14Os135/10z – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 16. November 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Mag. Hautz in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Koller als Schriftführer in der Strafsache gegen Aki R***** und andere Angeklagte wegen Verbrechen der Schlepperei nach § 114 Abs 1, Abs 3 Z 1 und Z 2, Abs 4 erster Fall FPG, AZ 37 Hv 36/10s des Landesgerichts Wiener Neustadt, über die von der Generalprokuratur gegen die Urteile dieses Gerichts als Schöffengericht vom 16. April 2010, GZ 37 Hv 36/10s-460, und vom 3. Mai 2010, GZ 37 Hv 36/10s-489a, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Dr. Sperker, sowie der Angeklagten Vehat L***** und der Verteidiger Mag. Reichenbach, Mag. Gallander, Dr. Kollmann, Dr. Wanek, Mag. Amann und Mag. Hajos zu Recht erkannt:
Spruch
Die Urteile des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 16. April 2010, GZ 37 Hv 36/10s-460, und vom 3. Mai 2010, GZ 37 Hv 36/10s-489a, verletzen in der Unterstellung der den Angeklagten Aki R*****, Botnor O*****, Adrienn-Maria C*****, Monika B*****, Kristina S*****, Blerim T***** jeweils in ON 460 sowie den Angeklagten Amir H*****, Orhan M***** und Vehat L***** jeweils in ON 489a angelasteten Tathandlungen unter § 114 FPG in der Fassung des Fremdenrechtsänderungsgesetzes 2009 (BGBl I 2009/122) § 125 Abs 12 FPG.
Zur Entscheidung über die Berufungen der Angeklagten Botnor O***** und Adrienn-Maria C***** sowie der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 16. April 2010, GZ 37 Hv 36/10s-460, werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.
Text
Gründe:
Mit Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 16. April 2010, GZ 37 Hv 36/10s-460, wurden neben dem hier nicht interessierenden Syle H***** Aki R*****, Botnor O*****, Adrienn-Maria C*****, Monika B***** und Blerim T***** jeweils mehrfacher Verbrechen der Schlepperei nach § 114 Abs 1, Abs 3 Z 1 und Z 2, Abs 4 erster Fall FPG und Kristina S***** mehrfacher Verbrechen der Schlepperei nach § 114 Abs 1, Abs 3 Z 2 und Abs 4 erster Fall FPG schuldig erkannt und teils zu unbedingten, teils zu nach § 43a Abs 3 StGB teilweise bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafen verurteilt. Mit gemeinsam mit dem Urteil gefasstem Beschluss wurde hinsichtlich Aki R***** gemäß § 494a Abs 1 Z 2 iVm Abs 6 StPO vom Widerruf der ihm mit Urteil des Landesgerichts Korneuburg vom 6. Februar 2008, AZ 513 Hv 41/07u, gewährten bedingten Strafnachsicht abgesehen und die Probezeit auf fünf Jahre verlängert.
Nach dem Inhalt des Schuldspruchs haben in Wien, Vösendorf und anderen Orten Österreichs die rechtswidrige Einreise und Durchreise Fremder in und durch einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union bzw Nachbarstaat Österreichs, und zwar insbesondere aus dem Kosovo über Serbien und Ungarn nach Österreich und von hier weiter in verschiedene Zielländer in Westeuropa, mit dem Vorsatz gefördert, sich oder Dritte durch ein dafür geleistetes Entgelt, und zwar Bargeld oder geldwerte Leistungen in einem bloßen Spesenersatz übersteigenden Ausmaß, unrechtmäßig zu bereichern, und zwar
(I) Aki R***** zwischen 1. Oktober 2008 und 28. September 2009 von deutlich mehr als 100 Personen in zumindest 39 Angriffen, indem er die Geschleppten von diversen Übergabeplätzen in Wien abholte, sie in „Bunkerwohnungen“ beherbergte und ihre Weiterschleppung in die jeweiligen Zielländer teils durchführte, teils organisierte, teils hiefür Fahrzeuge zur Verfügung stellte;
(II) Botnor O***** zwischen Anfang Mai 2009 und Ende September 2009 von deutlich mehr als 100 Personen in zumindest 45 Angriffen, indem er die Geschleppten von diversen Übergabeplätzen abholte, sie in „Bunkerwohnungen“ unterbrachte und den Weitertransport in die Zielländer teils selbst durchführte, teils organisierte sowie insbesondere Monika B***** hiefür anwarb;
(III) Adrienn-Maria C***** zwischen 1. Oktober 2008 und 28. September (richtig:) 200 9 von mehr als zehn Personen in zumindest zehn Angriffen, indem sie Chauffeurdienste leistete, ihr Western-Union-Konto dem Aki R***** für die Transferierung der Schleppungsentgelte zur Verfügung stellte und beim Anwerben ungarischer Fahrzeugschlepper als Dolmetscherin fungierte;
