14Os155/11t – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 3. April 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger, Dr. Bachner-Foregger, Mag. Michel und Mag. Fürnkranz in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Brandstetter als Schriftführer in der Strafsache gegen Karl K***** und einen anderen Angeklagten wegen des Verbrechens der Untreue nach § 153 Abs 1 und Abs 2 zweiter Fall, 15 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 9 Hv 67/08m des Landesgerichts für Strafsachen Graz, über den Antrag des Verurteilten Karl K***** auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Text
Gründe:
Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 11. November 2010, GZ 9 Hv 67/08m 118, wurde Karl K***** des Verbrechens der Untreue nach § 153 Abs 1 und Abs 2 zweiter Fall, 15 StGB schuldig erkannt und hiefür nach dem zweiten Strafsatz des § 153 Abs 2 StGB zu einer achtzehnmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt.
Bei der Strafbemessung wurden „die Tatbegehung in Tatgemeinschaft“, der hohe Schaden, die „Begehung aus besonders verwerflichen Beweggründen unter Ausnützung seiner Stellung als Sachwalter“ und die Tatwiederholung als erschwerend, als mildernd dagegen der bisher ordentliche Lebenswandel des Angeklagten und der Umstand, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist, gewertet (US 17 f). Der nicht näher beschriebenen „langen Verfahrensdauer“ wurde durch Reduktion der für tat- und tätergerecht angesehenen Strafe (von 21 Monaten Freiheitsstrafe) um drei Monate Rechnung getragen (ON 118 US 31 f).
Die schriftliche Urteilsausfertigung wurde dem Verteidiger am 28. Februar 2011 zugestellt (RS zur Verfügung vom 25. Februar 2011, unjournalisiert in ON 1).
Mit Beschluss des Obersten Gerichtshofs vom 14. Juli 2011, AZ 13 Os 60/11i (ON 132), wurde die gegen das Urteil erhobene Nichtigkeitsbeschwerde des Karl K***** zurückgewiesen.
Mit Urteil vom 5. Oktober 2011, AZ 8 Bs 343/11v (ON 136), gab das Oberlandesgericht Graz seiner gegen den Strafausspruch gerichteten Berufung dahin Folge, dass gemäß § 43a Abs 3 StGB ein zwölfmonatiger Strafteil unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.
In der Begründung führte das Berufungsgericht soweit hier wesentlich aus, dass durch die „zögerliche Aktenbearbeitung, gepaart mit einer notwendig gewordenen Urteilsberichtigung und neuerlicher Verhandlung in einem zweiten Rechtsgang“ eine erhebliche Verzögerung des Verfahrens bewirkt wurde, wozu die verspätete Zustellung der Urteilsausfertigung komme. Der Verletzung des Beschleunigungsgebots des § 9 Abs 1 StPO habe das Erstgericht jedoch „mehr als hinlänglich Rechnung getragen“, die iSd § 34 Abs 2 StGB vorgenommene Strafreduktion von drei Monaten erscheine „auch unter Bedachtnahme auf die letztangeführte Tatsache … in Relation zur (fiktiv) verhängten und prinzipiell als angemessen anzusehenden Strafe“ ausreichend. Die bedingte Nachsicht eines Teils der verhängten Freiheitsstrafe führte das Oberlandesgericht nicht auf die lange Verfahrensdauer, sondern ausdrücklich auf den bisher ordentlichen Lebenswandel des Angeklagten und die zu erwartenden Folgen der Taten auf sein künftiges Leben in der Gesellschaft zurück (ON 136 S 3 ff).
Mit seiner am 25. November 2011 beim Obersten Gerichtshof (somit rechtzeitig innerhalb der sechsmonatigen Frist des Art 35 Abs 1 MRK [13 Os 135/06m, EvBl 2007, 154, 832]) eingelangten Eingabe begehrt Karl K***** gestützt auf die Behauptung einer Verletzung in seinem Grundrecht auf ein faires Verfahren nach Art 6 Abs 1 MRK (durch Verletzung des allgemeinen Beschleunigungsgebots in Strafsachen) die Erneuerung des gegen ihn geführten Strafverfahrens.
