwaltschaft übermittelt, der Akt AZ 15 Cg 77/19d hingegen – über entsprechenden Hinweis der für dieses Zivilverfahren zuständigen Richterin (ON 4) – aus der VJ ausgedruckt (ON 5).
[3] Nach Einsichtnahme in die zivilgerichtlichen Akten – und ohne weitere Schritte zur Aufklärung des Tatverdachts zu setzen – verfügte die Staatsanwaltschaft am 29. Juni 2020 die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen * S*, * O*, * W*, * U* und * D* jeweils wegen des Verdachts nach §§ 146, 147 Abs 3 StGB gemäß § 190 Z 2 StPO, weil (zusammengefasst) ein „Betrugsvorsatz“ nicht erweislich sei (vgl ON 7; ON 10 S 14), und verständigte hievon gemäß § 194 Abs 1 StPO den „Opfervertreter“ (ON 1 S 3).
[4] Nach antragsgemäßer Übermittlung einer Einstellungsbegründung (§ 194 Abs 2 zweiter Satz StPO; ON 7) brachte die S* LLC einen Fortführungsantrag ein (ON 9), den die Staatsanwaltschaft mit einer Stellungnahme (ON 10) an das Gericht weiterleitete (§ 195 Abs 3 zweiter Satz StPO; ON 1 S 7).
[5] Mit Beschluss vom 27. Oktober 2020, AZ 21 Bl 172/20g (ON 16), wies das Landesgericht Innsbruck den Fortführungsantrag als unzulässig zurück.
[6] Begründend führte das Landesgericht aus, fallbezogen habe die Staatsanwaltschaft die Sachverhaltsdarstellung nicht zum Anlass für Ermittlungen genommen, sondern lediglich von der Anzeigerin jene Beilagen, welche diese laut Punkt 7. ihrer Sachverhaltsdarstellung „vorgelegt“ habe, erbeten. Dies stelle eine bloße Erkundigung zur Klärung, ob ein Anfangsverdacht vorliege, dar. In der Einholung der gerichtlichen Akten liege hinwieder (bloß) eine Nutzung behördeninterner Informationsquellen iSd § 91 Abs 2 letzter Satz StPO. Solcherart beziehe sich der Fortführungsantrag auf ein gar nicht in Gang gekommenes Ermittlungsverfahren und sei daher als unzulässig zurückzuweisen (BS 6 f).
[7] Gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck vom 27. Oktober 2020, AZ 21 Bl 172/20g, richtet sich die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes. Ihrer Ansicht nach steht der Beschluss in der (in seiner Begründung vertretenen und [ua] zur Antragszurückweisung führenden) Rechtsansicht, wonach die Staatsanwaltschaft „dadurch, dass sie gerichtliche Akten einholte, schlicht behördeninterne Informationsquellen iSd § 91 Abs 2 letzter Satz StPO benutzt“ hat (BS 6 f) – bezogen auf die Beischaffung des Aktes AZ 15 Cg 68/17b des Landesgerichts Innsbruck (BS 2) – mit § 91 Abs 2 StPO nicht im Einklang. Die Generalprokuratur führt aus:
[8] „Als behördenintern im Sinn des § 91 Abs 2 letzter Satz StPO sind – im Zusammenhang mit § 1 Abs 2 erster Satz StPO – (nur) solche Informationsquellen einer Behörde anzusehen, die diese ohne Inanspruchnahme Dritter nutzen kann und darf. Dies erschließt sich auch aus dem vom Gesetzgeber gewählten semantisch engeren Wortlaut 'behördeninterne Informationsquellen' anstelle der Formulierung 'Informationsquellen einer Behörde'. Demgemäß ist die Beischaffung eines Gerichtsakts durch die Staatsanwaltschaft zur Einsichtnahme nicht mehr als Nutzung einer behördeninternen Informationsquelle im Sinn dieser Bestimmung anzusehen (12 Os 23/20d, EvBl 2020/150, 1033 = RIS-Justiz RS0133399; jeweils zustimmend Divjak , Nutzung behördeninterner Informationsquellen und Amtshilfe, JBl 2021, 339; Sadoghi , Anfangsverdachtsermittlung, ÖJZ 2021/49, 363).
[9] Demgegenüber hat der Oberste Gerichtshof zu 14 Os 21/19y, EvBl 2019/116, 779, und 14 Os 29/20a, EvBl 2020/142, 991 (RIS-Justiz RS0132639), als behördeninterne Informationsquellen iSd § 91 Abs 2 letzter Satz StPO alle Aufzeichnungen oder Speicherungen von Informationen angesehen, die bereits Gegenstand der Datenverarbeitung irgendeiner Behörde waren (so auch Fuchs , Beginn des Strafverfahrens und Beschuldigtenstellung, in Lewisch/Nordmeyer [Hrsg], Liber Amicorum Eckart Ratz, 31 [38]; Koller in Schmölzer/Mühlbacher , StPO 1.02 § 91 Rz 5b; aM Erlass des Bundesministeriums für [Verfassung, Reformen, Deregulierung und] Justiz vom 26. August 2019 zu Auslegungs- und Anwendungsfragen in Zusammenhang mit § 35c StAG, BMVRDJ-S578.028/0005-IV 3/2019, S 8; Haslinger/McAllister in LiK-StPO § 91 Rz 13). Dies, weil sich eine Einschränkung des Behördenbegriffs auf die konkret mit der Anzeige befasste Behörde oder (andere) Strafverfolgungsbehörden weder aus dem Gesetzeswortlaut noch aus dem Regelungszweck ableiten lasse, soll doch das Substrat einer Anzeige unabhängig von der Art des Verfahrens, in dem dieses Verhalten gesetzt worden sei, möglichst rasch und schonend für den Angezeigten abgeklärt werden, um dadurch allenfalls einen Anfangsverdacht ausschließen zu können (vgl EBRV 181 BlgNR 25. GP, 2 f).“
Rechtliche Beurteilung
[10] Wie die Generalprokuratur zutreffend aufzeigt, ist die Frage, ob die Beischaffung eines Gerichtsaktes zwecks Einsichtnahme durch die Staatsanwaltschaft eine Ermittlung im Sinn des § 91 Abs 2 erster Satz StPO oder lediglich die Nutzung einer behördeninternen Informationsquelle im Sinn des § 91 Abs 2 letzter Satz StPO darstellt, in der Judikatur des Obersten Gerichtshofs nicht einheitlich beantwortet worden.
[11] Zur Beseitigung dieser Rechtsprechungsdivergenz ist die Befassung eines verstärkten Senats geboten (§ 8 Abs 1 Z 2 OGHG).