8Ob107/19x – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann Prentner, Mag. Korn, den Hofrat Dr. Stefula und die Hofrätin Mag. Wessely Kristöfel als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Verein *****, vertreten durch Kosesnik-Wehrle Langer Rechtsanwälte KG in Wien, gegen die beklagte Partei L***** GmbH, *****, vertreten durch Schuppich Sporn Winischhofer Rechtsanwälte in Wien, wegen Unterlassung und Urteilsveröffentlichung, aus Anlass der Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 28. Mai 2019, GZ 129 R 37/19p 20, mit dem das Urteil des Landesgerichts Korneuburg vom 5. Februar 2019, GZ 2 Cg 70/18x 14, teilweise bestätigt und teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind die Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr 1215/2012, insbesondere Art 25, Art 17 Abs 3, Art 19, allenfalls auch im Hinblick auf Art 67, dahin auszulegen, dass sie einer Missbrauchskontrolle internationaler Gerichtsstandsvereinbarungen nach der Richtlinie 93/13/EWG bzw nach den entsprechenden nationalen Umsetzungsvorschriften entgegenstehen?
2. Ist Art 25 Abs 1 erster Satz, letzter Halbsatz der Verordnung (EU) Nr 1215/2012 („ es sei denn, die Vereinbarung ist nach dem Recht dieses Mitgliedstaats materiell nichtig “) dahin auszulegen, dass dadurch eine – auch über den harmonisierten Rechtsbereich hinausgehende – Inhaltskontrolle nach dem nationalen Recht des prorogierten Mitgliedstaats eröffnet wird?
3. Falls die Fragen 1 und 2 verneint werden:
Bestimmen sich die für eine Missbrauchskontrolle nach Maßgabe der Richtlinie 93/13/EWG anzuwendenden nationalen Umsetzungsvorschriften nach dem Recht des prorogierten Mitgliedstaats oder nach der lex causae des angerufenen Mitgliedstaats?
Text
Begründung:
I. Sachverhalt:
Beim Anlassverfahren handelt es sich um einen Klauselprozess. Der Kläger ist ein nach österreichischem Konsumentenschutzgesetz klageberechtigter Verband zur Durchsetzung von Verbraucherinteressen. Das beklagte Luftfahrtunternehmen (eine sogenannte „Billigfluggesellschaft“) betreibt unter www.*****.com ein Flugbuchungsportal. Dabei verwendet sie im geschäftlichen Verkehr mit Verbrauchern Allgemeine Beförderungsbedingungen und Allgemeine Geschäftsbedingungen. Flüge kann man bei der Beklagten ausschließlich online buchen. Die Beklagte bietet keine reine Inlandsbeförderung innerhalb Österreichs an.
Für das Vorabentscheidungsverfahren ist folgende Klausel in den genannten Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Beklagten von Bedeutung:
„ 2.4 Sofern das Übereinkommen oder einschlägige Gesetze nichts anderes vorsehen, unterliegen Ihr Beförderungsvertrag mit uns [...] sowie sämtliche Streitigkeiten aus oder im Zusammenhang mit diesem Vertrag der Zuständigkeit irischer Gerichte. “
II. Anträge und Vorträge der Parteien:
Der Kläger brachte vor, die Gerichtsstandsklausel sei unwirksam. Die Formulierung „ sofern das Übereinkommen oder einschlägige Gesetze nichts anderes vorsehen “ sei intransparent im Sinn des § 6 Abs 3 KSchG, weil die Verbraucher selber eruieren müssten, ob die vorgesehene Gerichtszuständigkeit zulässig sei. Eine solche Vereinbarung sei zudem gröblich benachteiligend nach § 879 Abs 3 ABGB, nicht zuletzt weil dadurch dem Verbraucher die übrigen nach der EuGVVO zustehenden Gerichtsstände, insbesondere Art 7 EuGVVO, nicht zur Verfügung stünden, und des Weiteren im Sinn des § 864a ABGB überraschend, weil ein Verbraucher im Hinblick auf den Sitz der Beklagten in Österreich mit einer ausschließlichen Zuständigkeit irischer Gerichte nicht zu rechnen brauche.
Die Beklagte berief sich darauf, dass die in der Klausel enthaltene Gerichtsstandsvereinbarung ausschließlich nach der EuGVVO zu beurteilen sei. Art 17 Abs 3 EuGVVO nehme Beförderungsverträge von den nach Art 19 EuGVVO geltenden Beschränkungen für Verbraucherverträge aus. Gerichtsstandsvereinbarungen seien daher nach Maßgabe des Art 25 EuGVVO ohne die Einschränkungen entsprechend Kapitel I Abschnitt 4 der EuGVVO zulässig. Eine Missbrauchskontrolle nach den Bestimmungen des nationalen Rechts dürfe aufgrund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts nicht stattfinden. Im Übrigen sei die Regelung aufgrund des vorhersehbaren Auslandsbezugs nicht überraschend und auch nicht intransparent, weil durch den ersten Satz klargestellt werde, dass der darin vorgesehene Gerichtsstand zu jenen Gerichtsständen, die das Montrealer Übereinkommen („das Übereinkommen“) oder andere einschlägige Gesetze vorsehen würden, hinzutrete.
