JudikaturOGH

7Ob15/09w – OGH Entscheidung

Entscheidung
30. März 2009

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schaumüller, Dr. Hoch, Dr. Kalivoda und Dr. Roch als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen Jacqueline R*****l, geboren am 6. September 2001, und Beatrice R*****, geboren am 26. Juli 2005, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter Michaela R*****, vertreten durch Dr. Werner Posch, Rechtsanwalt in Gloggnitz, gegen den Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt als Rekursgericht vom 5. November 2008, GZ 16 R 383/08z-S26, den Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

Die nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffende Entscheidung, welchem Elternteil die Obsorge für das Kind übertragen werden soll, ist eine solche des Einzelfalls, wenn dabei auf das Kindeswohl ausreichend Bedacht genommen wird und die leitenden Grundsätze der Rechtsprechung nicht verletzt werden (RIS-Justiz RS0007101, RS0097114, RS0115719; 7 Ob 180/08h mwN). Eine Verletzung leitender Grundsätze der Rechtsprechung, insbesondere des Kindeswohls (§ 178a ABGB), wird im außerordentlichen Revisionsrekurs - zu Recht - nicht einmal behauptet und ist auch nicht zu erkennen:

Maßstab für den Inhalt einer Entscheidung nach § 177a ABGB ist allein, welcher Elternteil zur Übernahme der alleinigen Obsorge besser geeignet ist und welche Entscheidung dem Wohl des Kindes besser dient. Das Wohl des Kindes hat stets im Vordergrund zu stehen (RIS-Justiz RS0048969), wobei nicht nur von der momentanen Situation ausgegangen werden darf, sondern auch Zukunftsprognosen zu stellen sind (RIS-Justiz RS0048632). Unabhängig vom Wohl des Kindes hat kein Elternteil ein Vorrecht auf dessen Pflege und Erziehung (RIS-Justiz RS0047911). Bei der Entscheidung sind neben den materiellen Interessen an möglichst guter Verpflegung und guter Unterbringung des Kindes auch das Interesse an möglichst guter Erziehung, möglichst sorgfältiger Beaufsichtigung und an möglichst günstigen Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen seelischen und geistigen Entwicklung zu berücksichtigen (RIS-Justiz RS0047832; zu allem: 1 Ob 40/08i).

Das Erstgericht hat die familiäre Situation und das Verhalten der geschiedenen Ehegatten im Verhältnis zueinander und zu den gemeinsamen Töchtern sorgfältig erhoben und eingehend erläutert. Die Beurteilung, es sei durch die problematischen Männerbekanntschaften und die „vollständige" Überforderung der Mutter mit der Betreuung und Erziehung der Kinder bereits zu einer Gefährdung der Entwicklung der Minderjährigen gekommen (Jacqueline weist einen Entwicklungsrückstand auf, beide Kinder sind stark belastet und irritiert); der Vater biete hingegen eine stabilere Umgebung, weshalb die Übertragung der Obsorge auf ihn alleine dem Kindeswohl entspreche; folgt den dargelegten Grundsätzen. Sie steht in Einklang mit den Ergebnissen der Untersuchung durch die Psychologin (jugendpsychologischer Beratungsdienst), wonach die einzigen (gezeichneten) Figuren „ohne aggressive Besetzung" für die Minderjährige Jacqueline ihre kleine Schwester und der Vater seien (AS 79), der für die Betreuung der Kinder im Sinn einer stabilen Umgebung und der Wahrung der kindlichen Interessen „besser geeignet" erscheine (AS 71).

Die Auffassung der Vorinstanzen, dass ein Wechsel der Kinder in die Alleinobsorge des Vaters und somit ein Wohnsitzwechsel zur Wahrung des Kindeswohls erforderlich sei, ist aber auch aus folgenden Überlegungen nicht zu beanstanden:

Am 12. 12. 2008 wurden die Kinder aufgrund des weiteren Verhaltens der psychisch extrem belasteten, auf ihre eigenen Probleme fokussierten Mutter (noch vor Rechtskraft der Obsorgeentscheidung) vom Jugendwohlfahrtsträger (im Folgenden: JWT) nach § 215 Abs 1 ABGB (wegen Gefahr im Verzug) der Mutter abgenommen und dem Vater übergeben. Nach den Ausführungen des JWT vom 16. 12. 2008 musste diese Maßnahme durchgeführt werden, weil das Verhalten der Mutter gegenüber den Kindern - angesichts nachhaltiger Verletzungen des von Erziehungsberechtigten zu beachtenden Gewaltverbots - nicht mehr „abschätzbar" und ein weiterer Verbleib der Minderjährigen im Haushalt der Mutter nicht mehr zu rechtfertigen war. (Jacqueline habe erzählt, dass sie von ihrer Mutter mit einer Flasche, in der noch Flüssigkeit war, auf den Rücken geschlagen worden sei, während ihre Schwester - teilweise sprachlich unverständlich - über negative Erlebnisse mit dem Lebensgefährten der Mutter berichtete; eine Mitbewohnerin des Wohnhauses habe zum wiederholten Mal mitgeteilt, dass die Mutter hysterisch mit den Kindern schreie, wobei sich dies zuletzt derart verstärkt habe, dass die Mutter täglich und in noch höherer Frequenz die Kinder anbrülle und völlig „auszucke"; der Vater gab an, dass ihm seit der Entscheidung des Rekursgerichts die vereinbarten Besuchskontakte verwehrt würden, sodass er keine Möglichkeit mehr habe, allfällige Probleme - wie in den letzten Monaten - der Behörde zu melden.)

