14Os165/11p – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 24. Jänner 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Marek sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari in Gegenwart der Richteramtsanwärterin MMag. Linzner als Schriftführerin in der Strafsache gegen Samad A***** wegen des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Geschworenengericht vom 22. August 2011, GZ 610 Hv 1/11s-147, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.
Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde Samad A***** dreier Verbrechen des Mordes nach § 75 StGB (I und II), zu II/1 und 2 auch nach § 15 StGB schuldig erkannt.
Danach hat er am 22. Juli 2010 in Wien jeweils durch gezielte Schüsse mit einer Selbstladepistole der Type Tokarev Typ 57
(I) Baghaollah W***** durch die Abgabe dreier Schüsse in dessen Kopf, Hals und Brustkorb getötet, wobei der Genannte einen Einschuss in der rechten äußeren Augenwinkel-/Jochbogen-/Wangenregion mit Ausschussöffnung in der linken vorderen Scheitel-/Schläfenregion, der zu Beschädigungen des Gesichtsschädels, des rechten Auges, des linken Schläfen- und des Stirnbeins führte, einen Einschuss an der rechten Halsseite mit Ausschussöffnung in der linken Halsregion, der eine Zerreißung der rechten Halsschlagader und der rechten Halsvene sowie eine Beschädigung der Weichteile zwischen Rachen und Wirbelsäule zur Folge hatte, sowie einen Einschuss im oberen mittleren Brustbereich knapp unterhalb der Drosselgrube mit Ausschussöffnung im mittleren Rückenbereich rechts von der Wirbelsäule, der zu einer Beschädigung des Brustbeins und einer vollständigen Zerreißung der Körperhauptschlagader mit Beschädigung der Schlüsselbeinarterie und der 5. Rippe im Wirbelsäulenansatzbereich führte, erlitt und
(II) zu töten versucht, und zwar
1) Jamal P***** durch die Abgabe dreier Schüsse in dessen Brustkorb, den Rücken und die Schulter, wodurch der Genannte eine Durchschussverletzung am rechten Unterarm mit Muskelverletzung und Irritation der Mittelarmnerven mit einer kleinen knöchernen Absprengung im Bereich des rechten Ellenhakens, einen Weichteildurchschuss im rechten vorderen Brustkorbbereich, eine Schussverletzung im Bereich des rechten Schulterblatts mit Schulterblattbruch und Schussbeschädigung des linken Brustkorbs, des linken Zwerchfellschenkels und des linken Bauchraums sowie der linken Leistenregion in Verbindung mit einer Luft-Blut-Brustfüllung links und Blutung in die linke Lunge sowie einen Bruch des Dornfortsatzes des zweiten Brustwirbels, Brüchen der vierten bis sechsten Rippen links im hinteren, seitlichen Abschnitt und der neunten Rippe links im vorderen Abschnitt sowie eine Beschädigung der linken Dickdarmbiegung und eine Zweifachbeschädigung des linken Dünndarmabschnitts, sohin eine an sich schwere Körperverletzung, erlitt und
2) Asghar At***** durch die Abgabe zweier Schüsse in die rechte Schulterregion und in den rechten Kieferwinkelbereich sowie durch mehrere Schläge mit der Pistole gegen den Kopf, wodurch der Genannte eine Schussverletzung des rechten Trapez-/Kapuzenmuskels, eine Rissquetschwunde in der linken Scheitelregion, eine Schürfung in der rechten Wangenregion und eine Rissquetschwunde am linken Unterarm im körperfernen Abschnitt erlitt.
Rechtliche Beurteilung
Die dagegen aus den Gründen der Z 5, 6 und 8 des § 345 Abs 1 StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten verfehlt ihr Ziel.
Voraussetzung für die Stellung von Eventual- oder Zusatzfragen ist, dass in der Hauptverhandlung entsprechende Tatsachen vorgebracht worden sind (§§ 313 und 314 StPO). Darunter ist nichts anderes zu verstehen als das Vorkommen einer erheblichen Tatsache, einer solchen also, die, wäre sie im schöffengerichtlichen Verfahren vorgekommen, bei sonstiger Nichtigkeit aus § 281 Abs 1 Z 5 zweiter Fall StPO erörterungsbedürftig gewesen wäre. Demgemäß bedarf es zur prozessordnungskonformen Darstellung einer Rüge aus Z 6 des konkreten Hinweises auf derartige Tatsachen und zwar samt Angabe der Fundstelle in den Akten ( Ratz , WK-StPO § 345 Rz 23, 42 f; RIS-Justiz RS0117447, RS0100860, RS0119417).
Diesen Kriterien wird die Fragenrüge (nominell Z 5 und Z 6, der Sache nach nur Z 6; vgl Ratz , WK-StPO § 345 Rz 22), die das Unterbleiben von Eventualfragen (ersichtlich zu allen Hauptfragen) nach dem Verbrechen des Totschlags nach § 76 StGB und zu den Hauptfragen 2 und 3 von Zusatzfragen nach Rücktritt vom Versuch nach § 16 Abs 1 StGB kritisiert, nicht gerecht.
