13Os82/12a – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 27. Juli 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig und Dr. Nordmeyer in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Angrosch als Schriftführerin in der Auslieferungssache des Vasiliy G*****, AZ 406 HR 299/11h des Landesgerichts Korneuburg, über die Grundrechtsbeschwerde der betroffenen Person gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 12. Juni 2012, AZ 22 Bs 206/12y (ON 99a der HR Akten), und vom 26. Juni 2012, AZ 22 Bs 254/12g (ON 102 der HR-Akten), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Vasiliy G***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.
Die Grundrechtsbeschwerde wird, soweit sie sich gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 12. Juni 2012, AZ 22 Bs 206/12y, richtet, zurückgewiesen, im Übrigen abgewiesen.
Text
Gründe:
Mit Beschluss vom 13. Dezember 2011 (ON 9) verhängte das Landesgericht Korneuburg die Auslieferungshaft über Vasiliy G***** aus dem Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 29 Abs 1 zweiter Satz ARHG iVm § 173 Abs 2 Z 1 StPO und setzte sie mehrmals aus demselben Haftgrund, zuletzt am 8. Juni 2012 (ON 90), fort; die Kaution wurde mit 1.500.000 Euro festgesetzt. Der dagegen gerichteten Haftbeschwerde gab das Oberlandesgericht Wien mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss vom 26. Juni 2012, AZ 22 Bs 254/12g (ON 102 der HR Akten), nicht Folge und setzte die Auslieferungshaft ohne Beschränkung durch eine Haftfrist (§ 29 Abs 5 ARHG) fort.
Nach Ansicht des Beschwerdegerichts ergaben sich aus den Auslieferungsunterlagen hinreichende Gründe für die Annahme, die betroffene Person habe eine der Auslieferung unterliegende strafbare Handlung, nämlich einen Betrug mit einem Schaden von 3.990.000 US-Dollar (in den Auslieferungsunterlagen Art 159 Abs 4 des russischen Strafgesetzbuches subsumiert) und einer Strafdrohung bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe, begangen.
Demnach habe Vasiliy G***** von September bis Dezember 2007 in der Region Moskau im Rahmen eines Bauprojekts mit zwei namentlich genannten Mittätern den Geschäftsführer des Unternehmens Z***** „TIS“ in „betrügerischer Absicht“ dazu verleitet, (gutgläubig) eine Akzeptanzerklärung für angeblich bereits realisierte (tatsächlich jedoch nicht erbrachte) Bauarbeiten und Konstruktionen zu unterschreiben, wodurch dem genannten Unternehmen ein Schaden von 3.990.000 US-Dollar entstanden sei.
Rechtliche Beurteilung
Dagegen richtet sich die Grundrechtsbeschwerde, die inhaltlich ausschließlich eine Verletzung des Art 5 MRK einwendet, weil die Auslieferungshaft ohne Vorliegen der in § 29 Abs 6 zweiter Satz ARHG genannten Voraussetzungen (Verbrechen als der Auslieferung unterliegende strafbare Handlung sowie Unvermeidbarkeit der Haftdauer über sechs Monate wegen besonderer Schwierigkeiten oder besonderen Umfangs des Verfahrens) bereits mehr als sechs Monate aufrechterhalten werde.
Während des Auslieferungsverfahrens erster Instanz nahm die Verteidigung mehrmals schriftlich zum Auslieferungsersuchen Stellung (ON 37, 43, 49 und 55 bis 57) und legte umfangreiche Konvolute (teils in russischer und englischer Sprache) vor, bestritt den in den Auslieferungsunterlagen dargestellten Tatverdacht, wandte formale Mängel des zu Grunde liegenden russischen Strafverfahrens ein und machte geltend, dieses würde den Grundsätzen der Art 3 und 6 MRK nicht entsprechen (§ 19 Z 1 ARHG). Die mündliche Verhandlung zur Prüfung der Zulässigkeit des Auslieferungsersuchens (§ 31 Abs 2 ARHG) wurde an vier Tagen (27. Februar sowie 23., 28. und 29. März 2012 [ON 40 und 62 bis 64]) durchgeführt. Im Rahmen der Verhandlung nahm die betroffene Person Stellung; über Antrag der Verteidigung wurde der unmittelbar von dieser stellig gemachte (vgl § 33 Abs 2 ARHG) für Vasiliy G***** in Russland tätige Rechtsanwalt als Zeuge vernommen, wobei behauptete politische Hintergründe des russischen Strafverfahrens ausführlich erörtert wurden. Zudem wurden von der Verteidigung vorgelegte (jeweils russische) Tonbandaufzeichnungen und schriftliche Unterlagen von der gerichtlich bestellten Dolmetscherin (schriftlich) übersetzt (vgl ON 62 S 41 f und ON 64 S 2 und 21).
