JudikaturOGH

14Os21/07f – OGH Entscheidung

Entscheidung
12. Juni 2007

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 12. Juni 2007 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Holzweber als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Philipp und Hon. Prof. Dr. Kirchbacher und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofes Mag. Hetlinger und Mag. Fuchs als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Dr. Frizberg als Schriftführerin in der Strafsache gegen Erich S***** wegen Übernahme der Strafvollstreckung über die vom Generalprokurator gegen die Beschlüsse des Landesgerichtes Ried im Innkreis vom 7. Juli 2006, GZ 21 Hv 8/06a-4, und vom 6. November 2006, GZ 21 Hv 8/06a-23, sowie den Beschluss des Oberlandesgerichtes Linz als Beschwerdegericht vom 24. August 2006, AZ 9 Bs 250/06p (ON 10 des Hv-Aktes) erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Mag. Knibbe, zu Recht erkannt:

Spruch

Es verletzen das Gesetz

1. die Beschlüsse des Landesgerichtes Ried im Innkreis vom 7. Juli 2006, GZ 21 Hv 8/06a-4, und vom 6. November 2006, GZ 21 Hv 8/06a-23, sowie der Beschluss des Oberlandesgerichtes Linz als Beschwerdegericht vom 24. August 2006, AZ 9 Bs 250/06p (ON 10 des Hv-Aktes), durch die Anwendung der Rechtsvorschriften des Dritten Abschnittes des V. Hauptstückes des ARHG in den Bestimmungen des Ersten Abschnittes des III. Hauptstückes des EU-JZG iVm § 77 Abs 1

EU-JZG;

2. der genannte Beschluss des Oberlandesgerichtes Linz als Beschwerdegericht vom 24. August 2006, soweit damit der zuvor genannte Beschluss des Landesgerichtes Ried im Innkreis vom 7. Juli 2006 zur neuerlichen Entscheidung nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung in Anwesenheit des Verurteilten aufgehoben wurde, überdies in Art 6 Abs 1 MRK iVm § 44 Abs 1 EU-JZG (§ 67 Abs 1 ARHG).

Text

Gründe:

1. Mit (rechtskräftigem) Urteil des Landgerichtes Deggendorf vom 9. März 2006, AZ 1 KLs 4 Js 6656/05, wurde der österreichische Staatsbürger Erich S***** der versuchten sexuellen Nötigung und der versuchten Vergewaltigung gemäß §§ 177 I Nr. 2, 3, 11 Nr. 1, IV Nr. 1, V, 22, 23, 49 und 53 dStGB schuldig erkannt und zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt.

Das Bayerische Staatsministerium der Justiz ersuchte mit Note vom 2. Juni 2006 unter Bezugnahme auf das Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983 (BGBl Nr 524/1986; im Folgenden: Überstellungsübereinkommen) nach Einholung einer nach erteilter Rechtsbelehrung abgegebenen Zustimmungserklärung des Verurteilten um Übernahme der (weiteren) Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe in Österreich.

Das - im Hinblick auf den (letzten) Wohnsitz des Verurteilten gemäß §§ 44 Abs 1 EU-JZG, 26 Abs 1 ARHG zuständige - Landesgericht Ried im Innkreis entschied (in der in § 13 Abs 3 StPO bezeichneten Zusammensetzung) nach Anhörung der Staatsanwaltschaft mit Beschluss vom 7. Juli 2006, GZ 21 Hv 8/06a-4, dass die Vollstreckung der mit dem Urteil des Landgerichtes Deggendorf verhängten Freiheitsstrafe übernommen und - unter Vorhaftanrechung (§§ 38 und 66 StGB) - im Anpassungsverfahren „gemäß §§ 65 Abs 1 und 67 Abs 1 ARHG" die Freiheitsstrafe mit vier Jahren festgesetzt werde.

