JudikaturOGH

11Os99/12m – OGH Entscheidung

Entscheidung
25. September 2012

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 25. September 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab, Mag. Lendl, Mag. Michel und Dr. Oshidari als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin MMag. Karlicek als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Hicham B***** wegen des Verbrechens der absichtlich schweren Körperverletzung nach §§ 15, 87 Abs 1 StGB und anderer strafbarer Handlungen, AZ 15 Hv 103/11s des Landesgerichts St. Pölten, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil dieses Gerichts vom 24. Jänner 2012, GZ 15 Hv 103/11s 61, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes und den Antrag des Verurteilten auf Erneuerung des Strafverfahrens nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Höpler, des Verurteilten und des Verteidigers Rechtsanwalt Daigneault zu Recht erkannt:

Spruch

Das Urteil des Landesgerichts St. Pölten vom 24. Jänner 2012, GZ 15 Hv 103/11s 61, verletzt infolge Unterbleibens von Feststellungen zur objektiven und subjektiven Tatseite §§ 87 Abs 1; 269 Abs 1 erster Fall; 83 Abs 1, 84 Abs 2 Z 4; 125, 126 Abs 1 Z 5; 297 Abs 1 StGB.

Dieses Urteil wird zur Gänze aufgehoben und dem Erstgericht die neue Verhandlung und Entscheidung aufgetragen.

Mit seinem Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens wird der Verurteilte auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Einzelrichters des Landesgerichts St. Pölten vom 24. Jänner 2012, GZ 15 Hv 103/11s 61, wurde der Angeklagte Hicham B***** des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach §§ 15, 87 Abs 1 StGB (I./1./), des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Fall StGB (I./2./), der Vergehen der schweren Körperverletzung nach §§ 83 [erg: Abs 1], 84 Abs 2 Z 4 StGB (I./3./), des Vergehens der schweren Sachbeschädigung nach §§ 125, 126 Abs 1 Z 5 StGB (II./) und des „Verbrechens der Verleumdung nach § 297 Abs 1 StGB“ (III./) schuldig erkannt.

Danach hat er in L*****

I./ am 27. Oktober 2011

1./ versucht, Alaa K***** absichtlich eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB) zuzufügen, indem er auf den Genannten im Zuge einer Auseinandersetzung mehrfach mit einem Messer einstach, wodurch dieser Schnittverletzungen am Handrücken, am Gesäß, am Oberschenkel und am Bauch erlitt;

2./ im Anschluss an die zu 1./ beschriebene Tathandlung versucht, Polizeibeamte der Polizeiinspektion L***** mit Gewalt an einer Amtshandlung, nämlich seiner Festnahme zu hindern, indem er auf diese eintrat und einschlug,

3./ durch die zu 2./ beschriebenen Tathandlungen die nachgenannten Polizeibeamten am Körper verletzt, und zwar

a./ GI Anton W*****, wobei dieser einen Gelenkskapseleinriss mit Bänderdehnung am kleinen Finger der linken Hand erlitt und

b./ GI Ernst Bu*****, wobei dieser oberflächliche Hautabschürfungen an den Handrücken und Fingern beider Hände erlitt, und

c./ RI Josef E*****, wobei dieser oberflächliche Hautabschürfungen an den Handrücken und Fingern beider Hände erlitt,

II./ fremde Sachen in einem insgesamt 3.000 Euro nicht übersteigenden Wert vorsätzlich beschädigt, nämlich

1./ am 18. Oktober 2011 in der Flüchtlingsunterkunft „L*****“ zwei Türen, indem er jeweils mit den Füßen auf diese eintrat,

2./ am 28. Oktober 2011 die Handzelle der Polizeiinspektion L*****, sohin eine Einrichtung, die der öffentlichen Sicherheit dient, indem er durch Verstopfen der WC Anlage die Zelle flutete und deren Wände mit seinen Fäkalien beschmierte, wodurch die Zelle für mehrere Stunden unbrauchbar gemacht wurde;

III./ am 24. Jänner 2012 andere dadurch der Gefahr einer behördlichen Verfolgung ausgesetzt, dass er sie einer von Amts wegen zu verfolgenden mit Strafe bedrohten Handlung falsch verdächtigte, indem er in der Hauptverhandlung vor dem Landesgericht St. Pölten GI Anton W***** und GI Josef E***** der Körperverletzung am 27. Oktober 2011 falsch verdächtigte, obwohl er wusste, dass diese Verdächtigung falsch ist.

