JudikaturOGH

2Ob138/20p – OGH Entscheidung

Entscheidung
29. April 2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden und den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé sowie die Hofräte Mag. Pertmayr und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei R***** S*****, vertreten durch Dr. Karin Prutsch und andere Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagten Parteien 1. R***** L*****, 2. E***** GmbH, *****, und 3. D***** Versicherung AG *****, sämtliche vertreten durch ScherbaumSeebacher Rechtsanwälte GmbH in Graz, wegen 22.647,45 EUR sA und Feststellung (Streitwert: 7.200 EUR), über die Revision der klagenden Partei (Revisionsinteresse: 6.860,47 EUR) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 3. April 2020, GZ 2 R 187/19s 38, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 29. April 2020, GZ 2 R 187/19s 41, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 30. September 2019, GZ 22 Cg 37/18t 33, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit 720,12 EUR (darin 120,02 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

[1] Der Kläger wurde am 19. 4. 2017 als Fußgänger von einem vom Erstbeklagen gelenkten, von der zweitbeklagten Partei gehaltenen und bei der drittbeklagten Partei haftpflichtversicherten Klein-LKW während dessen Rückwärtsfahrt auf einem Betriebsgelände umgefahren und verletzt. Der Erstbeklagte war eine Strecke von etwa 50 m mit einer Geschwindigkeit von 10 bis 15 km/h zurückgefahren, als er den in die selbe Richtung auf der rund 4 m breiten asphaltierten Fahrbahn gehenden Kläger, der einen Abstand von 1,2 bis 1,5 m zum linken Fahrbahnrand einhielt, von hinten niederstieß. Die Unfallbeteiligten hatten einander vor der Kollision nicht bemerkt. Der Erstbeklagte konnte die Fahrbahn aufgrund eines Heckaufbaus nur über die Außenspiegel des Beklagtenfahrzeugs mit einem toten Sichtwinkel von ca 30 m beobachten.

[2] Der Kläger begehrte zuletzt 22.647,45 EUR sA an Schadenersatz und erhob ein Feststellungsbegehren.

[3] Das Erstgericht entschied, dass den Erstbeklagten das Alleinverschulden an dem Unfall treffe und gab dem Zahlungsbegehren mit 20.241,89 EUR sA und dem Feststellungsbegehren zur Gänze statt. Das Mehrbegehren von 2.405,56 EUR sA wies es ab.

[4] Das nur von den beklagten Parteien angerufene Berufungsgericht änderte die Entscheidung dahin ab, dass es dem Zahlungsbegehren im Umfang von 15.181,42 EUR sA sowie dem Feststellungsbegehren zu drei Vierteln stattgab und das Mehrbegehren abwies. Es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteige und die ordentliche Revision nichtzulässig sei.

[5] Wie das Erstgericht legte es dem Erstbeklagten zur Last, dass er über eine längere Strecke mit einer Geschwindigkeit von 10 bis 15 km/h trotz des erheblichen toten Sichtwinkels rückwärts gefahren sei. Er hätte sich eines Einweisers bedienen oder vom Rückfahrmanöver Abstand nehmen müssen. Den Kläger treffe jedoch ein Mitverschulden, weil er entgegen § 76 Abs 1 StVO nicht am äußersten Fahrbahnrand gegangen sei. Eine Verschuldensteilung von 1 : 3 zu Lasten des Erstbeklagten sei angemessen.

[6] Über Antrag des Klägers erklärte das Berufungsgericht die ordentliche Revision nachträglich für zulässig, weil sie „der Weiterentwicklung der Rechtsprechung zu den Sorgfaltspflichten eines Fußgängers nach § 76 Abs 1 StVO auf einem Betriebsgelände“ dienen könne.

Rechtliche Beurteilung

[7] Die Revision des Klägers ist entgegen diesem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig:

[8] 1. Der Revisionswerber wendet sich nicht gegen die Ansicht des Berufungsgerichts, dass auch im Bereich des Betriebsgeländes die StVO galt (vgl § 1 Abs 2 StVO) und im vorliegenden Fall § 76 Abs 1 StVO anzuwenden ist. Auch sonstige, mit dem Betriebsgelände als Unfallort zusammenhängende Argumente enthält die Revision nicht.