Indem sie nämlich auf einzelne Zeugenaussagen und die Verantwortung des Angeklagten verweist, nach denen der Schussabgabe finanzielle Differenzen (die Weigerung des Tatopfers Asghar At*****, dem Beschwerdeführer längst fällige Schulden zurückzubezahlen, wobei diesem der entsprechende Schuldschein zuvor von einem Unbekannten weggenommen worden war) vorangingen, weiters auf Basis eines in der Hauptverhandlung verlesenen Aussagen zur „Ausweglosigkeit des Angeklagten aufgrund seiner finanziellen Lage“ entgegen der Beschwerdebehauptung gar nicht enthaltenden Berichts des Bewährungshelfers (ON 117) Spekulationen zu seiner Gemütsverfassung unmittelbar vor und während der Taten anstellt und dabei zudem prozessordnungswidrig übergeht (vgl RIS-Justiz RS0120766), dass er einerseits jegliche Erinnerung an den Einsatz der Tatwaffe bestritt (ON 120 S 33) und andererseits behauptete, diese bloß zur Drohung gezogen zu haben, worauf sich unabsichtlich ein Schuss gelöst und er in weiterer Folge mehrfach „gezogen“ und „drauf gedrückt“ habe, „damit keine Schüsse mehr kommen“ (ON 146 S 75 ff), solcherart einen für das Verbrechen des Totschlags nach § 76 StGB tatbestandsessentiellen Tötungsvorsatz im gesamten Verfahren explizit in Abrede gestellt hat, spricht sie kein die begehrte Eventualfragestellung nach gesicherter allgemeiner Lebenserfahrung ernsthaft indizierendes Verfahrensergebnis (konkret: für das Vorliegen eines nicht nur heftigen, sondern auch allgemein begreiflichen tiefgreifenden Affekts zur Tatzeit; vgl dazu auch RIS-Justiz RS0092271, RS0092087, RS0092259, RS0099233) an. Gleiches gilt für die Bezugnahme auf einzelne isoliert aus dem Zusammenhang gerissen zitierte und durch eigenständige allgemeine Überlegungen zur Treffsicherheit eines „kaltblütigen Mörders“ im Vergleich zu einem in einer allgemein begreiflichen Gemütsbewegung handelnden Täters ergänzte Passagen aus den Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen Prim. Dr. S***** (wonach es keine Erklärung dafür gebe, dass ein psychisch gesunder Mensch wie der Angeklagte die Waffe gegen seine Freunde erhebe und abdrücke und eine Einschätzung des Vorfalls durch den Angeklagten als „bedauerlicher Unfall“ im Bereich des Möglichen liege) und des waffentechnischen Experten Dr. W***** (wonach das schlechte Trefferbild trotz geringer Schussdistanz auf eine Stresssituation des Angeklagten hindeute). Im Übrigen legte der Erstgenannte ausdrücklich dar, dass „die Anamnese nicht die typischen Merkmale eines Impulsdelikts aufweist“ und „das Delikt“ „aus psychiatrischer Sicht nicht die Merkmale eines klassischen Affekt- oder Impulsdelikts“ habe (ON 120 S 101).
Inwiefern die Aussage des Zeugen Jamal P*****, nach der der Angeklagte vor der Schussabgabe auf Asghar At***** gerufen habe: „Hurensohn, deinetwegen habe ich meinen besten Freund umgebracht! Jetzt machst du, was ich sage!“, das Vorliegen der Voraussetzungen des Verbrechens des Totschlags nach § 76 StGB und damit eine entsprechende Fragestellung indizieren sollte, bleibt völlig im Dunkeln.
Indem die Fragenrüge schließlich mit spekulativen Überlegungen zum Tathergang und der Behauptung, die nach dem Vorgesagten jeden Tötungs-(und Verletzungs )vorsatz leugnende Einlassung des Beschwerdeführers schließe einen freiwilligen Rücktritt von einer „allenfalls versuchten Tötungshandlung“ ein, eine entsprechende Fragestellung nach Rücktritt vom Versuch (§ 16 Abs 1 erster Fall StGB) zu den Hauptfragen 2 und 3 einfordert, unterlässt sie ein weiteres Mal die erforderliche Berufung auf konkrete, ein solches Tatsachenvorbringen enthaltende Verfahrensergebnisse, insbesondere mit Blick auf die hiefür nötige Freiwilligkeit (vgl erneut Ratz , WK-StPO § 345 Rz 43). Soweit sie unter Nennung der „ON 33, Seite 43“ behauptet, dass dem Angeklagten noch weitere 42 Schuss Munition „zur Verfügung standen“, findet dieses Vorbringen in dem an der bezeichneten Aktenstelle dokumentierten Bericht des Landeskriminalamts Wien über gesicherte Spuren keine Deckung.
Im Übrigen übergeht die Beschwerde in diesem Zusammenhang die ein Aufgeben der Tatausführung aus autonomen Motiven im Sinne einer inneren Umkehr gerade nicht indizierenden Beweisergebnisse, nach denen der Beschwerdeführer eigenen Angaben zufolge nicht in der Lage ist, das Magazin einer Schusswaffe zu „beladen“ (ON 146 S 87), dem Tatopfer Asghar At***** mit der Pistole gegen den Kopf schlug, als keine Patronen mehr im Abzug waren, und erst von den Opfern abließ und die Flucht ergriff, als die Sekretärin Jozefine N***** in das Besprechungszimmer kam (ON 120 S 81, ON 146 S 45 und 85).
Die Instruktionsrüge (Z 8) verkennt mit ihrer Kritik an der Unterlassung einer Belehrung der Geschworenen „über die Rechtsfigur des § 16 Abs 1 erster Fall StGB (strafaufhebender Rücktritt vom Versuch)“, dass die Rechtsbelehrung nur insofern angefochten werden kann, als sie Fragen betrifft, die den Geschworenen tatsächlich gestellt wurden (§ 321 Abs 2 StPO; Philipp , WK-StPO § 321 Rz 19; Ratz , WK-StPO § 345 Rz 63, jeweils mwN; RIS-Justiz RS0101085).
Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§§ 344, 285d Abs1 StPO). Daraus folgt die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung (§§ 344, 285i StPO).
Die Kostenersatzpflicht beruht auf § 390a Abs 1 StPO.