12Os208/10w – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 25. Jänner 2011 durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden, den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Schroll und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger, Mag. Michel sowie Dr. Michel Kwapinski in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Fischer als Schriftführerin in der Strafsache gegen S***** wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 1 StGB über die von der Generalprokuratur gegen einen dem Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 8. September 2010, GZ 36 Hv 98/10a 19, vorangehenden Vorgang erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Holzleithner und des Verteidigers Dr. Burianek zu Recht erkannt:
Spruch
In der Strafsache gegen S*****, AZ 36 Hv 98/10a des Landesgerichts Wiener Neustadt, verletzt der Vorgang, dass das Landesgericht vor der Beschlussfassung gemäß § 494a Abs 1 Z 4 StPO keine Einsicht in die Akten über die im Verfahren AZ 25 Hv 10/09x des Landesgerichts Linz erfolgte Verurteilung oder zumindest in eine Abschrift dieses Urteils nahm, das Gesetz in § 494a Abs 3 StPO.
Der Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 8. September 2010, GZ 36 Hv 98/10a 19, wird im Umfang des Widerrufs der im Verfahren AZ 25 Hv 10/09x des Landesgerichts Linz gewährten bedingten Strafnachsicht aufgehoben. Vom Widerruf dieser bedingten Strafnachsicht wird abgesehen.
Gründe:
Rechtliche Beurteilung
Mit am 7. Juli 2009 in Rechtskraft erwachsenem Urteil des Landesgerichts Linz vom 19. März 2009, GZ 25 Hv 10/09x 40, wurde S***** des Verbrechens des Raubes nach § 142 Abs 1 StGB sowie weiterer strafbarer Handlungen schuldig erkannt und hiefür zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Gemäß § 43a Abs 3 StGB wurde der Vollzug eines Teils dieser Freiheitsstrafe im Ausmaß von 16 Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen.
Mit Beschluss des Landesgerichts Linz als Vollzugsgericht vom 21. Juli 2009, GZ 20 BE 418/09f 9, wurde der Verurteilte am 24. Juli 2009 aus dem unbedingten Teil dieser Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt entlassen.
Aufgrund weiterer Delinquenz (auch) in der Probezeit wurde S***** mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts Linz vom 21. Dezember 2009, GZ 22 Hv 69/09a 18, des Verbrechens des gewerbsmäßigen und durch Einbruch verübten Diebstahls nach §§ 127, 129 Z 1 und 3, 130 erster und vierter Fall, 15 Abs 1 StGB sowie weiterer strafbarer Handlungen schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt.
Gemäß § 494a Abs 1 Z 2, Abs 6 StPO fasste der Schöffensenat zugleich den Beschluss, vom Widerruf der bedingten Strafnachsichten zu AZ 25 Hv 10/09x des Landesgerichts Linz und AZ 14 U 86/08b des Bezirksgerichts Linz jeweils abzusehen und die Probezeiten jeweils auf fünf Jahre zu verlängern. Unter einem wurden gemäß § 494a Abs 1 Z 4 StPO dem Angeklagten die zu AZ 33 Hv 54/08z des Landesgerichts Linz gewährte bedingte Strafnachsicht sowie die zu AZ 20 BE 418/09f des Landesgerichts Linz gewährte bedingte Entlassung widerrufen.
Über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes erkannte der Oberste Gerichtshof am 12. August 2010, AZ 12 Os 112/10b, zu Recht, dass der Beschluss des Landesgerichts Linz vom 21. Dezember 2009, GZ 22 Hv 69/09a 18, § 53 Abs 1 zweiter Satz StGB verletzt, weil einerseits die vom Landesgericht Linz mit Beschluss vom 21. Juli 2009, AZ 20 BE 418/09f, gewährte bedingte Entlassung widerrufen, andererseits aber vom Widerruf des bedingt nachgesehenen Strafteils abgesehen wurde. Zugleich hob der Oberste Gerichtshof den Beschluss in seinem den Widerruf aussprechenden Teil auf und sah vom Widerruf der zu GZ 20 BE 418/09f 9 des Landesgerichts Linz gewährten bedingten Entlassung ab.
Zuletzt wurde S***** mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 8. September 2010, GZ 36 Hv 98/10a-19, des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt.
Mit einem gemäß § 494a Abs 4 StPO gemeinsam mit dem Urteil verkündeten, gleichfalls in Rechtskraft erwachsenen Beschluss (S 11 in ON 19 in AZ 36 Hv 98/10a des Landesgerichts Wiener Neustadt) widerrief das Landesgericht Wiener Neustadt gemäß § 494a Abs 1 Z 4 StPO die in den Verfahren AZ 14 U 86/08b des Bezirksgerichts Linz und AZ 25 Hv 10/09x des Landesgerichts Linz gewährten bedingten Strafnachsichten.
Eine Einsichtnahme in die Akten AZ 25 Hv 10/09x des Landesgerichts Linz deren Beischaffung im Zuge der Ausschreibung der Hauptverhandlung bloß verfügt (S 4 in ON 1: „Vorstrafakte ON 4 beischaffen“), nicht aber effektuiert worden war (der genannte Akt wurde laut VJ Register am 2. Juli 2010 der Generalprokuratur vorgelegt, langte danach erst wieder am 3. September 2010 beim Landesgericht Linz ein und wurde schließlich wieder im November 2010 der Generalprokuratur vorgelegt) oder zumindest in eine Abschrift des früheren, in dieser Strafsache ergangenen Urteils vor Beschlussfassung unterblieb. Im dem Einzelrichter des Landesgerichts Wiener Neustadt im Zeitpunkt der Beschlussfassung vom 8. September 2010 vorgelegenen Akt AZ 44 BE 360/10k des Landesgerichts Wiener Neustadt befand sich ebenfalls keine Ablichtung des Urteils des Landesgerichts Linz vom 19. März 2009, GZ 25 Hv 10/09x 40.
Der Vorgang, dass vor der Beschlussfassung gemäß § 494 Abs 1 Z 4 StPO keine Einsicht in die Akten über die im Verfahren AZ 25 Hv 10/09x des Landesgerichts Linz erfolgte Verurteilung oder zumindest in eine Abschrift dieses Urteils genommen wurde, verletzt wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt die ein solches Procedere unabdingbar anordnende Vorschrift des § 494a Abs 3 StPO.
Da nicht auszuschließen ist, dass sich diese Gesetzesverletzung zum Nachteil des Angeklagten auswirkte, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, den Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 8. September 2010 (ON 19, S 3 und 11) im Umfang des Widerrufs der im Verfahren AZ 25 Hv 10/09x des Landesgerichts Linz gewährten bedingten Strafnachsicht aufzuheben (§ 292 letzter Satz StPO).
Da gemäß § 53 Abs 1 zweiter Satz StGB die bedingte Nachsicht eines Teils der Freiheitsstrafe und die bedingte Entlassung aus dem nicht bedingt nachgesehenen Strafteil nur gemeinsam widerrufen werden können, war vom Widerruf der zu GZ 25 Hv 10/09x 40 des Landesgerichts Linz gewährten bedingten Strafnachsicht abzusehen.