JudikaturOGH

14Os58/19i – OGH Entscheidung

Entscheidung
03. September 2019

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 3. September 2019 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Danek als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel Kwapinski und Dr. Setz Hummel in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Leitner, in der Auslieferungssache des Kirill O*****, AZ 31 HR 14/17z des Landesgerichts Wels, über den Antrag der betroffenen Person auf Erneuerung des Verfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Mit Beschluss vom 16. Jänner 2019 erklärte die Einzelrichterin des Landesgerichts Wels die von der Russischen Föderation mit Note deren Generalstaatsanwaltschaft vom 10. Jänner 2018 begehrte Auslieferung des Kirill O***** zur Strafverfolgung wegen im Auslieferungsersuchen beschriebener Tatvorwürfe (ON 9, 15, 16) für zulässig (ON 39).

Der dagegen erhobenen Beschwerde des Betroffenen (ON 40) gab das Oberlandesgericht Linz mit Beschluss vom 20. März 2019, AZ 10 Bs 29/19i, nicht Folge (ON 44).

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich der Antrag des Kirill O***** auf Erneuerung des Verfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO, mit dem er in der Durchführung der Auslieferungsverhandlung vor dem Oberlandesgericht Linz in seiner Abwesenheit eine Verletzung „des Rechts auf persönliche Teilnahme des Betroffenen“ erblickt und Verstöße gegen Art 3 und Art 6 MRK geltend macht.

Erneuerungsanträge (auch) ohne Befassung des EGMR haben eine Verletzung der MRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle zum Gegenstand, sodass sich die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs allein damit auseinandersetzt. Andere Rechtsverletzungen bleiben bei Behandlung dieses Rechtsbehelfs außer Betracht (RIS Justiz RS0132365).

Der Antrag hat nicht nur deutlich und bestimmt darzulegen, worin eine (vom Obersten Gerichtshof sodann selbst zu beurteilende) Grundrechtsverletzung im Sinn des § 363a Abs 1 StPO zu erblicken sei, sondern hat sich dabei auch mit der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung in allen relevanten Punkten auseinanderzusetzen (RIS Justiz RS0124359) und seine Argumentation grundsätzlich (soweit nicht Begründungsmängel aufgezeigt oder erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit getroffener Feststellungen geweckt werden) auf Basis der Tatsachenannahmen der bekämpften Entscheidung (methodengerecht) zu entwickeln (RIS Justiz RS0125393 [T1]).

Diesen Kriterien wird der Erneuerungswerber nicht gerecht.

Indem er zunächst behauptet, das Beschwerdegericht habe seinen Antrag auf Vertagung der Auslieferungsverhandlung vor dem Oberlandesgericht wegen „krankheitsbedingter Verhinderung“ des Betroffenen (vgl aber die nur eine Erkrankung der Mutter des Betroffenen behauptende „Vertagungsbitte“ vom 19. März 2019 im Bs Akt) „offenbar“ nicht behandelt, den „Beschluss“ auf Durchführung derselben in seiner Abwesenheit „gesetzwidrig“ nicht begründet (vgl dazu im Übrigen § 35 Abs 2 StPO sowie RIS Justiz RS0125707 [T1, T3]) und gegen „§ 9 ARHG iVm § 294 Abs 5 StPO“ verstoßen, weil der Verteidiger nicht auf die Teilnahme der betroffenen Person an dieser Verhandlung verzichtet habe, spricht er eine – hier relevante – Grundrechtsverletzung nicht an.

Unter dem Aspekt von Art 6 MRK räumt der Antrag ein, dass diese Bestimmung nach ständiger – mit jener des EGMR im Einklang stehenden (vgl Grabenwarter/Pabel EMRK 6 § 24 Rz 28) – Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs bezogen auf das (Auslieferungs-)Verfahren des ersuchten Staats, das nicht die Entscheidung über die Stichhaltigkeit einer „strafrechtlichen

Anklage“ im Sinn der Konvention zum Gegenstand hat, nicht anwendbar ist (RIS Justiz [T3]). Daran ändern die im Anschluss angestellten rechtstheoretischen Überlegungen des Erneuerungswerbers nichts. Eine mittelbare Verletzung von Art 3 und 6 MRK wird mit der Behauptung, O***** sei durch die Vorgangsweise des Oberlandesgerichts daran gehindert worden, „seine Rechte“ in der Verhandlung mündlich wahrzunehmen und – nicht näher bezeichnete – „neue Tatsachen vorzubringen“, nicht substantiiert dargelegt.

