14Os160/10a – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 1. März 2011 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Marek sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Bergmann als Schriftführerin in der Auslieferungssache des Marek D*****, AZ 351 HR 63/10g (vormals AZ 354 HR 8/09i) des Landesgerichts für Strafsachen Wien (AZ 303 St 55/08v der Staatsanwaltschaft Wien), über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss dieses Gerichts vom 7. Juli 2009, GZ 354 HR 8/09i-16, und jenen des Oberlandesgerichts Wien vom 28. Juli 2010, AZ 22 Bs 153/10a, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Höpler, der betroffenen Person Marek D***** und ihres Verteidigers Dr. Schirnhofer zu Recht erkannt:
Spruch
In der Auslieferungssache des Marek D*****, AZ 351 HR 63/10g des Landesgerichts für Strafsachen Wien, verletzt der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 28. Juli 2010, AZ 22 Bs 153/10a, das Gesetz in § 77 Abs 4 EU JZG, BGBl I 2004/36 (Art 10 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 [BGBl 1969/320]).
Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde verworfen.
Text
Gründe:
Aufgrund des Europäischen Haftbefehls des Bezirksgerichts in K***** vom 4. Juli 2008, AZ III Kop 74/08 (EHB P 73/08), wonach der polnische Staatsangehörige Marek D***** im Verdacht stand, zwischen 13. und 14. Juli 1999 in G***** einen fremden Personenkraftwagen ohne Einwilligung der Berechtigten in Gebrauch genommen und mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz Gewahrsamsträgern eines im Haftbefehl genannten Unternehmens Konsum- und Industriewaren im Wert von etwa 950 Euro durch Einbruch weggenommen zu haben (ON 2, ON 10), leitete die Staatsanwaltschaft Wien am 2. November 2008 zu AZ 303 St 55/08v gegen den Genannten ein Verfahren zur Auslieferung an die polnischen Behörden zwecks Strafverfolgung ein (ON 1 S 1).
Mit unbekämpft in Rechtskraft erwachsenem Beschluss des Einzelrichters des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 7. Juli 2009, GZ 354 HR 8/09i-16, wurde die Auslieferung in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft Wien vom 5. Juni 2009 (ON 1 S 7) unter Berufung auf § 18 ARHG mit der Begründung für unzulässig erklärt, dass die erste Verfolgungshandlung gegen die betroffene Person nach dem Akteninhalt zu einem Zeitpunkt gesetzt wurde, als die § 136 Abs 1 und §§ 127, 129 Z 1 StGB zu subsumierenden Taten nach österreichischem Recht bereits verjährt waren und die polnischen Behörden eine Anfrage, ob innerhalb der Verjährungsfrist verjährungshemmende Maßnahmen (§ 58 Abs 3 Z 2 StGB) gesetzt wurden, unbeantwortet ließen.
Aufgrund der vom ersuchenden Staat in der Folge übermittelten Schreiben vom 24. April 2009 und 2. Dezember 2009 (ON 17 und 18), nach denen die zuständige Staatsanwaltschaft in Polen (auch nach § 58 Abs 3 Z 2 StGB verjährungshemmende) Fahndungsmaßnahmen gegen die betroffene Person bereits innerhalb der Verjährungsfrist ergriffen hatte (ON 18 S 9), beantragte die Staatsanwaltschaft am 25. Jänner 2010 die Wiederaufnahme des Auslieferungsverfahrens nach § 39 ARHG (ON 1 S 9), welchem Begehren die Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien mit Beschluss vom 9. März 2010, GZ 351 HR 63/10g-20, entsprach.
In Stattgebung einer dagegen erhobenen Beschwerde des Marek D***** (ON 22) hob das Oberlandesgericht Wien den angefochtenen Beschluss mit Entscheidung vom 28. Juli 2010, AZ 22 Bs 153/10a (ON 24), auf und bewilligte die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht. Zur Begründung führte das Beschwerdegericht aus, dass „auf Grund der Tatzeitpunkte der dem Europäischen Haftbefehl zu Grunde liegenden Taten gemäß § 77 Abs 4 EU-JZG nicht die Bestimmungen dieses Gesetzes, sondern die am 7. August 2002 in Geltung stehenden zwischenstaatlichen Vereinbarungen mit der Republik Polen, sohin die Bestimmungen des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957, BGBl 1969/320, ergänzt durch das Übereinkommen aufgrund von Art K.3 des Vertrags der Europäischen Union über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU-AuslÜbk) vom 27. September 1996, dessen vorläufige Anwendbarkeit Polen am 19. April 2006 erklärte, zur Anwendung“ kommen. Nach Art 8 EU-AuslÜbk dürfe die Auslieferung aber nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass die Strafverfolgung oder Strafvollstreckung nach den Rechtsvorschriften des ersuchten Mitgliedstaats verjährt sei, weshalb das Erstgericht die Auslieferung mit seinem Beschluss vom 7. Juli 2009 verfehlt für unzulässig erklärt habe. „Da die sich neu ergebenden Tatsachen somit auf eine im gegenständlichen Verfahren irrelevante Voraussetzung der Verjährungshemmung nach dem Recht des ersuchten Staates … beziehen“, sei der die Wiederaufnahme bewilligende Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien aufzuheben und die Wiederaufnahme zu versagen.