III. Bisheriges Verfahren:
Das Erstgericht wies das Klagebegehren hinsichtlich dieser Klausel ab. Art 25 EuGVVO gehe in seinem Anwendungsbereich dem nationalen Recht vor. Die Vorschrift sei hinsichtlich Zulässigkeit, Form und Wirkungen von Gerichtsstandsvereinbarungen abschließend.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers im klagestattgebenden Sinn Folge. Dabei ging es davon aus, dass Gerichtsstandsvereinbarungen in Verbraucherverträgen, die von der Klauselrichtlinie bzw den entsprechenden nationalen Umsetzungsvorschriften erfasst seien, auch im Anwendungsbereich von Art 25 EuGVVO der Missbrauchskontrolle nach dem Maßstab der Klauselrichtlinie unterliegen würden und daher im Einzelfall unwirksam sein könnten. Die nationalen Umsetzungsvorschriften der Klauselrichtlinie stellten eine Regelung der gerichtlichen Zuständigkeit im Sinne von Art 67 EuGVVO dar, weil gemäß Anhang Nr 1 lit q der Richtlinie Klauseln, die einem Verbraucher die Möglichkeit zur Anrufung staatlicher Gerichte nehmen oder erschweren würden, als missbräuchlich angesehen werden könnten. Eine Missbrauchskontrolle anhand der Klauselrichtlinie sei gerade in der vorliegenden Konstellation von besonderer Bedeutung, weil gemäß Art 17 Abs 3 EuGVVO die sonst im Sinne des Verbraucherschutzes erlassenen Beschränkungen bei einem Beförderungsvertrag nicht anwendbar seien. Die Klausel sei jedenfalls intransparent nach § 6 Abs 3 KSchG.
Der Oberste Gerichtshof hat nunmehr über die gegen die Berufungsentscheidung erhobene Revision der Beklagten zu entscheiden, die eine Klageabweisung anstrebt.
Rechtliche Beurteilung
IV. Rechtsgrundlagen:
Unionsrechtliche Grundlagen:
Die unionsrechtlichen Grundlagen dieses Vorabentscheidungsersuchens liegen insbesondere in Art 25, 17 Abs 3, 19 und 67 der Verordnung (EU) Nr 1215/2012 des Europäischen Parlaments und Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen („EuGVVO“) sowie in der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen („Klauselrichtlinie“).
Nationales Recht:
§ 6 Abs 3 Konsumentenschutzgesetz (KSchG) lautet:
„Eine in Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder Vertragsformblättern enthaltene Vertragsbestimmung ist unwirksam, wenn sie unklar oder unverständlich abgefasst ist.“
§ 864a Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (ABGB) lautet:
„Bestimmungen ungewöhnlichen Inhaltes in Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder Vertrags -formblättern, die ein Vertragsteil verwendet hat, werden nicht Vertragsbestandteil, wenn sie dem anderen Teil nachteilig sind und er mit ihnen auch nach den Umständen, vor allem nach dem äußeren Erscheinungsbild der Urkunde, nicht zu rechnen brauchte; es sei denn, der eine Vertragsteil hat den anderen besonders darauf hingewiesen.“
§ 879 Abs 3 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (ABGB) bestimmt:
„Eine in Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder Vertragsformblättern enthaltene Vertragsbestimmung, die nicht eine der beiderseitigen Hauptleistungen festlegt, ist jedenfalls nichtig, wenn sie unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles einen Teil gröblich benachteiligt.“
V. Vorlagefragen:
Berechtigung zur Vorlage:
Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs kann mit den Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts nicht mehr angefochten werden (Art 267 AEUV). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat nach Art 267 AEUV das befasste nationale Gericht grundsätzlich sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden, das Unionsrecht betreffenden Fragen zu beurteilen (vgl EuGH ECLI:EU:C:2010:329 C 395/08 Rn 18 uva).
Begründung der Vorlagefragen:
1. In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird die Frage kontrovers diskutiert, ob und inwieweit internationale Gerichtsstandsvereinbarungen, die in den Regelungsbereich der EuGVVO fallen, einer allgemeinen Missbrauchskontrolle unterliegen:
1.1. Nach einer Ansicht stellt Art 25 EuGVVO eine abschließende Regelung der Zulässigkeit, Form und Wirkungen einer Gerichtsstandsvereinbarung dar; jegliche Form der Inhaltskontrolle nach nationalem Recht, auch bei Gerichtsstandsklauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, sei ausgeschlossen. Der Schutz der typischerweise schwächeren Partei werde bereits durch die Einschränkung der Zulässigkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen mit Verbrauchern, Versicherungsnehmern und Arbeitnehmern verwirklicht.