(IV) Monika B***** zwischen Juli 2009 und Ende September 2009 von mehr als zehn Personen in zumindest 19 Angriffen, indem sie Chauffeurdienste leistete;
(V) Kristina S***** zwischen Juni 2009 und Ende September 2009 von mehr als 50 Personen in zumindest 13 Angriffen, indem sie Botnor O***** bei der Abholung der illegal Geschleppten unterstützte, diese in der „Bunkerwohnung“ beaufsichtigte und betreute und ihr Western-Union-Konto dem Botnor O***** für die Transferierung von Schleppungsentgelten zur Verfügung stellte;
(VI) Blerim T***** von Juli 2009 bis August 2009 von einer die Zahl zehn mehrfach übersteigenden Anzahl von Personen in zumindest elf Angriffen durch Mithilfe bei der Abholung der illegal Geschleppten von den Übergabeplätzen und Verbringung in die „Bunkerwohnungen“, Betreuung und Beaufsichtigung der Geschleppten sowie Mithilfe bei ihrer Übergabe an Abholer und Weitertransporteure,
wobei sie die Taten in Bezug auf eine größere Zahl von Fremden sowie als Mitglied einer auch aus zahlreichen weiteren, abgesondert verfolgten Mittätern bestehenden, auf die gewinnbringende illegale Schleppung vorwiegend kosovarischer Staatsangehöriger spezialisierten kriminellen Vereinigung und mit Ausnahme von Kristina S***** zudem gewerbsmäßig (§ 70 StGB) begingen.
Dieses Urteil erwuchs hinsichtlich Monika B*****, Kristina S***** und Blerim T***** unangefochten in Rechtskraft, die Staatsanwaltschaft bekämpft die Strafaussprüche zum Nachteil der Angeklagten Aki R*****und Botnor O***** mit Berufung (ON 528), Botnor O***** und Adrienn-Maria C***** haben ebenfalls Berufungen gegen das Urteil erhoben (ON 543, 544). Über diese Rechtsmittel wurde bisher noch nicht entschieden.
Ebenfalls im Verfahren AZ 37 Hv 36/10s des Landesgerichts Wiener Neustadt wurden mit gekürzt ausgefertigtem Urteil dieses Gerichts als Schöffengericht vom 3. Mai 2010 (ON 489a) die Angeklagten Amir H*****, Orhan M***** und Vehat L***** soweit hier relevant - jeweils mehrfacher Verbrechen der Schlepperei nach § 114 Abs 1, Abs 3 Z 2, Abs 4 erster Fall FPG (A), die beiden Erstgenannten auch nach Abs 3 Z 1 leg cit, schuldig erkannt und hiefür Orhan M***** zu einer unbedingten, Amir H***** und Vehat L***** zu gemäß § 43 (richtig) a Abs 3 StGB teilweise bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafen verurteilt. Hinsichtlich Orhan M***** wurde mit gemeinsam mit dem Urteil gefasstem Beschluss gemäß § 494a Abs 1 Z 2 iVm Abs 6 StPO vom Widerruf der ihm mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 4. August 2009, AZ 123 Hv 17/09k, gewährten bedingten Strafnachsicht abgesehen und die Probezeit auf fünf Jahre verlängert.
Nach dem Inhalt des Schuldspruchs (A) haben diese Angeklagten soweit für das Nichtigkeitsbeschwerdeverfahren von Bedeutung in Wien, Vösendorf und anderen Orten Österreichs die rechtswidrige Einreise und Durchreise Fremder in und durch einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union bzw Nachbarstaat Österreichs, und zwar insbesondere aus dem Kosovo über Serbien und Ungarn nach Österreich und von hier weiter in verschiedene Zielländer in Westeuropa, mit dem Vorsatz gefördert, sich oder Dritte durch ein dafür geleistetes Entgelt, und zwar Bargeld oder geldwerte Leistungen in einem bloßen Spesenersatz übersteigenden Ausmaß, unrechtmäßig zu bereichern, und zwar
(I) Amir H***** zwischen August 2009 und September 2009 von einem Mehrfachen von zehn Personen in zumindest zehn Angriffen, indem er Botnor O***** bei der Abholung der Geschleppten und ihrer anschließenden Unterbringung in der „Bunkerwohnung“ unterstützte;
(II) Orhan M***** zwischen Ende Juli 2009 und Ende September 2009 von mehr als zehn Personen in zumindest sieben Angriffen durch Mithilfe bei Abholung und Verbringung der illegal Geschleppten in die „Bunkerwohnung“ sowie deren dortige Versorgung;
(III) Vehat L***** zwischen 22. Juli 2009 und 12. August 2009 von mehr als zehn Personen in zumindest drei Angriffen durch Unterstützung bei der Abholung der illegal Geschleppten und durch Chauffeurdienste,
wobei sie die Taten in Bezug auf eine größere Zahl von Fremden sowie als Mitglied einer auch aus zahlreichen weiteren, abgesondert verfolgten Mittätern bestehenden, auf die gewinnbringende illegale Schleppung vorwiegend kosovarischer Staatsangehöriger spezialisierten kriminellen Vereinigung, Amir H***** und Orhan M***** zudem gewerbsmäßig (§ 70 StGB) begingen.
