JudikaturOGH

11Os139/09i – OGH Entscheidung

Entscheidung
13. Oktober 2009

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 13. Oktober 2009 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. Schwab, Mag. Lendl und Dr. Bachner Foregger als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Annerl als Schriftführer, in der Strafsache gegen Ildiko S***** und andere Angeklagte wegen des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB und einer anderen strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerden und die Berufungen der Angeklagten Ildiko S***** und Jozsef H***** sowie über die Berufung des Laszlo T***** gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Schöffengericht vom 16. September 2008, GZ 41 Hv 39/08h 34, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerden sowie aus ihrem Anlass wird das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Wiener Neustadt verwiesen.

Mit ihren Berufungen werden die Angeklagten auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil, das auch in Rechtskraft erwachsene Schuldsprüche des Angeklagten Laszlo T***** enthält, wurden - in Abweichung von der ihnen das Verbrechen des gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 129 Z 1, 130 vierter Fall, 15 StGB anlastenden Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt - Laszlo T***** und Ildiko S***** jeweils der Vergehen der Sachbeschädigung nach § 125 StGB (I./1./ und II./2.) und der dauernden Sachentziehung nach § 135 Abs 1 StGB (II./1./), Jozsef H***** des Vergehens der Sachbeschädigung nach §§ 12 dritter Fall, 125 StGB (I./2./ und II./3./) schuldig erkannt.

Danach haben in Wiener Neustadt zum Nachteil der St***** El***** Se***** GmbH - zusammengefasst -

Laszlo T***** und Ildiko S***** im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter

in der Nacht von 2. auf 3. April 2007 und in jener von 5. auf 6. April 2007 fremde Sachen jeweils durch Aufzwicken eines Vorhängeschlosses beschädigt (I./1./ und II./2./);

zwischen 15. und 18. März 2007 diese dadurch geschädigt, dass sie eine fremde bewegliche Sache aus deren Gewahrsam dauernd entzogen, ohne die Sache sich oder einem Dritten zuzueignen, indem sie ein Vorhangschloss wegwarfen;

Jozsef H***** zu den unter I./1./ und II./2./ angeführten Taten beigetragen, indem er jeweils Aufpasserdienste leistete (I./2./ und II./3./).

Rechtliche Beurteilung

Gegen dieses Urteil richten sich die gemeinsam ausgeführten, auf § 281 Abs 1 Z 8, 9 lit a, 9 lit b und 10a StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerden der Angeklagten Ildiko S***** und Jozsef H*****.

Der auf Z 8 gestützten Rüge ist zunächst zu erwidern, dass die Schuldsprüche vom Anklagevorwurf umfasst sind. Ein Urteil überschreitet die Anklage nämlich dann nicht, wenn der Schuldspruch in dem im Anklagetenor und der Begründung der Anklageschrift geschilderten Lebenssachverhalt als historischem Geschehen (prozessualer Tatbegriff) Deckung findet ( Ratz , WK StPO § 281 Rz 512, 523; RIS Justiz RS0113142 ua). Dabei erfasst die unter Anklage gestellte Tat auch andere in den Rahmen des Gesamtverhaltens des Angeklagten fallende Handlungen, die auf denselben strafgesetzwidrigen Erfolg zielen (RIS Justiz RS0098537), nicht herangezogene Qualifikationen (RIS Justiz RS0098537) und die Wegnahme weiterer Sachen (RIS Justiz RS0118720), somit bloß zusätzliche, die „Tat" belastende Umstände, sodass es dementsprechend einer Anklageausdehnung nicht bedarf. Nur wenn die Beweisergebnisse ein Tatgeschehen an den Tag bringen, welches von dem unter Anklage stehenden derart verschieden ist, dass es nicht mehr als inkriminiert erkannt werden kann, wäre eine Verurteilung von einer Modifikation oder Ausdehnung der Anklage abhängig.

Vorliegend lautete der gegen die Angeklagten erhobene Vorwurf der Staatsanwaltschaft, zum Nachteil der St***** El***** Se***** GmbH fremde bewegliche Sachen durch Übersteigen eines Zauns von einem Lagerplatz weggenommen (und dies versucht) zu haben. Damit ist jeder sich aus den aufgenommenen Beweisen ergebende Vorgang zur Sacherlangung vom Ankläger inkriminiert, mag er sich auch anders abgespielt haben, als von der Staatsanwaltschaft ursprünglich angenommen. Stellt sich somit heraus, dass die (hier als wertlos erkannten) Gegenstände nicht durch Einsteigen in einen Lagerplatz, sondern durch Aufbrechen einer Sperrvorrichtung erlangt wurden oder werden sollten, ändert sich lediglich eine von der Staatsanwaltschaft herangezogene Qualifikation, nicht jedoch der historische Lebenssachverhalt. Auch das Hinzutreten weiterer weggenommener Sachen - wenn auch ohne Zueignungsvorsatz - findet im zur Last gelegten Lebenssachverhalt Deckung.

Zutreffend weist die Rüge nach § 281 Abs 1 Z 8 StPO jedoch auch auf einen Verstoß gegen § 262 StPO durch das Erstgericht hin.

Stets dann nämlich, wenn ungeachtet der Identität von Anklage und Urteilsfaktum im prozessualen Sinn der Angeklagte ohne eine dem Schutzzweck des § 262 StPO entsprechende Information einer gegenüber dem inkriminierten Sachverhalt anderen Tat (auch bloß) im materiellen Sinn schuldig erkannt wird, liegt entsprechende Nichtigkeit nach Z 8 vor. Ist das Tatbild (die äußere Tatseite) der dem Schuldspruch zugrunde liegenden Tat (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO) von jenem der Anklage (§ 211 Abs 1 Z 2 StPO) nämlich derart verschieden, dass sich die jeweils angenommenen Tatbilder nicht überdecken, besteht ohne weiteres das Erfordernis einer dem § 262 StPO entsprechenden Belehrung, ohne welche dem Grundrechtsgebot des Art 6 Abs 3 lit a oder b MRK nicht entsprochen wird (RIS Justiz RS0121419; Ratz , WK StPO § 281 Rz 545).

Den Angeklagten wurde im Gegenstand bloß der Tatmodus des Übersteigens des Zauns eines Lagerplatzes zur Erlangung von fremden beweglichen Sachen zur Last gelegt, nicht aber die Beschädigung von Vorhangschlössern (die Subsumtion des Wegwerfens eines Vorhangschlosses als das Vergehen der dauernden Sachentziehung nach § 135 Abs 1 StGB erfolgte rechtsirrig, weil den Feststellungen folgend, das Schloss vor dem Wegwerfen aufgebrochen, somit beschädigt worden ist [US 6, 9], daher im Zeitpunkt der Sachentziehung wertlos war; vgl Fabrizy , StGB9 § 135 Rz 2 und 3), sodass das Erstgericht die Beteiligten des Verfahrens über den geänderten rechtlichen Gesichtspunkt hätte hören müssen.

Dieser vom Angeklagten Laszlo T***** nicht geltend gemachte Nichtigkeitsgrund ist aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde der anderen Angeklagten von Amts wegen zu dessen Gunsten wahrzunehmen (§ 290 Abs 1 zweiter Satz zweiter Fall StPO).

Eines Eingehens auf die weiters erhobenen Rechts- und Diversionsrügen (§ 281 Abs 1 Z 9 lit a, 9 lit b und 10a StPO) bedarf es daher nicht, weswegen die Angeklagten Ildiko S***** und Jozsef H***** mit diesen, sämtliche Angeklagte auch mit ihren Berufungen auf die kassatorische Entscheidung zu verweisen waren.

Die - im Ergebnis mit der Stellungnahme der Generalprokuratur (§ 24 StPO) übereinstimmende - erforderliche Aufhebung der Schuldsprüche sowie das Erfordernis einer erneuten Verhandlung und Entscheidung (§ 285e erster Satz StPO) zeigte sich bereits bei nichtöffentlicher Beratung. Weil die dem Verfahren noch zugrunde liegenden Taten gemäß § 30 Abs 1 StPO in die sachliche Zuständigkeit der Bezirksgerichte fallen, war die Sache an das örtlich zuständige Bezirksgericht Wiener Neustadt zu verweisen (§ 288 Abs 2 Z 3 StPO; RIS Justiz RS0100271).

In Folge der Aufhebung des gesamten Schuldspruchs und damit auch des Kostenersatzausspruchs nach § 389 StPO fallen den Angeklagten auch keine Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last ( Lendl , WK StPO § 390a Rz 7 und 12).

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