An sich zutreffend weist der Erneuerungswerber darauf hin, dass die Verfahrensgarantien des Art 6 MRK – unbeschadet seiner grundsätzlichen Unanwendbarkeit im Auslieferungsverfahren selbst – für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung dann (ausnahmsweise) Relevanz erlangen können, wenn die betroffene Person nachweist, dass ihr im ersuchenden Staat eine offenkundige Verweigerung eines fairen Verfahrens („a flagrant denial of justice“) droht (vgl EGMR 7. 7. 1989, 14038/88, Soering / Vereinigtes Königreich , EuGRZ 1989, 314; RIS Justiz RS0123200; Göth-Flemmich in WK 2 ARHG § 19 Rz 14).

Indem er aber zunächst bloß die Ansicht vertritt, er habe – entgegen der Überzeugung des Oberlandesgerichts – „konkret und substantiiert dargelegt“ sowie „glaubhaft gemacht“, dass ihm im ersuchten Staat eine offenkundige Verweigerung eines fairen Prozesses nicht nur drohe, sondern eine solche bereits gegenwärtig erfolge, was das Beschwerdegericht ebenso „verkannt“ habe wie „den Wesensgehalt des Art 6 Abs 3 lit c MRK“, setzt er sich nicht mit der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien in den relevanten Punkten (BS 6 f) auseinander und zeigt somit auch unter diesem Aspekt keine Fehlbeurteilung im bekämpften Beschluss auf.

Eine Auslieferung kann für den Aufenthaltsstaat eine Konventionsverletzung bedeuten, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die betroffene Person im Empfangsstaat der tatsächlichen Gefahr einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein könnte (vgl EGMR 7. 7. 1989, 14038/88, Soering / Vereinigtes Königreich , EuGRZ 1989, 314;

RIS Justiz

RS0123201; Grabenwarter/Pabel , EMRK 6 § 20 Rz 40 ff mwN). Die betroffene Person hat die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen, ernsthaften (gewichtigen) Gefahr schlüssig, anhand stichhaltiger Gründe belegbar und hinreichend konkret nachzuweisen, wobei auch die Schwere der drohenden Verletzung, das sonstige Verhalten des Mitgliedstaats der MRK und der Umstand eine Rolle spielen, ob im Zielland fundamentale Menschenrechte verletzt werden. Auf diesen Nachweis ist nur dann zu verzichten, wenn der ersuchende Staat eine ständige Praxis umfassender und systematischer Menschenrechtsverletzungen aufweist (RIS Justiz RS0123229 [insb T12]). Die bloße Möglichkeit von Übergriffen, die in jedem Rechtsstaat vorkommen können, macht die Auslieferung hingegen nicht unzulässig (RIS Justiz

RS0118200).

Unter Verweis auf diese Grundsätze, auf sein bisheriges Vorbringen im Auslieferungsverfahren sowie weiters auf eine „allgemein zugängliche (öffentlich abrufbare) Information“ über die Anzahl der vom EGMR im Jahr 2017 festgestellten Verletzungen gegen „eine Bestimmung der EMRK“ durch die russische Föderation, auf zwei Entscheidungen des EGMR (EGMR 10. 1. 2012, 42525/07 [und 60800/08], Ananyev ua/Russland sowie EGMR 22. 5. 2012, 5826/03, Idalov/Russland ) und auf „ebenfalls als notorisch anzusehende“ Berichte von Amnesty International über Verletzungen von Art 3 und 6 MRK im Zielstaat, behauptet der Erneuerungswerber mit Bezugnahme auf die im gegenständlichen Verfahren über ihn verhängte „Sicherheitsmaßregel“ in Form einer Inhaftierung von zwei Monaten das Vorliegen einer ihm drohenden konkreten Gefahr unmenschlicher und erniedrigender Behandlung.

