JudikaturOGH

4Ob256/16z – OGH Entscheidung

Entscheidung
20. Dezember 2016

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Jensik, Dr. Musger, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Rassi als weitere Richter in der verbundenen Rechtssache der klagenden Parteien 1. R* T*, 2. M* T* beide *, vertreten durch Dr. Manfred Schiffner und andere Rechtsanwälte in Köflach, gegen die beklagte Partei Dr. G* T*, vertreten durch Dr. Helmut Destaller und Dr. Gerald Mader, Rechtsanwälte in Graz, wegen 30.500 EUR sA (17 Cg 91/14s – Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz) und 20.000 EUR sA (15 Cg 31/14b – Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz), über die außerordentliche Revision der erstklagenden Partei und die Revision der zweitklagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 14. September 2016, GZ 3 R 103/16s 59, womit das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 30. Juni 2016, GZ 17 Cg 91/14s, 15 Cg 31/14b-53 bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Beide Revisionen werden zurückgewiesen.

Die erstklagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.475,58 EUR (darin 245,93 EUR USt) bestimmten anteiligen Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Die zweitklagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 983,72 EUR (darin 163,95 EUR USt) bestimmten anteiligen Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

Die Kläger machten gegen den beklagten Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe wegen der Totgeburt ihres Sohnes – dieser verblutete wegen der Ruptur der Vasa praevia zwischen Blasensprung und Notfallssectio – Schadenersatzansprüche wegen Behandlungsfehlern und Verletzung der Aufklärungspflicht geltend.

Nach den Feststellungen hat der Beklagte statt der im Mutter Kind Pass vorgesehenen drei Ultraschalluntersuchungen sieben Untersuchungen und zusätzlich auch die im Mutter Kind Pass nicht vorgesehene CTG Kontrolle sowie einen Combined Test mit Messung der Nackenfalte vorgenommen. Die Behandlungen wurden vom Beklagten umfassend dokumentiert. Das im Anlassfall eingetretene Risiko der Vasa praevia ist bei einem niedergelassenen Facharzt nur einmal in 125 Berufsjahren zu erwarten. Die Komplikation hätte nur durch eine gezielte, fokussierte Fahndung mit transvaginalem Farbdoppler Ultraschall entdeckt werden können. Eine solche Untersuchung ist weder im Untersuchungsprogramm zum Mutter Kind Pass noch im Rahmen eines Organscreenings vorgesehen. Es gibt dazu keine Leitlinien.

Die Vorinstanzen gingen davon aus, dass der Beklagte alle vorgesehenen Untersuchungen durchführte, ihm weder ein Behandlungsfehler noch ein Verstoß gegen seine Aufklärungspflichten vorzuwerfen sei, und wiesen die Klagebegehren zur Gänze ab. Das Berufungsgericht vertrat die Rechtsansicht, es wäre eine Überspannung der sogenannten „Sicherheitsaufklärungspflicht“, von einem Schwangerschaften begleitenden niedergelassenen Facharzt zu verlangen, ohne jeden Hinweis auf das Vorliegen einer seltenen Komplikation über alle möglichen seltenen Komplikationen und die zu deren Ausschluss zur Verfügung stehenden Untersuchungsmöglichkeiten aufzuklären.

Das Berufungsgericht sprach zunächst aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei, weil das Schwergewicht der Berufungsentscheidung auf der Tatsachenebene gelegen sei. Der Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht sei nach den Umständen des Einzelfalls zu beantworten. Aufgrund des Abänderungsantrags des Zweitklägers nach § 508 Abs 1 ZPO ließ das Berufungsgericht die ordentliche Revision nachträglich zu, um sonst mögliche „unerträgliche Divergenzen“ bei den Entscheidungen über die Ansprüche der beiden Kläger zu vermeiden. Zudem erscheine die Wertung des Zweitklägers zu Fragen der Aufklärungspflicht bei besorgten oder ängstlichen Patienten „nicht von vornherein unvertretbar“.

Mangels erheblicher Rechtsfragen iSv § 502 Abs 1 ZPO ist die Revision des Zweitklägers ungeachtet des – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden –berufungsgerichtlichen Zulassungsausspruchs ebenso wenig zulässig wie die außerordentliche Revision der Erstklägerin .

Rechtliche Beurteilung

1. Dass eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu einem vergleichbaren Sachverhalt fehlt, bedeutet keineswegs, dass die Entscheidung von der Lösung einer iSd § 502 Abs 1 ZPO erheblichen Rechtsfrage des materiellen Rechts oder des Verfahrensrechts abhängt. Besonderheiten der Fallgestaltung schließen eine richtungsweisende, die Rechtsentwicklung vorantreibende und für zukünftige Entscheidungen nutzbringende Judikatur des Obersten Gerichtshofs sogar eher aus (RIS Justiz RS0102181; Zechner in Fasching/Konecny 2 § 502 ZPO Rz 70). Der von den Klägern herangezogene Umstand, dass eine höchstgerichtliche Judikatur zu einem vergleichbaren Sachverhalt fehle, reicht daher nicht aus, um das Vorliegen der Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zu begründen.

2. Auch der Hinweis des Berufungsgerichts, dass eine gegenteilige Beurteilung der Aufklärungspflicht „nicht von vornherein unvertretbar ist“, kann die Zulässigkeit des Rechtsmittels nicht stützen. Die bloße Vertretbarkeit einer anderen Lösung wirft noch keine erhebliche Rechtsfrage auf; andernfalls müsste der Oberste Gerichtshof in jedem derartigen Fall die Sachentscheidung treffen (2 Ob 197/14f mwN; Zechner in Fasching/Konecny ² § 502 ZPO Rz 66 und § 508 ZPO Rz 9 mwN).

3. Der konkrete Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht richtet sich stets nach den Umständen des Einzelfalls und wirft – von auffälligen Fehlbeurteilungen abgesehen – keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf (RIS Justiz RS0026529; RS0026763 [T5]).

4. Der Arzt muss nicht stets von sich aus alle theoretisch in Betracht kommenden Behandlungsmöglichkeiten oder Operationsmöglichkeiten mit dem Patienten erörtern (RIS Justiz RS0026529; RS0026426). Aus der Entscheidung 10 Ob 107/02m kann etwa abgeleitet werden, dass mangels Indikation für eine Kaiserschnittentbindung der Patientin nicht ungefragt zu erläutern ist, welche Behandlungs-(Entbindungs-)methoden theoretisch in Betracht kommen und was für und gegen die eine oder andere dieser Methoden spricht, solange der Arzt eine Methode anwendet, die dem medizinischen Standard genügt (5 Ob 162/03i). Eine Aufklärung über Behandlungsalternativen ist erforderlich, wenn für den konkreten Behandlungsfall mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Behandlungsmethoden zur Verfügung stehen, die gleichwertig sind, aber unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen haben (RIS Justiz RS0026426 [T11]).

5. Im vorliegenden Fall gab es keine Hinweise auf die äußerst seltene Komplikation. Die Suche nach einer Vasa praevia mittels vaginalem Farbdoppler Ultraschall durch den Beklagten war medizinisch nicht indiziert. Wenn das Berufungsgericht aufgrund dieser Sachlage das Vorliegen einer Aufklärungspflichtverletzung durch den Beklagten verneinte, so hält sich dies im Rahmen der zitierten Rechtsprechung. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts bedeutet jedenfalls keine auffällige Fehlbeurteilung und bedarf daher keiner Korrektur durch gegenteilige Sachentscheidung.

6. Auch der Hinweis im Rechtsmittel auf fehlende Rechtsprechung zur Aufklärungspflichtverletzung ängstlicher Patienten verfängt nicht. Zu dieser Thematik gibt es zahlreiche Entscheidungen (vgl etwa 3 Ob 545/82 = SZ 55/114; 6 Ob 318/00h; 8 Ob 10/03h; RIS Justiz RS0026468; RS0026313 [T10]), aus denen im Ergebnis für die Kläger nichts zu gewinnen ist, selbst wenn man den im Rechtsmittel behaupteten, aber nicht festgestellten Umstand berücksichtigt, dass die Erstklägerin eine ängstliche bzw besonders besorgte Patientin gewesen sei. Gerade dieser Umstand könnte eine extensive Aufklärung nicht stützen. Nach der zitierten Rechtsprechung ist die Aufklärung nämlich bei besonders ängstlichen Menschen auf ein Minimum zu beschränken, damit solche Patienten vor psychischen Pressionen bewahrt werden.

7. Schließlich liegt auch die gerügte sekundäre Mangelhaftigkeit nicht vor. Die Rechtsrüge ist hier über weite Strecken nicht gesetzmäßig ausgeführt, weil die Kläger nicht vom festgestellten Sachverhalt ausgehen (RIS Justiz RS0043603) und damit in Wahrheit die Tatsachengrundlage bekämpfen, wenn sie etwa den Feststellungen die Schlussfolgerungen eines außerhalb des Gerichtsverfahrens eingeholten Gutachtens entgegenhalten. Zudem sind die der angefochtenen Berufungsentscheidung zugrundeliegenden Feststellungen ausreichend, um die Rechtssache umfassend beurteilen zu können, sodass im Fehlen weiterer Feststellungen kein rechtlicher Feststellungsmangel liegen kann (RIS Justiz RS0053317).

8. Die Kostenentscheidung gründet auf §§ 41, 50 ZPO. Der Beklagte hat auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen. Seine Revisionsbeantwortung diente daher der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung. Die Kläger waren anteilig zum Kostenersatz zu verpflichten (vgl Obermaier , Kostenhandbuch 2 Rz 326 mwN).

Rückverweise