9ObA4/19g – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Dehn, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Stefula und die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Rolf Gleißner und Angela Taschek in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei A***** S*****, vertreten durch Dr. Helene Klaar Dr. Norbert Marschall Rechtsanwälte OG in Wien, gegen die beklagte Partei H***** GmbH, *****, vertreten durch Partnerschaft Schuppich, Sporn Winischhofer, Rechtsanwälte in Wien, wegen Wiederaufnahme des Verfahrens AZ 2 Cga 91/16i des Arbeits- und Sozialgerichts Wien (Streitwert: 1.000 EUR sA), über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 23. November 2018, GZ 7 Ra 53/18t 17, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Der Kläger bewarb sich samt Foto auf eine (geschlechtsneutral formulierte) Stellenausschreibung der P***** GmbH (im Folgenden: P*****). Er bekam hierauf von der P***** eine schriftliche Absage unter Hinweis darauf, dass die Beklagte das Aussehen der Mitarbeiter betreffend strikte Auflagen habe und es so leider für Burschen nicht möglich sei, langes Haar zu tragen.
Der Kläger machte im Hauptverfahren einen immateriellen Schadenersatz in Höhe von 1.000 EUR wegen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts geltend. Die Beklagte bestritt, P***** eine Vorgabe hinsichtlich der Länge der Haare bei Männern gemacht zu haben, vielmehr beschäftige sie auch Männer mit langen Haaren. Die Klage wurde im Hauptverfahren mit Urteil vom 9. 10. 2017 abgewiesen, wobei insbesondere folgende Feststellungen getroffen worden waren: „ Dieses Schreiben [= Ablehnungsschreiben; Anm] hat eine Mitarbeiterin der P***** aufgrund einer Missinterpretation eines bereits zurückliegenden Vorfalls verfasst: Bei diesem Vorfall war ein von der P***** an die Beklagte vermittelter männlicher Mitarbeiter nicht bereit, sein langes Haar bei der Arbeit gebunden zu tragen. Die Beklagte hat der P***** nicht vorgegeben, dass bei der Beklagten Männer mit langem Haar nicht anzustellen wären oder dass männliche Mitarbeiter kein langes Kopfhaar tragen dürften. Vielmehr beschäftigt die Beklagte durchaus männliche Mitarbeiter, die langes Haar tragen. Die Beklagte war in die Personalsuche hinsichtlich des Klägers nicht involviert. Die Beklagte hat auch den Inhalt des Absage-E-Mails, Beil ./A, weder vorgegeben noch beeinflusst oder verfasst. “
Am 16. 11. 2017 erhielt die Klagevertretung (bzw auch der Kläger) erstmals Kenntnis von einem Mitarbeiterhandbuch der Beklagten. Nach diesem tragen Frauen das Haar „stets gewaschen, gut frisiert und ohne sichtbaren Nachwuchs“, Männer das Haar „stets gewaschen, kurz geschnitten und frisiert“.
Die Vorinstanzen gaben der am 27. 11. 2017 bei Gericht eingebrachten und auf § 530 Abs 1 Z 7 ZPO gestützten Wiederaufnahmsklage statt. Sie maßen dem Mitarbeiterhandbuch eine Eignung zu, die Behauptung des Klägers, wonach männliche Mitarbeiter kein langes Haar tragen dürften, zu stützen, und somit in der Folge auch die rechtliche Beurteilung „in einem neuen Licht“ erscheinen zu lassen.
Rechtliche Beurteilung
Der Beklagten gelingt es nicht,
in ihrer außerordentlichen Revision eine Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO darzustellen.
1.1. Sinn und Zweck der Wiederaufnahmsklage nach § 530 Abs 1 Z 7 ZPO ist es, eine unrichtige Tatsachengrundlage des mit der Wiederaufnahmsklage angefochtenen Urteils zu beseitigen (RIS Justiz RS0039991 [T2]). Der Wiederaufnahmsgrund soll der materiellen Wahrheit in jenen Fällen zum Durchbruch verhelfen, in denen die tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen (Urteilstatbestand) unrichtig oder unvollständig waren (RIS Justiz RS0044676 [T3]).
1.2. Die neuen Tatsachen und Beweismittel müssen nicht unmittelbar auf die rechtliche Beurteilung von Einfluss sein, es genügt, wenn sie geeignet sind, eine wesentliche Änderung der Beweiswürdigung herbeizuführen (RIS Justiz RS0044411
).
Zu einer abweichenden Entscheidung können auch Beweismittel zur Dartuung oder Widerlegung von Hilfstatsachen ausreichen, die möglicherweise bei einer Verwendung im Vorprozess zu einer anderen Würdigung der Beweismittel geführt hätten. Kann eine derartige Eignung im Vorprüfungsverfahren nicht vollständig ausgeschlossen werden, kommt eine Zurückweisung nicht in Betracht (RIS Justiz RS0044411
[T17, T18]). Die Beurteilung, ob die vom Wiederaufnahmskläger vorgelegten neuen Beweismittel im konkreten Fall beweiskräftig genug sind, um eine günstigere Entscheidung in der Hauptsache herbeizuführen, ist einer Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof entzogen. Ebenso ist die Auffassung des Berufungsgerichts, es sei durchaus möglich, dass ein Umstand im Erneuerungsverfahren zu einer anderen, für den Wiederaufnahmskläger günstigeren Beweiswürdigung führen könnte, als eine Frage der Beweiswürdigung im Revisionsverfahren nicht bekämpfbar (RIS Justiz RS0044510 [T7, T13]).
2. Im vorliegenden Fall wurden im Hauptverfahren (Vorprozess) die oben wörtlich wiedergegebenen Feststellungen vom Erstgericht in der Beweiswürdigung mit der Glaubwürdigkeit von vor dem Gericht abgelegten Aussagen begründet. Das Mitarbeiterhandbuch ist jedenfalls eine Hilfstatsache, deren Eignung, im Hauptverfahren zu einer anderen Beweiswürdigung zu führen, nicht vollständig ausgeschlossen ist. Seine konkrete Beweiskraft ist der Beurteilung durch den Obersten Gerichtshof, der nicht Tatsacheninstanz ist, entzogen.
3. Die Revisionswerberin spricht zwar dem Mitarbeiterhandbuch jegliche Eignung ab, zu einer anderen, für den Kläger günstigeren Entscheidung zu führen, legt dies aber ihrerseits in der Zulassungsbeschwerde nicht weiter rechtlich dar, zeigt damit insoweit auch keine erhebliche Rechtsfrage auf, die die Zulässigkeit ihrer außerordentlichen Revision tragen könnte. Vor der künftigen vollständigen und abschließenden Klärung der tatsächlichen Umstände und Rolle der Beklagten bei der Nichteinstellung des Klägers kann sich daher in diesem Verfahrensstadium auch der Oberste Gerichtshof rechtlicher Überlegungen zu möglichen Sachverhaltsvarianten enthalten. Einer weiteren Begründung bedarf die Zurückweisung der außerordentlichen Revision nicht (§ 510 Abs 3 S 3 ZPO).