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, steht der zuletzt genannte Beschluss des Oberlandesgerichts Wien mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Zwar hat das Beschwerdegericht richtig erkannt, dass nach § 77 Abs 4 des Bundesgesetzes über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU-JZG), BGBl I 2004/36, dieses Bundesgesetz für die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle anderer Mitgliedstaaten dann nicht gilt, wenn die diesen Haftbefehlen zu Grunde liegenden Taten zumindest teilweise hier zur Gänze vor dem 7. August 2002 begangen worden sind und auf solche Europäischen Haftbefehle das ARHG in der im Zeitpunkt der Entscheidung geltenden Fassung und die zwischenstaatlichen Vereinbarungen anzuwenden sind, die am 7. August 2002 in Geltung standen.
Am genannten Stichtag aber war die zwischen Österreich und Polen gültige zwischenstaatliche Vereinbarung das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957, BGBl 1969/320, während das Übereinkommen aufgrund von Art K.3 des Vertrags über die Europäische Union über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, BGBl III 2001/143, im Verhältnis zwischen der Republik Österreich und der Republik Polen, die am 7. August 2002 noch gar nicht Mitgliedstaat der Europäischen Union war (siehe den erst am 16. April 2003 unterzeichneten Vertrag über den Beitritt [unter anderem] der Republik Polen zur Europäischen Union; BGBl III 2003/53, dem am 1. Mai 2004 die Aufnahme der neuen Staaten folgte), nicht in Geltung stand.
Nach Art 10 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens (wie auch nach der gleich lautenden Bestimmung des § 18 ARHG sowie nach Art 7 des vor dem genannten Übereinkommen gültigen Vertrags zwischen der Republik Österreich und der Volksrepublik Polen über die Auslieferung [BGBl 1980/146]) stellt die Verjährung der Strafverfolgung oder -vollstreckung nach dem Recht des ersuchten Staats ein Auslieferungshindernis dar. Demnach hat das Landesgericht für Strafsachen Wien die Auslieferung in seinem Beschluss vom 7. Juli 2009 (ON 16) auf Grundlage der ihm zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Unterlagen zu Recht für unzulässig erklärt. Die neu hervorgekommene Tatsache, dass die polnischen Behörden innerhalb der nach österreichischem Recht geltenden Verjährungsfristen verjährungshemmende Schritte iSd § 58 Abs 3 Z 2 StGB gesetzt hatten, war somit als Wiederaufnahmsgrund iSd § 39 ARHG relevant. Indem das Oberlandesgericht die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Verweigerung der Wiederaufnahme des Auslieferungsverfahrens auf Art 8 des Übereinkommens aufgrund von Art K.3 des Vertrags über die Europäische Union über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union stützte, hat es das Gesetz in § 77 Abs 4 des Bundesgesetzes über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU-JZG), BGBl I 2004/36, (Art 10 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957; BGBl 1969/320) verletzt.
Da die aufgezeigte Gesetzesverletzung nicht zum Nachteil der betroffenen Person wirkt, hat es mit deren Feststellung sein Bewenden.
Überdies erachtet die Generalprokuratur das Gesetz durch den Ausspruch der Anwendbarkeit des § 18 ARHG im Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 7. Juli 2009, GZ 354 HR 8/09i-16, in Art 10 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957, BGBl 1969/320, mit der Begründung verletzt, dass diese Bestimmung § 18 ARHG derogiere (§ 1 ARHG).
Ein Gesetzesverstoß liegt insoweit nicht vor.
Richtig ist, dass die Bestimmungen des ARHG nach dessen § 1 nur insoweit Anwendung finden, als in zwischenstaatlichen Vereinbarungen nichts anderes bestimmt ist (zum Verhältnis zwischen Gesetz und Vertrag bei fehlender oder zu unbestimmter Regelung und Ermessensbestimmungen im Vertrag vgl Martetschläger in WK² § 1 ARHG Rz 4 mwN; Schwaighofer , Auslieferung 41 ff; Linke , Grundriss 23 ff, Murschetz , Auslieferung und Europäischer Haftbefehl 11 ff).
Art 10 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957, BGBl 1969/320, sieht wie dargelegt vor, dass die Auslieferung nicht bewilligt wird, wenn nach den Rechtsvorschriften des ersuchenden oder des ersuchten Staats die Strafverfolgung oder Strafvollstreckung verjährt ist, und enthält damit gerade keine § 18 ARHG (wonach die Auslieferung unzulässig ist, wenn die Verfolgung oder die Vollstreckung nach dem Recht des ersuchenden Staats oder nach österreichischem Recht verjährt ist) widersprechende Regelung.
Das Landesgericht für Strafsachen Wien hat in dem von der Nichtigkeitsbeschwerde angefochtenen Beschluss die Auslieferung ausdrücklich aufgrund Vorliegens dieses nach beiden Regelung relevanten Auslieferungshindernisses nach der Aktenlage zutreffend für unzulässig erklärt. Dass es sich dabei auf § 18 ARHG und nicht auf Art 10 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 stützte, stellt damit entgegen der Ansicht der Generalprokuratur keine Verletzung von Art 10 der in Rede stehenden zwischenstaatlichen Vereinbarung dar.