Die Vertreter dieser Ansicht ( Kropholler/von Hein , Europäisches Zivilprozessrecht 11 Art 23 EuGVVO Rz 17 ff) gehen davon aus, dass es sich bei der EuGVVO um ein geschlossenes Zuständigkeitssystem handelt. Eine die Inhaltskontrolle nach einzelstaatlichem Recht zulassende Auslegung des Art 25 EuGVVO stünde in einem Spannungsverhältnis zum Vereinheitlichungszweck der EuGVVO. D abei stützen sie sich insbesondere auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art 17 des Übereinkommens von Brüssel von 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (vgl E. Pfeiffer/M. Pfeiffer in Gmeiner/Schütze , Internationaler Rechtsverkehr Bd I [Stand Oktober 2019] Art 25 VO [EU] Nr 1215/2012 Rn 102 ff), wonach im Interesse der Rechtssicherheit die Wahl des vereinbarten Gerichts nur anhand von Erwägungen geprüft werden kann, die im Zusammenhang mit den Erfordernissen dieser Bestimmung stehen (vgl ECLI:EU:C:1999:142 C 159/97 Rn 46 ff).
1.2. Es stellt sich allerdings die Frage, ob Gerichtsstandsvereinbarungen nicht Missbrauchs-beschränkungen unterliegen, die sich aus europäischem Sekundärrecht, insbesondere aus der Klauselrichtlinie, ergeben (vgl etwa Wittwer in P. Mayr , Handbuch des Europäischen Zivilverfahrensrechts Rn 3.644; Gottschalk/Breßler , Missbrauchskontrolle von Gerichtsstandsvereinbarungen im Europäischen Zivilprozess, ZEuP 2007, 56 [75 ff]). Art 19 EuGVVO beschränkt zwar Gerichtsstandsvereinbarungen mit Verbrauchern. Beförderungsverträge sind jedoch gemäß Art 17 Abs 3 EuGVVO von der Anwendung des Kapitel I Abschnitt 4 ausgenommen. Konkret verbliebe daher aus Verbrauchersicht ein Schutzbedürfnis, dem durch Rückgriff auf die Vorgaben der Klauselrichtlinie Rechnung getragen werden könnte (vgl etwa Leible/Röder , Missbrauchskontrolle von Gerichtsstandsvereinbarungen im Europäischen Zivilprozessrecht, RIW 2007, 481 [484]).
Befürwortet wird eine Missbrauchskontrolle nach dem Maßstab der Klauselrichtlinie insbesondere im Hinblick auf die Bestimmung des Art 67 EuGVVO: Die nationalen Umsetzungsvorschriften der Richtlinie stellten eine Regelung der gerichtlichen Zuständigkeit dar, weil die Unwirksamkeit einer Gerichtsstandsklausel zur Folge habe, dass die gesetzliche Zuständigkeitsordnung eingreife und zumeist ein anderes Gericht als das vereinbarte zuständig sei (siehe unter anderem Heinig , Die Konkurrenz der EuGVVO mit dem übrigen Gemeinschaftsrecht, GPR 2010, 36 [41]; Mankowski in Rauscher , EuZPR/EuIPR 4 Art 25 Brüssel Ia VO Rn 68). Eine andere Argumentationslinie beruft sich darauf, dass nach Art 25 Abs 1 erster Satz, zweiter Halbsatz EuGVVO eine Gerichtsstandsvereinbarung anhand des Mindeststandards der Klauselrichtlinie auf ihre materielle Nichtigkeit zu kontrollieren sei ( Staudinger , RRa 5/2019, 236 [245]).
1.3. Es gibt auch Stimmen, die meinen, dass durch die Bezugnahme des europäischen Gesetzgebers in Art 25 Abs 1 erster Satz, letzter Halbsatz EuGVVO auf die „materielle Ungültigkeit“ auch die Inhaltskontrolle von Gerichtsstandsklauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen ermöglicht sei ( Wittwer in P. Mayr , Handbuch des Europäischen Zivilverfahrensrechts Rn 3.644; in diesem Sinn auch Tiefenthaler/Czernich in Czernich/Kodek/Mayr , Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsrecht 4 Art 25 EuGVVO Rn 47 f).
2. Es stellt sich für den Obersten Gerichtshof daher die Frage, in welchem Verhältnis die Bestimmungen der EuGVVO zu der Klauselrichtlinie bzw den entsprechenden innerstaatlichen Umsetzungsvorschriften stehen und ob unter den in Art 25 EuGVVO verwendeten Begriff der materiellen Nichtigkeit der Verstoß gegen Verbraucherschutz-bestimmungen – auch wenn sie nicht auf europäisches Sekundärrecht zurückgehen – zu subsumieren ist. Letztlich erscheint unklar, ob die konkret anwendbaren nationalen Umsetzungsvorschriften der Klauselrichtlinie nach der Kollisionsnorm in Art 25 Abs 1 erster Satz, letzter Halbsatz EuGVVO – also nach dem Recht des forum prorogatum – zu bestimmen wären.