Demgegenüber hat das Beschwerdegericht eine solche erhebliche Wahrscheinlichkeit – im Übrigen unter Berücksichtigung von im Beschwerdeverfahren hervorgehobenen Zeitungs- und Medienberichten – mit Blick auf die eingeschränkte Verantwortlichkeit des ersuchten Staats bei Auslieferungen in einen Konventionsstaat wie die Russische Föderation (vgl 14 Os 67/08x) mit der Begründung verneint, dass O***** die Zugehörigkeit zu einer besonders vulnerablen Gruppe nicht belegt habe, die dem Auslieferungsbegehren zugrunde liegenden Tatvorwürfe herkömmlicher Wirtschaftskriminalität ohne Hinweis auf politische, religiöse oder ähnliche Verbindungen zuzuordnen seien (vgl zum Ganzen Göth Flemmich in WK² ARHG § 19 Rz 8) und die Russische Föderation – hinreichend deutlich als verlässlich eingestufte – Zusicherungen in Bezug auf die Einhaltung der Konventionsgarantien und diplomatischer Interventionsmöglichkeiten Österreichs abgegeben habe, wobei nicht von einer Situation umfassender und systematischer Menschenrechtsverletzungen auszugehen sei, die derartige diplomatische Zusicherungen generell wertlos erscheinen ließen (BS 5 ff).

Indem der Erneuerungswerber diese Beurteilung pauschal als „grundrechtsverletzend gesetzwidrig, mangelhaft, willkürlich und erheblich bedenklich“ bezeichnet, ohne sich argumentativ mit den diesbezüglichen Erwägungen des Beschwerdegerichts auseinanderzusetzen, verfehlt er ein weiteres Mal die oben dargestellten Anfechtungsvorgaben für einen auf § 363a StPO gestützten Antrag ohne Befassung des EGMR.

Entgegen dem weiteren (nominell nur unter dem Aspekt von Art 3, inhaltlich auch von Art 6 MRK erhobenen) Vorwurf, das Oberlandesgericht habe sich „nicht in der gebotenen Form“ mit der „wiederholt dargelegten … Rechtstatsache“ auseinandergesetzt, dass die Justiz in der Russischen Föderation nicht unabhängig sei, wurde dieser Einwand bezogen auf den konkreten Einzelfall – auch gestützt auf die diesbezüglichen ergänzenden Auskünfte des ersuchenden Staats vom 4. Juni und 19. Oktober 2018 – in der angefochtenen Entscheidung begründet für nicht stichhältig erachtet (BS 6 f).

Mit dem Hinweis auf zwei – im Erneuerungsantrag erstmals ins Treffen geführte – Berichte über die allgemeine Situation der Justiz im ersuchenden Staat (den Rule-of-Law-Index des World Justice Project [WJP] und den Country Report on Human Rights des US Department of State) und eine (Polen betreffende) Entscheidung des EuGH vom 25. Juli 2018, C 216/18, aus denen der Antragsteller den Schluss zieht, dass die – nach seiner Ansicht über bloße Beteuerungen nicht hinausgehenden – diplomatischen Zusicherungen der Russischen Föderation zur Gewährleistung eines konventionskonformen Verfahrens nicht ausreichen, und der damit verbundenen Kritik am Unterbleiben einer Auseinandersetzung mit „den vorgebrachten Nachweisen“ und „den rechtlichen Argumenten dieser Entscheidung“, wird ein Begründungsdefizit (vgl RIS Justiz RS0125393 [T1]) des kritisierten Beschlusses, der in tatsächlicher Hinsicht die Gefahr drohender Verletzungen von Art 3 und 6 MRK im ersuchenden Staat verneinte, nicht deutlich und bestimmt geltend gemacht.

Der Antrag war daher als offenbar unbegründet zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 2 StPO). Damit fällt auch die vom Obersten Gerichtshof angeordnete Hemmung der Auslieferung weg.

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