Die Revisionsrekurswerberin beruft sich demgegenüber auf einen schwerwiegenden Verfahrensfehler, den sie darin erblickt, dass das Rekursgericht ihre „Anfechtungsbehauptung AS 93" (sie sei seit Juli 2008 in ständiger psychologischer Betreuung) zu Unrecht nur als Tatsachenrüge behandelt und fälschlich als Beweisrüge erledigt, nicht jedoch als gemäß § 49 Abs 1 AußStrG zulässige Neuerung wahrgenommen habe, die wegen Fehlens der Dartuung einer entschuldbaren Fehlleistung gemäß § 49 Abs 2 AußStrG lediglich mit einem verbesserungsfähigen Inhaltsmangel behaftet gewesen sei. Diesen Ausführungen ist vorerst zu erwidern, dass das Rekursgericht auf das zitierte Vorbringen ohnehin eingegangen ist und zu Recht darauf verwiesen hat, im Rekurs werde nicht einmal behauptet, dass die Mutter ihre Probleme so weit „im Griff" habe, dass die weitere Gefährdung der Kinder ausgeschlossen werden könne: Wird doch im Rekurs auch vorgebracht, die Mutter beziehe (weiterhin) Krankengeld, weil sie aus psychischen Gründen nicht arbeitsfähig gewesen sei, hoffe aber, dass es ihr „bald" gesundheitlich so gut gehen werde, dass sie wieder arbeiten könne; sie sei „gerade dabei", selbst wieder „Boden unter den Füßen zu fassen" und fühle sich auch schon „wesentlich besser ..." (AS 93). Die Behauptung des Revisionsrekurses, dass sich „zufolge der seit Juli beanspruchten psych. Betreuung meine Persönlichkeit so gefestigt hat, dass von einer allenfalls früheren Beeinträchtigung des Kindeswohls keine Rede (mehr) sein kann", wurde im Rekurs gegen den Beschluss des Erstgerichts somit (noch) gar nicht aufgestellt.

Was das außerordentliche Rechtsmittel selbst betrifft, besteht im Revisionsrekursverfahren grundsätzlich Neuerungsverbot; neue Tatsachen können also nur zur Unterstützung der Revisionsrekursgründe vorgebracht werden (§ 66 Abs 2 AußStrG). Nach ständiger Rechtsprechung müssen jedoch sogar nach dem Zeitpunkt der Entscheidung erster Instanz (hier also nach August 2008) eingetretene, aktenkundige neue Entwicklungen berücksichtigt werden, sofern dies im Interesse der Kinder notwendig ist (RIS-Justiz RS0048056; RS0106313; 1 Ob 40/08a; 2 Ob 130/08v).

Solche neue aktenkundige Entwicklungen, die im Interesse der Kinder für eine Obsorge der Mutter sprächen, sind im vorliegenden Fall freilich nicht zu erkennen; durch die nach der Aktenlage ersichtliche aktuelle Situation, die im Dezember 2008 wegen Gefahr im Verzug zur bereits dargestellten Maßnahme des JWT gemäß § 215 ABGB führte, wird dem Standpunkt der Rechtsmittelwerberin vielmehr auch dann die Grundlage entzogen, wenn man ihr (einen früheren Zeitraum betreffendes) Rekursvorbringen als (zulässige) Neuerung berücksichtigt.

Zutreffend verwiesen hat die Rechtsmittelwerberin daher lediglich auf die Bestimmung des § 49 Abs 2 AußStrG. Danach können - entgegen der in § 49 Abs 1 AußStrG grundsätzlich vorgesehenen Neuerungserlaubnis im Rekursverfahren - zum Zeitpunkt des Beschlusses erster Instanz schon vorhandene Tatsachen und Beweismittel (hier: die angebliche psychiatrische Betreuung der Mutter seit Juli 2008) nicht berücksichtigt werden, wenn sie von der Partei schon vor der Erlassung des Beschlusses hätten vorgebracht werden können; es sei denn, die Partei kann dartun, dass es sich bei der Verspätung (Unterlassung) des Vorbringens um eine entschuldbare Fehlleistung

handelt. Ob diese vom Obersten Gerichtshof zuletzt (1 Ob 98/08f =

RIS-Justiz RS0006810 [T21] = RS0110733 [T6]) ausdrücklich

hervorgehobene Voraussetzung hier erfüllt ist, muss aber aus den bereits dargelegten Gründen nicht weiter geprüft werden. Eine erhebliche Frage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG liegt nicht vor.

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