JudikaturOGH

4Nc16/20w – OGH Entscheidung

Entscheidung
28. Dezember 2020

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher und Hon. Prof. Dr. Brenn als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen K***** S*****, geboren am ***** 2009, wegen Übertragung der Zuständigkeit gemäß § 111 JN, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die mit Beschluss des Bezirksgerichts Kufstein vom 2. Juli 2020, GZ 1 Ps 9/17d 405, gemäß § 111 Abs 1 JN verfügte Übertragung der Zuständigkeit zur Führung dieser Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Favoriten wird gemäß § 111 Abs 2 JN genehmigt.

Text

Begründung:

[1] Die Eltern der Minderjährigen sind seit 2013 geschieden. Die Mutter lebt im Sprengel des Bezirksgerichts Kufstein, der Vater in jenem des Bezirksgerichts Favoriten. Den Eltern kommt die gemeinsame Obsorge über das Kind zu. Der hauptsächliche Aufenthaltsort und die hauptsächliche Betreuung des Kindes ist derzeit im Haushalt des Vaters. Die Minderjährige lebt mit dem Vater zumindest seit März 2019 in einem auf Dauer ausgerichteten Haushalt in Wien.

[2] Die Mutter beantragte die Abtretung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Favoriten.

[3] Das Bezirksgericht Kufstein – bei dem es inzwischen nach einmonatigem Leerstand der Gerichtsabteilung zum einem Richterwechsel gekommen war – übertrug mit Beschluss vom 2. 7. 2020 die Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftssache gemäß § 111 Abs 1 JN an das Bezirksgericht Favoriten. Die Minderjährige halte sich nicht mehr im Gerichtssprengel auf. Es sei zwar eine Reihe von Anträgen offen (vor allem betreffend Obsorge und Aufenthalt), wegen des ausschlaggebenden Kriteriums des Kindeswohls, das am besten durch das Wohnsitzgericht wahrgenommen werden könne, sei aber eine Zuständigkeitsübertragung zweckmäßig. Das bisher zuständige Gericht verfüge infolge Richterwechsels nicht über eine vorteilhafte Sachkenntnis und Einblick in die persönlichen Verhältnisse, sondern es sei ganz im Gegenteil bereits eine Befassung des Wiener Jugendamts erfolgt und auch die bestellte Kinderbeiständin sei in Wien ansässig.

[4] Das Bezirksgericht Favoriten lehnte die Übernahme wegen der offenen Anträge ab.

[5] Das Bezirksgericht Kufstein stellte seinen Übertragungsbeschluss – aufgrund des Auftrags des Obersten Gerichtshofs nach dessen verfrühter Befassung – an die Parteien zu. Dem Rekurs des (in Wien lebenden) Vaters gab das Landesgericht Innsbruck mit Beschluss vom 6. 11. 2020 nicht Folge und es bestätigte die Übertragung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Favoriten. Dieser Beschluss erwuchs in Rechtskraft.

[6] Das Bezirksgericht Kufstein legt nunmehr neuerlich den Akt dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung nach § 111 Abs 2 JN vor.

Rechtliche Beurteilung

[7] Die vom Bezirksgericht Kufstein verfügte und vom Landesgericht Innsbruck bestätigte Übertragung der Zuständigkeit ist gerechtfertigt.

[8] Gemäß § 111 Abs 1 JN kann das Pflegschaftsgericht seine Zuständigkeit einem anderen Gericht übertragen, wenn dies im Interesse des Minderjährigen oder sonstigen Pflegebefohlenen gelegen erscheint, insbesondere wenn dadurch die wirksame Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes voraussichtlich gefördert wird.

[9] Ausschlaggebendes Kriterium einer Zuständigkeitsübertragung nach § 111 Abs 1 JN ist stets das Kindeswohl (RIS Justiz RS0047074). Dabei ist in der Regel das Naheverhältnis zwischen Pflegebefohlenem und Gericht von wesentlicher Bedeutung; im Allgemeinen ist daher das Gericht am besten geeignet, in dessen Sprengel der Minderjährige seinen Wohnsitz oder (gewöhnlichen) Aufenthalt hat (8 Ob 115/12p mwN).

[10] Offene Anträge sind kein grundsätzliches Übertragungshindernis (RS0046895; RS0047027 [T8]; RS0047074; RS0046929; RS0049144), sondern es hängt von den Umständen des einzelnen Falls ab, ob eine Entscheidung darüber durch das bisherige Gericht zweckmäßiger ist, etwa weil dieses zur Erledigung effizienter geeignet wäre ( Fucik in Fasching/Konecny ³ § 111 JN Rz 5; Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth , AußStrG § 111 JN Rz 16; Mayr in Rechberger , ZPO 4 § 111 JN Rz 4).

[11] Es kommt nicht entscheidend darauf an, ob und wie lange sich das bisher zuständige Gericht um die Ermittlung von Sachverhaltsgrundlagen bemüht hat, sondern ausschließlich darauf, welches Gericht eher in der Lage ist, die aktuelle Lebenssituation aller Beteiligten zu erforschen (5 Nc 103/02w). Eine Entscheidung über einen Obsorgeantrag durch das bisher zuständige Gericht ist nur dann sinnvoll, wenn dieses bereits über entsprechende Sachkenntnisse verfügt oder jedenfalls in der Lage ist, sich diese Kenntnisse leichter zu verschaffen als das andere Gericht; nur dann ist es für den Pflegebefohlenen von Vorteil, dass das bisher zuständige Gericht über den Obsorgeantrag entscheidet (RS0047027 [T3]).

[12] Im vorliegenden Fall liegt keine größere Sachkenntnis des Bezirksgerichts Kufstein vor. Die noch ausstehenden Erhebungen können einfacher und zweckmäßiger vom Wohnsitzgericht der Minderjährigen, somit vom Bezirksgericht Favoriten, gepflogen werden. Im Übrigen kann auf die zutreffenden Ausführungen des Landesgerichts Innsbruck im oben genannten Beschluss verwiesen werden.

[13] Die Übertragung der Zuständigkeit an das Bezirksgericht Favoriten entspricht daher dem Kindeswohl. Der Übertragungsbeschluss des Bezirksgerichts Kufstein ist somit zu genehmigen.

Rückverweise