Dieses Urteil und der betreffend Orhan M***** gemäß § 494a StPO gefasste Beschluss erwuchsen unangefochten in Rechtskraft.
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer gegen beide Urteile gerichteten Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, steht die Subsumtion der Tathandlungen unter § 114 FPG aus der Bezeichnung der zur Anwendung gebrachten Absätze und der Z 1 und Z 2 des Abs 3 zweifelsfrei erkennbar in der Fassung des Fremdenrechtsänderungsgesetzes 2009 (BGBl I 2009/122) mit dem Gesetz nicht im Einklang, weil § 125 Abs 12 FPG normiert, dass § 114 FPG in der (früheren) Fassung des BGBl I 2009/29 für strafbare Handlungen, die wie hier vor dem 1. Jänner 2010 begangen wurden, weiter gilt. Die Annahme der erst mit BGBl I 2009/122 eingeführten - Qualifikation der Begehung der Tat in Bezug auf eine größere Anzahl von Fremden nach § 114 Abs 3 Z 2 FPG (idgF) auf das hier zu beurteilende, vor Inkrafttreten dieser Bestimmung gesetzte Täterverhalten widerspricht zudem auch dem verfassungsgesetzlich vorgegebenen (Art 7 Abs 1 MRK) Rückwirkungsverbot des § 1 Abs 1 StGB.
Den Beschwerdeausführungen zuwider hat sich die Gesetzesverletzung nicht zum Nachteil der Verurteilten und Angeklagten ausgewirkt, sodass sich der Oberste Gerichtshof nicht veranlasst sah, der Entscheidung konkrete Wirkung (§ 292 letzter Satz StPO) zuzuerkennen.
Haben die aufgezeigten Subsumtionsfehler nämlich zufolge der zu Recht als verwirklicht erachteten Qualifikation der Tatbegehung als Mitglied einer kriminellen Vereinigung, die sowohl nach § 114 Abs 5 erster Fall FPG in der bis 31. Dezember 2009 geltenden, von BGBl I 2009/29 unverändert gebliebenen Fassung des BGBl I 2005/100, als auch nach § 114 Abs 4 erster Fall FPG in der neuen Fassung des BGBl I 2009/122 mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren bedroht ist, keine Änderung des zur Verfügung stehenden Strafrahmens bewirkt, wäre bei richtiger Subsumtion statt des aufgrund der verfehlten rechtlichen Beurteilung auch nach § 114 Abs 3 Z 2 FPG (idgF) angenommenen Erschwerungsgrundes des Vorliegens auch dieser Qualifikation (bei Aki R*****, Botnor O*****, Adrienn-Marie C*****, Monika B***** und Blerim T***** die „dreifache“ [US 21 f in ON 460], bei Kristina S***** und Vehat L***** die „zweifache“ [US 22 in ON 460 und US 8 in ON 489a] und bei Amir H***** und Orhan M***** die „mehrfache“ Qualifikation der Tat [US 3 f in ON 489a ]) der diesem gleichwertige Umstand der hohen Anzahl an geschleppten Personen als aggravierend zu werten gewesen.
Dieser Erschwerungsgrund wurde zwar bei den Angeklagten R***** und O*****, jedoch nur „im Rahmen des § 114 Abs 3 Z 2 FPG“, also insoweit in Anschlag gebracht, als ihnen die Schleppung einer weit höheren, als der die verfehlt angenommene Qualifikation begründenden Anzahl von Fremden angelastet wurde (nämlich deutlich mehr als 100 Personen, während die Qualifikation des § 114 Abs 3 Z 2 FPG idgF bereits bei ca 10 Personen erfüllt ist [ Tipold in WK² § 114 FPG Rz 18]).
Bei den (noch zu treffenden) Entscheidungen über die Berufungen der Angeklagten Botnor O***** und Adrienn-Maria C***** sowie der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 16. April 2010, GZ 37 Hv 36/10s-460, besteht hinsichtlich der verfehlten Subsumtion keine (den Angeklagten zum Nachteil gereichende) Bindung an den Ausspruch des Erstgerichts über das anzuwendende Strafgesetz nach § 295 Abs 1 erster Satz StPO (RIS-Justiz RS0118870, dort vor allem 12 Os 136/05z).