Dazu räumt der Antragsteller ein, dass das Oberlandesgericht die in der Berufung ausdrücklich geltend gemachte Verzögerung der Urteilsausfertigung als Verletzung von Art 6 Abs 1 MRK anerkannte, erachtet sich aber mit der wesentlichen Begründung weiterhin als Opfer einer Konventionsverletzung iSd Art 34 MRK, dass der Wegfall der Opfereigenschaft eine ausdrückliche und messbare Strafmilderung voraussetze, eine solche aber vorliegend nicht erfolgt sei, weil das Berufungsgericht die vom Erstgericht vorgenommene Strafreduktion für ausreichend angesehen habe, obwohl diese vor der in Rede stehenden Säumnis gewährt wurde, und damit „gerade nicht ausführt weil es auch logisch nicht möglich ist , in welchem konkreten Ausmaß die nach der Strafzumessung im Ersturteil erfolgte Verfahrensverzögerung gerade durch das zuvor erfolgte Urteil ausgeglichen wurde und dadurch die diese Verletzung ausgleichende Strafmilderung nicht konkret ausdrückt bzw damit messbar macht, ...“.
Rechtliche Beurteilung
Der Antrag ist zulässig, aber offenbar unbegründet.
Bei einem nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrags handelt es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf. Demgemäß gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 und 2 MRK sinngemäß auch für derartige Anträge. So kann der Oberste Gerichtshof unter anderem erst nach Rechtswegausschöpfung angerufen werden. Dem Erfordernis der Ausschöpfung des Rechtswegs wird entsprochen, wenn von allen effektiven Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht wurde (vertikale Erschöpfung) und die geltend gemachte Konventionsverletzung zumindest der Sache nach und in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften im Instanzenzug vorgebracht wurde (horizontale Erschöpfung; vgl Grabenwarter/Pabel Europäische Menschenrechtskonvention 5 § 13 Rz 34 ff; für viele: 12 Os 125/08m).
Diesem Erfordernis hat der Antragsteller im konkreten Fall entsprochen, indem er den nunmehr reklamierten Verstoß gegen Art 6 Abs 1 MRK nicht nur in seiner Berufung gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 11. November 2010, GZ 9 Hv 67/08m 118, vorbrachte (Geltendmachung mit Nichtigkeitsbeschwerde war ihm hier nicht möglich; vgl dazu 14 Os 187/10x), sondern schon zuvor (am 2. Februar 2011, ON 122) zur Vermeidung weiterer ungebührlicher Verzögerungen bei der Urteilsausfertigung einen Fristsetzungsantrag nach § 91 GOG einbrachte (RIS-Justiz RS0122737 [T7 und T18]). Dass er den Antrag (entsprechend einem unter der Bedingung der Zustellung einer Urteilsausfertigung bis „Ende Februar“ bereits mündlich erklärten Verzicht auf Vorlage an das Oberlandesgericht; vgl den AV vom 4. Februar 2011, ON 122 S 1) nicht aufrecht hielt, nachdem das Gericht die im Antrag genannte Verfahrenshandlung binnen vier Wochen nach dessen Einlangen (die Zustellung erfolgte wie bereits dargelegt am 28. Februar 2011) durchgeführt hatte, womit er nach § 91 Abs 2 GOG als zurückgezogen galt, ändert daran nichts. Eine regelmäßig zurückweisende (vgl RIS-Justiz RS0076084, RS0059274, RS0059297, RS0059307) Entscheidung des übergeordneten Gerichts über einen solcherart erfolgreichen Fristsetzungsantrag kann eine weitere Beschleunigung des Verfahrens nämlich nicht bewirken, womit dessen Aufrechterhaltung zur effektiven Verhütung einer unangemessenen langen Dauer des Verfahrens beziehungsweise zur Hintanhaltung ungebührlicher Verzögerungen nicht geeignet und damit zur Rechtswegausschöpfung nicht erforderlich ist.
Weil die Opfereigenschaft nach Art 34 MRK nur dann anzunehmen ist, wenn der Beschwerdeführer substantiiert und schlüssig vorträgt, in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt zu sein ( Grabenwarter/Pabel Europäische Menschenrechtskonvention 5 § 13 Rz 16), hat ein Erneuerungsantrag nach § 363a StPO aber auch deutlich und bestimmt darzulegen, worin eine (vom angerufenen Obersten Gerichtshof sodann selbst zu beurteilende) Grundrechtsverletzung iSd § 363a Abs 1 StPO zu erblicken sei (RIS Justiz RS0122737 [T17]). Dabei hat er sich mit der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung in allen relevanten Punkten auseinanderzusetzen (RIS Justiz RS0124359).