Der Angeklagte wurde nach § 87 Abs 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Jahren verurteilt, wobei bei der Strafbemessung unter anderem das Zusammentreffen von zwei Verbrechen mit drei Vergehen als erschwerend gewertet wurde (US 6). Nach § 21 Abs 2 StGB erfolgte die Einweisung des Angeklagten in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher. Ein nicht näher bezeichneter Privatbeteiligter wurde mit seinen Ansprüchen gemäß § 366 Abs 2 StPO auf den Zivilrechtsweg verwiesen und nach § 19a Abs 1 StGB das sichergestellte Messer konfisziert.

Nach den Entscheidungsgründen hat der bei allen Tathandlungen zurechnungsfähige (US 4 vierter Absatz, US 5 erster Absatz) Angeklagte „sämtliche im Spruch genannten strafbaren Handlungen sowohl mit der für die Feststellung der inneren Tatseite als auch der äußeren Tatseite erforderlichen Tatbestandsmerkmale verwirklicht“ (US 4 dritter Absatz). Zum Schuldspruch III./ stellte der Einzelrichter darüber hinaus fest, dass der Angeklagte „ganz gezielt in der Hauptverhandlung die zwei Beamten verleumdet hat, er hat gewusst, dass die von ihm erhobenen Beschuldigungen schlicht und ergreifend falsch sind“ (US 5 erster Absatz). Weitere Konstatierungen wurden zu den Schuldsprüchen nicht getroffen.

Das Urteil erwuchs mit Ablauf des 27. Jänner 2012 unbekämpft in Rechtskraft, die verhängte Freiheitsstrafe wird derzeit vollzogen.

Am 29. Juni 2012 stellte der Verurteilte einen gegen den Einweisungsausspruch gerichteten Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens (ON 81 der Hv Akten).

Das Urteil des Landesgerichts St. Pölten vom 24. Jänner 2012, GZ 15 Hv 103/11s 61, verletzt wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt mehrfach das Gesetz:

Rechtliche Beurteilung

Gemäß dem auch im Einzelrichterverfahren geltenden (§ 488 Abs 1 StPO) § 270 Abs 2 Z 5 StPO muss in den Entscheidungsgründen eines Urteils in gedrängter Darstellung, aber mit voller Bestimmtheit unter anderem angegeben sein, welche Tatsachen das Gericht bei der Entscheidung als erwiesen oder als nicht erwiesen angenommen hat. Die Feststellungen müssen zum objektiven Tathergang eine genaue Erzählung des Sachverhalts mit allen entscheidungswesentlichen Details sowie zur subjektiven Tatseite alle Tatbestandsmerkmale, und zwar auch zu angenommenen Deliktsqualifikationen umfassen ( Danek , WK StPO § 270 Rz 30, 35).

Vorliegend hat der Einzelrichter mit der zitierten Wendung US 4 gar keine Feststellungen zu den Schuldsprüchen I./ und II./ getroffen.

Zum Schuldspruch III./ fehlen trotz der Urteilsannahmen zur gezielten Verleumdung und zum Wissen, dass die erhobenen Beschuldigungen falsch waren, Konstatierungen zur falsch angelasteten Tat, zur mit der falschen Verdächtigung verbundenen Gefahr einer behördlichen Verfolgung im allgemeinen und im Hinblick auf die angenommene (vgl US 3, US 6) Verbrechensqualifikation zur konkreten Gefahr der Verfolgung wegen einer falsch angelasteten, mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedrohten Handlung sowie zu dem jeweils darauf bezogenen Vorsatz.

Das Referat der entscheidenden Tatsachen im Urteilsspruch (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO) vermag fehlende Feststellungen nicht zu ersetzen ( Ratz , WK StPO § 281 Rz 580; Lendl , WK StPO § 260 Rz 8).

Da die vorgenommene Subsumtion durch die Urteilsannahmen nicht getragen wird, liegt in Ansehung der Schuldsprüche eine Gesetzesverletzung vor. Die Anordnung der vorbeugenden Maßnahme nach § 21 Abs 2 StGB schloss ein inhaltlich offenbar intendiertes Vorgehen nach § 270 Abs 4 StPO aus. Daraus für den Angeklagten erwachsende Nachteile können nicht ausgeschlossen werden.

Es war deshalb spruchgemäß zu entscheiden (§ 292 letzter Satz StPO).

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