[9] 2. Die Beurteilung, wie weit sich ein Fußgänger vom Fahrbahnrand entfernen darf, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl RS0075578). In der Rechtsprechung wurde ein Verstoß des Fußgängers gegen die Verpflichtung des § 76 Abs 1 StVO, den äußersten Fahrbahnrand zu benützen, bereits angenommen, wenn er 0,6 m davon entfernt ging (2 Ob 4/90; vgl auch 2 Ob 60/87 [1,2 m]).

[10] Im vorliegenden Fall wurden keine Umstände festgestellt, die den betriebsangehörigen Kläger auf seinem Weg in ein anderes Betriebsgebäude daran gehindert hätten, den äußersten Fahrbahnrand zu benützen. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Kläger, der im Abstand von zumindest 1,2 m vom linken Rand der Fahrbahn ging, habe gegen § 76 Abs 1 StVO verstoßen, findet somit Deckung in der erörterten Rechtsprechung.

[11] 3. Aus der Feststellung, dass es aufgrund der Fahrlinie des Beklagtenfahrzeugs auch bei einem Seitenabstand des Klägers von 1 m zum linken Fahrbahnrand zum Unfall gekommen wäre, ist für den Kläger schon deshalb nichts zu gewinnen, weil er auch mit der Einhaltung eines solchen Abstands der Verpflichtung des § 76 Abs 1 StVO nicht entsprochen hätte (oben Punkt 2.).

[12] 4. Das Ausmaß eines Mitverschuldens des Geschädigten kann wegen seiner Einzelfallbezogenheit nicht als erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO gewertet werden (RS0087606). Ob die Verschuldensteilung angemessen ist, ist eine bloße Ermessensentscheidung, bei der im Allgemeinen eine erhebliche Rechtsfrage nicht zu lösen ist (RS0087606 [T2]).

[13] In der Rechtsprechung wurde auch in Unfallkonstellationen, in denen dem Fahrzeuglenker erhebliche Verkehrswidrigkeiten vorzuwerfen waren, ein Mitverschulden des vorschriftswidrig nicht am äußersten Fahrbahnrand gehenden Fußgängers angenommen (vgl 2 Ob 27/90 [3 : 1]; 2 Ob 63/86 [2 : 1]).

[14] Die vom Berufungsgericht vorgenommene Verschuldensteilung im Verhältnis von 3 : 1 zu Lasten des Erstbeklagten hält sich auch angesichts der diesem zur Last gelegten Schuldvorwürfe (vgl RS0073162; RS0073846) im Rahmen des dem Berufungsgericht zur Verfügung stehenden Ermessensspielraums.

[15] Die vom Revisionswerber ins Treffen geführten Entscheidungen, in denen das Verschulden des Fußgängers als vernachlässigbar erachtet wurde, sind mit dem vorliegenden Sachverhalt nicht hinreichend vergleichbar. In der Entscheidung 8 Ob 181/77 (= RS0027724) befanden sich an den Rändern der Baustellenzufahrt Baumaterialien, Schotterhaufen sowie ein ungesicherter Graben und der gehbehinderte Fußgänger musste – im Gegensatz zum vorliegenden Fall – nicht mit von hinten kommendem Fahrzeugverkehr rechnen. In der Entscheidung 2 Ob 114/75 (= RS0075543) erschwerte die mangelhafte Beschaffenheit der unbefestigten Gehsteige deren Benützung durch die einen Kinderwagen schiebende Fußgängerin, die so weit am rechten Fahrbahnrand ging, als es das dortige Rinnsal und die Ausschwemmungen ermöglichten.

[16] 5. Da somit Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zu beurteilen sind, ist die Revision zurückzuweisen.

[17] 6. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO. Die beklagten Parteien haben in ihrer Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen. Der von den Vorinstanzen ausgesprochene Kostenvorbehalt steht einer Kostenentscheidung im – hier insoweit vorliegenden –

Zwischenstreit über die Zulässigkeit der Revision nicht entgegen (2 Ob 120/20s; vgl RS0129365 [T3]). Die Bemessungsgrundlage beträgt entsprechend dem Revisionsinteresse des Klägers allerdings lediglich 6.860,47 EUR.

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