Diesen Anforderungen wird der Antrag des Karl K***** nicht gerecht, weil er sich mit der oben zitierten Behauptung unterlassener ausdrücklicher und messbarer Strafmilderung zum Ausgleich der Grundrechtsverletzung nicht an den Urteilserwägungen des Berufungsgerichts orientiert. In diesen wurde vielmehr das Vorliegen eines Verstoßes gegen Art 6 Abs 1 MRK angesichts sowohl der schon vom Erstgericht berücksichtigten, detailliert aufgezählten und als „durchaus erheblich“ angesehenen Verfahrensverzögerungen bis zur Urteilsverkündung als auch der danach eingetretenen Säumnis des erkennenden Gerichts bei der schriftlichen Urteilsausfertigung, die außerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist des § 270 Abs 1 StPO (nämlich nahezu dreieinhalb Monate nach Urteilsverkündung) erfolgte, nicht nur anerkannt, sondern der erlittenen Konventionsverletzung auch durch Berücksichtigung dieser überlangen Verfahrensdauer als Milderungsgrund iSd § 34 Abs 2 StGB begegnet und die daraus resultierende (dreimonatige) Reduktion der an sich als tatschuld- und täterpersönlichkeitsgerecht angesehenen Sanktion rechnerisch spezifiziert (US 4).
Mit dem Einwand, es sei „logisch nicht möglich“, die erst nach dem Urteilszeitpunkt zusätzlich eingetretene Verfahrensverzögerung durch eine Strafmilderung von drei Monaten auszugleichen, welche vom erkennenden Gericht schon angesichts der bis dahin als überlang angesehenen Verfahrensdauer gewährt worden war, verkennt der Antragsteller, dass die Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe (wie auch jene gegen die Schuld oder die privatrechtlichen Ansprüche) auf einen eigenständigen Ausspruch des Berufungsgerichts abzielt, der an die Stelle des bekämpften tritt, die Entscheidung des erkennenden Gerichts also ersetzt ( Ratz , WK-StPO Vor § 280 Rz 13, § 295 Rz 2). An die Strafzumessungserwägungen der angefochtenen Entscheidung ist das Oberlandesgericht naturgemäß nicht gebunden.
Zwar kann schon Untätigkeit des Gerichts in einem bestimmten Abschnitt des Verfahrens einen Verstoß gegen Art 6 Abs 1 MRK bewirken ( Grabenwarter/Pabel Europäische Menschenrechtskonvention 5 § 24 Rz 71). Tritt aber wie hier zu vom Erstgericht berücksichtigten Verfahrensverzögerungen nach dessen Entscheidung eine weitere hinzu, erfordert dies entgegen der offensichtlich vom Antragsteller vertretenen Meinung nicht zwingend eine weitere Strafreduktion (vgl auch EGMR 10. 11. 2005, Nr 65745/01, Dzelili gegen Deutschland, NL 2005, 279). Aus dem Verschlechterungsverbot, das bloß die hier nicht erfolgte Verhängung einer strengeren als der im ersten Urteil ausgesprochenen Strafe verbietet, wenn die Berufung lediglich zugunsten des Angeklagten ergriffen wurde (§ 295 Abs 2 StPO), resultiert eine derartige Verpflichtung des Berufungsgerichts ebenso wie bei Wegfall einer oder mehrerer strafbarer Handlungen oder verfehlter Inrechnungstellung von Erschwerungsgründen durch das Erstgericht ( Ratz , WK-StPO § 290 Rz 57) gleichfalls nicht.
Da somit die behauptete Grundrechtsverletzung anerkannt und ausdrücklich, messbar und im Licht der Judikatur des EGMR ausreichend ausgeglichen wurde, fehlt es dem Verurteilten an der fortdauernden Opfereigenschaft iSd Art 34 MRK (RIS Justiz RS0125374).
Der Erneuerungsantrag des Karl K***** war daher bereits bei nichtöffentlicher Beratung als offenbar unbegründet zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO).