9ObA62/19m – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner und Dr. Stefula und die fachkundigen Laienrichter Johannes Püller und Helmut Frick als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei C***** M*****, gegen die beklagte Partei S***** K*****, vertreten durch Mag. Sascha Lumper, Rechtsanwalt in Bregenz, wegen 5.411,41 EUR brutto sA, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei (Revisionsinteresse 4.850,31 EUR) gegen das Teilurteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 19. März 2019, GZ 15 Ra 9/19i 33, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
1. Wird die Entscheidung der zweiten Instanz auch auf eine selbständig tragfähige Hilfsbegründung gestützt, muss auch diese im außerordentlichen Rechtsmittel bekämpft werden, ansonsten sich aus der allein bekämpften alternativen Begründung keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO ergibt (RS0118709). Das Berufungsgericht begründete die Unbeachtlichkeit des vom Beklagten in der Berufung erstatteten Tatsachenvorbringens zum einen mit dem Vorliegen von Rechtsmissbrauch, weil der Beklagte bereits in erster Instanz qualifiziert iSd § 63 Abs 1 ASGG vertreten gewesen sei, was allein zwecks Ermöglichung eines neuen Vorbringens im Berufungsverfahren nicht offengelegt worden sei. Zum anderen habe es sich nach der Beurteilung des Berufungsgerichts bei dem in der Berufung erstatteten Vorbringen um gar keine Neuerungen gehandelt. In der außerordentlichen Revision wird zwar die erste, nicht aber die zweite – für sich selbständige tragfähige – Begründung des Berufungsgerichts angegriffen. Ob die erste Begründung eine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung ist, stellt damit keine erhebliche Rechtsfrage dar.
2. § 480 Abs 1 ZPO macht die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung davon abhängig, dass der Berufungssenat dies im einzelnen Fall, so etwa wegen der Komplexität der zu entscheidenden Rechtssache, für erforderlich hält. Das Berufungsgericht erachtete die Voraussetzungen für die Anberaumung einer mündlichen Berufungsverhandlung als nicht gegeben und entschied über die Berufung des Beklagten in nichtöffentlicher Sitzung. Der Beklagte gesteht in der außerordentlichen Revision zwar – zutreffend – zu, dass die Entscheidung, ob eine Berufungsverhandlung im Einzelfall erforderlich ist, generell im
Ermessen des Berufungsgerichts steht (
RS0127242 [T1]). Der Beklagte vertritt aber die Ansicht, das Berufungsgericht habe hier sein Ermessen überschritten, zumal sich sowohl der maßgebliche Sachverhalt als auch die Rechtsfragelösung als überdurchschnittlich kompliziert erwiesen. Eine Komplexität des Falles in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht wird in der außerordentlichen Revision jedoch nicht dargelegt und ist auch nicht ersichtlich.
Die Regelung des § 480 Abs 1 ZPO, wonach eine mündliche Berufungsverhandlung nur erforderlichenfalls – etwa aufgrund der Komplexität der zu entscheidenden Rechtssache – vom Berufungssenat von Amts wegen anzuberaumen ist, verstößt nicht gegen Art 6 EMRK und den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (9 ObA 141/14x; RS0126298). Das Berufungsgericht setzte sich entgegen der Ansicht des Beklagten in der außerordentlichen Revision mit seiner konkreten Entscheidung, keine Berufungsverhandlung durchzuführen, auch nicht in Widerspruch zur Rechtsprechung zu Art 6 EMRK. Diese Bestimmung fordert nicht, dass in jeder Instanz ein öffentliches Verfahren stattfindet, selbst wenn in der Rechtsmittelinstanz die Feststellung des Sachverhalts überprüft wird, die Streitfragen aber aufgrund der Aktenlage angemessen gelöst werden können (2 Ob 142/10m mwN = RS0126300; 10 ObS 88/15m; EGMR 19. 2. 1996, 50/1994/497/579, Botten gegen Norwegen = ÖJZ 1996, 675; Meyer in Karpenstein/Mayer , Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten 2 [2015] Art 6 Rz 65 f; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König in Meyer-Ladewig/Nettesheim/Raumer , EMRK-Handkommentar 4 [2017] Art 6 Rz 175 f mwN). Nichts anderes ergibt sich aus der vom Beklagten in seinem Rechtsmittel ins Treffen geführten Entscheidung EGMR 29. 10. 1991, 36/1990/227/291, Fejde gegen Schweden (= ÖJZ 1992, 308). Eine Unmöglichkeit zur Lösung der Tat- oder Rechtsfragen aufgrund der Aktenlage wird in der außerordentlichen Revision im Übrigen nicht dargetan und ist wiederum auch nicht ersichtlich.
Die außerordentliche Revision des Beklagten ist mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.