Mit Beschluss vom 29. März 2012, GZ 406 HR 299/11h 68, hat das Landesgericht Korneuburg die Auslieferung für zulässig erklärt. Der Beschluss wurde der Verteidigung am 26. April 2012 zugestellt. Der dagegen am 9. Mai 2012 eingebrachten Beschwerde gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 12. Juni 2012, AZ 22 Bs 206/12y (ON 99a der HR-Akten), nicht Folge.
Am 3. Juli 2012 teilte das Bundesministerium für Justiz dem Landesgericht Korneuburg mit (ON 105), dass die Bundesministerin für Justiz die Auslieferung bewilligt hat (vgl § 34 Abs 1 ARHG).
Soweit die Grundrechtsbeschwerde einleitend auch die zuletzt genannte Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts zum Anfechtungsgegenstand erklärt, war sie als unzulässig zurückzuweisen, weil diese in das Grundrecht auf persönliche Freiheit gar nicht eingreift (vgl § 1 Abs 1 GRBG; RIS-Justiz RS0116089, RS0117728 T10). Eine Umdeutung der Beschwerde in einen grundsätzlich möglichen Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens nach § 363a StPO scheitert am Fehlen eines in diesem Sinn erstatteten Vorbringens.
Im (inhaltlich) gegen die Entscheidung über die Haftbeschwerde (ON 102) gerichteten Umfang ist die Grundrechtsbeschwerde nicht im Recht.
Das Oberlandesgericht hielt das Überschreiten der Sechsmonatsschwelle wegen der sich nicht zuletzt aus den (zuvor dargestellten) zahlreichen Stellungnahmen der betroffenen Person mit umfangreichem Vorbringen zu angeblichen formellen Mängeln des Strafverfahrens im ersuchenden Staat und behaupteterweise in diesem bereits stattgefundenen oder drohenden Grundrechtsverletzungen ergebenden besonderen Schwierigkeit und des Umfangs des Auslieferungsverfahrens ( Kirchbacher/Rami , WK-StPO Vor §§ 170-189 Rz 39) im Hinblick auf den weiter vorliegenden Haftgrund der Fluchtgefahr für unvermeidbar und bejahte die weitere Voraussetzung einer der Auslieferung unterliegenden strafbaren Handlung, die (nach österreichischem Recht § 17 StGB) als Verbrechen anzusehen sei (ON 102 S 3 f).
Unrichtige Gesetzesanwendung im Sinn des § 2 Abs 1 GRBG (vgl 14 Os 120/10v) vermag die Beschwerde angesichts dieser vom Oberlandesgericht in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht (knapp, aber ausreichend) angeführten Gründe (vgl Kier in WK 2 GRBG § 2 Rz 103) nicht darzulegen. Dass die Schwierigkeiten des Auslieferungsverfahrens auch mit dem Prozessverhalten der betroffenen Person selbst begründet wurden, begegnet keinen Bedenken, weil wie hier umfangreiches Vorbringen gegen die Zulässigkeit der Auslieferung (im Sinn der §§ 19 Z 1 und 33 Abs 2 ARHG) vom Gericht sorgfältig zu prüfen ist und damit zwangsläufig die Komplexität des Verfahrens erhöht.
Die Grundrechtsbeschwerde war daher, soweit sie sich gegen den Beschluss über die Haftbeschwerde richtet, ohne Kostenzuspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen.