JudikaturOGH

12Os141/15z – OGH Entscheidung

Entscheidung
17. Dezember 2015

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 17. Dezember 2015 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé, Dr. Oshidari, Dr. Michel Kwapinski und Dr. Brenner in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Weißnar als Schriftführerin in der Auslieferungssache des Enis K*****, AZ 311 HR 74/15p des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des genannten Gerichts vom 9. September 2015, GZ 311 HR 74/15p 22, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Staatsanwältin Mag. Wenger,

I. den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Antrag des Betroffenen auf Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers wird abgewiesen.

II.

zu Recht erkannt:

Der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 9. September 2015 verletzt das Gesetz in § 31 Abs 1 zweiter Satz ARHG iVm § 33 Abs 1 ARHG.

Der Beschluss wird zur Klarstellung beseitigt.

Text

Gründe:

Mit Roteckausschreibung vom 11. Februar 2010, Control No. A 851/2 2010, wird aufgrund der Haftbefehle des 3rd Peace Court of Criminal Jurisdiction in Kadikoy/Türkei vom 22. Mai 2008, AZ 2008/784/19536 und vom 6. November 2009, AZ 2009/1500, international nach dem türkischen Staatsangehörigen Enis K*****, wegen des Verdachts des Verbrechens des Mordes nach Art 81 Abs 1 des türkischen Strafgesetzes gefahndet.

Am 9. Juni 2015 leitete die Staatsanwaltschaft Wien zu AZ 301 St 21/15i gemäß § 26 Abs 1 ARHG das Auslieferungsverfahren gegen Enis K***** ein und beantragte beim Landesgericht für Strafsachen Wien gemäß § 29 ARHG die Verhängung der (bedingt obligatorischen) Auslieferungshaft nach Beendigung der zu AZ 62 Hv 67/15y des Landesgerichts für Strafsachen Wien bestehenden Untersuchungshaft, die Vernehmung des Genannten gemäß § 31 Abs 1 ARHG und die Berichterstattung an das Bundesministerium für Justiz gemäß § 28 Abs 1 ARHG (ON 1 S 2).

Nach durchgeführter Vernehmung, bei der sich Enis K***** gegen seine Auslieferung an die Türkei aussprach, einer vereinfachten Auslieferung nicht zustimmte sowie angab, als Kurde in der Türkei Opfer eines politischen Komplotts zu sein, weshalb ihm (unter Verweis auf seinen italienischen Asylpass und seine Aufenthaltsberechtigung) in Italien Asyl gewährt worden wäre (ON 5), erstattete das Landesgericht für Strafsachen Wien unter Anschluss einer Sachverhaltsdarstellung am 12. Juni 2015 gemäß § 28 Abs 1 ARHG Bericht an das Bundesministerium für Justiz, verbunden mit dem Ersuchen, das türkische Justizministerium zu befragen, ob die Auslieferung des Genannten begehrt werde (ON 6 f).

Mit Schreiben vom 14. August 2015, GZ BMJ 4065442/0006-IV 4/2015, teilte das Bundesministerium für Justiz dem Landesgericht für Strafsachen mit, gemäß § 28 Abs 1 dritter Satz ARHG davon abzusehen, den türkischen Behörden die Auslieferung des Genannten anzubieten. Nach Mitteilung der italienischen Behörden hätte nämlich die Gebietskommission für die Anerkennung des internationalen Schutzes in Rom Enis K***** am 23. April 2014 den Status als politischer Flüchtling zuerkannt (ON 20).

Mit unangefochten in Rechtskraft erwachsenem Beschluss vom 9. September 2015 erklärte das Landesgericht für Strafsachen Wien die Auslieferung des Enis K***** an die Türkei zur Strafverfolgung wegen der den Haftbefehlen des Dritten Friedensgerichts von Kadiköy/Türkei vom 22. Mai 2008 und vom 6. November 2009 zugrunde liegenden Straftaten für unzulässig (ON 22).

Rechtliche Beurteilung

Der genannte Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien steht wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt mit dem Gesetz nicht im Einklang.

Soweit im zwischen der Republik Österreich und der Türkei anzuwendenden Europäischen Auslieferungsübereinkommen (ALÜ), nichts anderes bestimmt ist, findet gemäß dessen Art 22 auf das Verfahren der Auslieferung und der vorläufigen Auslieferungshaft ausschließlich das Recht des ersuchten Staats, sohin das ARHG unter teils sinngemäßer Anwendung der österreichischen Strafprozessordnung (§ 9 ARHG) Anwendung. Gemäß § 31 Abs 1 zweiter Satz ARHG entscheidet das Gericht über die Zulässigkeit der Auslieferung nach Maßgabe des § 33 ARHG mit Beschluss. Die Zulässigkeit der Auslieferung ist anhand des Auslieferungsersuchens und seiner Unterlagen zu prüfen (§ 33 Abs 1 ARHG). Grundlage und zwingende Voraussetzung für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung in einem Auslieferungsverfahren ist somit das Vorliegen eines Auslieferungsersuchens samt Auslieferungsunterlagen, das heißt einer unter Anschluss der erforderlichen Unterlagen (§ 35 ARHG iVm Art 12 ALÜ) förmlich gestellten Bitte des ersuchenden Staats um Übergabe des Betroffenen zur Strafverfolgung oder Strafvollstreckung ( Göth Flemmich in WK 2 ARHG § 35 Rz 1).

Zu diesem Zweck hat der Bundesminister für Justiz, wenn Anlass zu einer Auslieferung besteht, nach vorangegangener Berichterstattung durch das Gericht, den Staat, in dem die strafbare Handlung begangen worden ist, zu befragen, ob um die Auslieferung ersucht wird (§ 28 Abs 1 dritter Satz ARHG). Davon kann der Bundesminister für Justiz jedoch dann absehen, wenn angenommen werden muss, dass ein solches Ersuchen nicht gestellt werden wird, oder aufgrund der Unterlagen zu ersehen ist, dass eine Auslieferung aus einem der Gründe der §§ 2 und 3 Abs 1 ARHG, insbesondere weil dem Betroffenen (wie hier wegen seines aufrechten Asylstatus in Italien [ Göth Flemmich in WK 2 ARHG § 28 Rz 2 und 8; vgl auch Art 3 ALÜ]) völkerrechtlicher Schutz zukommt, abgelehnt werden müsste (§ 28 Abs 1 vierter Satz ARHG).

Übermittelt der Staat nach Anbot der Auslieferung aufgrund eines Fahndungsersuchens innerhalb der ihm dafür gesetzten Frist kein förmliches Auslieferungsersuchen oder sieht wie im vorliegenden Fall der Bundesminister für Justiz gemäß § 28 Abs 1 vierter Satz ARHG davon ab, dem Staat die Auslieferung anzubieten, kommt dem Gericht keine Entscheidungskompetenz über die Zulässigkeit der Auslieferung zu, sondern ist in Ansehung des gemäß § 27 Abs 1 ARHG eingeleiteten Verfahrens eine verfahrensbeendende Entscheidung zu treffen, die eine spätere Verfahrensfortführung (etwa bei Einlangen der Auslieferungsunterlagen bzw Anbotstellung des Bundesministers für Justiz an den ersuchenden Staat infolge nachträglichen Wegfalls des zuerkannten Asylstatus) unabhängig von einer formellen Wiederaufnahme erlaubt ( Göth Flemmich in WK 2 ARHG § 35 Rz 3).

Ein ausländisches Fahndungsersuchen zur Festnahme zwecks Auslieferung, wie die verfahrensgegenständliche Roteckausschreibung vom 11. Februar 2010, bildet kein förmliches Auslieferungsersuchen, sondern ist bloß als Ersuchen um Verhängung der vorläufigen Auslieferungshaft für den Fall der Betretung der gesuchten Person im Inland anzusehen ( Göth Flemmich in WK 2 ARHG § 27 Rz 2 und 8; vgl auch Art 16 ALÜ und Art 2 des 3. Zusatzprotokolles zum ALÜ, BGBl III 2015/70). Eine (vereinfachte) Auslieferung der gesuchten Person an den ersuchenden Staat kann in diesem Fall somit ohne Durchführung eines förmlichen Auslieferungsverfahrens nur im Falle deren (aktuell nicht vorliegender) Einwilligung erfolgen (§ 32 Abs 1 ARHG; Göth Flemmich in WK 2 ARHG § 32 Rz 2).

Mangels Auslieferungsersuchens bestand gemäß § 31 Abs 1 zweiter Satz ARHG iVm § 33 Abs 1 ARHG keine Kompetenz des Landesgerichts für Strafsachen Wien zur Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung. Es wäre ihm lediglich zugekommen, das nach § 27 Abs 1 ARHG eingeleitete Verfahren formlos zu beenden.

Der Beschluss war zur Klarstellung zu beseitigen (RIS Justiz RS0116270).

Der Antrag des Betroffenen auf Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers war abzuweisen, weil diese nicht im Interesse der Rechtspflege bzw einer zweckentsprechenden Verteidigung erforderlich war (§ 61 Abs 2 StPO). Es liegt keiner der Fälle des Z 1 bis 4 leg cit vor. Ein Verfahren aufgrund einer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes kann dem Betroffenen gemäß § 292 StPO nicht zum Nachteil gereichen.

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