Gegen diesen Beschluss erhob der Verurteilte Beschwerde, mit der er sich - soweit vorliegend von Bedeutung - gegen die Nichteinräumung einer Möglichkeit zur Stellungnahme vor Beschlussfassung wandte. Das Oberlandesgericht Linz als Beschwerdegericht gab mit Beschluss vom 24. August 2006, AZ 9 Bs 250/06p (ON 10 des Hv-Aktes), der Beschwerde Folge, hob den angefochtenen Beschluss in der Festsetzung der Freiheitsstrafe samt Vorhaftanrechnung auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung in Anwesenheit des Verurteilten auf. Zur Begründung führte es - zusammengefasst wiedergegeben - aus, dass in dem vorliegend nach den Bestimmungen des Art 11 des Überstellungsübereinkommens sowie der §§ 65 ff ARHG durchzuführenden Exequaturverfahren auf der Grundlage einer Bindung an den im ausländischen Urteil enthaltenen Schuldspruch auf die darin verhängte Sanktion „bloß" Bedacht zu nehmen, daher eine (neue) Beurteilung der Persönlichkeit und des Charakters des Verurteilten sowie der Tatmotive auf Grund eines persönlichen Eindruckes von demselben durch das Gericht vorzunehmen sei, sodass gegebenenfalls über die im ausländischen Urteil festgestellten Strafzumessungsgründe hinaus nach Anhörung des Verurteilten weitere dessen Person betreffende Strafzumessungstatsachen festzustellen wären. Wie auch im vergleichbaren Fall der Entscheidung eines Rechtsmittelgerichtes über den Strafausspruch sei solcherart im Anpassungsverfahren die (in § 67 Abs 1 ARHG weder vorgesehene noch ausgeschlossene) Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung in Anwesenheit des Verurteilten durch Art 6 Abs 1 MRK geboten.

Mit (unbekämpft gebliebenem) Beschluss vom 6. November 2006, GZ 21 Hv 8/06a-23, entschied das Landesgericht Ried im Innkreis (in der in § 13 Abs 3 StPO genannten Zusammensetzung) nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung in Anwesenheit des Verurteilten (ON 25) neuerlich, dass (unter Vorhaftanrechnung) die Freiheitsstrafe im Anpassungsverfahren „wegen §§ 64 ff ARHG" mit vier Jahren festgesetzt werde.

Rechtliche Beurteilung

2. Die Beschlüsse des Landesgerichtes Ried im Innkreis sowie der Beschluss des Oberlandesgerichtes Linz als Beschwerdegericht stehen, wie der Generalprokuratur in seiner deswegen erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, in nachstehend angeführter Hinsicht mit dem Gesetz nicht im Einklang:

a) Die Vollstreckung ausländischer Freiheitsstrafen (und vorbeugender Maßnahmen) im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist im Ersten Abschnitt des III. Hauptstückes (§§ 39 bis 44) des EU-JZG (BGBl I Nr 36/2004) geregelt, das (insoweit) mit 1. Mai 2004 in Kraft getreten ist (§§ 1 Abs 1 Z 1, 77 Abs 1 EU-JZG). Die Anwendung der - durch dieses sowohl spätere als auch in dem in Rede stehenden Regelungsbereich speziellere Gesetz somit vorliegend verdrängten (F. Bydlinski, Methodenlehre², 465, 572) - Bestimmungen des Dritten Abschnittes des V. Hauptstückes des ARHG über die Vollstreckung ausländischer strafgerichtlicher Entscheidungen (§§ 64 bis 67) durch das Landesgericht Ried im Innkreis und das Oberlandesgericht Linz war daher zwar rechtlich verfehlt, für den Verurteilten im Hinblick auf den (grundlegend) übereinstimmenden Regelungsinhalt der bezughabenden Rechtsvorschriften (§§ 39 Abs 2, 40 Abs 1, 42 und 44 EUJZG; §§ 64, 65 und 67 ARHG) aber nicht von Nachteil.

b) Auch nach der Rechtsprechung der Straßburger Instanzen gelten die Verfahrensgarantien des Art 6 Abs 1 MRK für das Verfahren bis zur Rechtskraft der Entscheidung über die Stichhaltigkeit der strafrechtlichen Anklage (Frowein/Peukert EMRK² Art 6 Rz 49; Karl, IntKomm EMRK [Vogler] Art 6 Rz 256; Villiger EMRK² § 18 Rz 403). Ein ebensolches rechtskräftiges (verurteilendes) Erkenntnis ist regelmäßig Zulässigkeitsvoraussetzung des Rechtsinstitutes der Übernahme der Strafvollstreckung (Art 3 Abs 1 lit b des Überstellungsübereinkommens; § 39 Abs 2 EU-JZG; § 64 Abs 1 ARHG). Der Zweck des im Zuge der Vollstreckungsübernahme vorgesehenen (Art 9 Abs 1 lit b und Art 11 des Überstellungsübereinkommens; §§ 42, 44 EU-JZG; §§ 65, 67 ARHG) Exequaturverfahrens ist darin gelegen, die Vollstreckung ausländischer strafgerichtlicher Entscheidungen im Inland auch bei jeweils unterschiedlichen Strafen(systemen) durch eine allenfalls erforderliche Anpassung an das österreichische Sanktionensystem und die inländischen Strafbemessungsgrundsätze zu ermöglichen (SSt 56/96; Linke/Epp/Dokoupil/Felsenstein, Internationales Strafrecht 83). In dem in Rede stehenden Verfahren soll somit bloß die im Ausland verhängte Sanktion in der an das inländische Recht angepassten Form für vollstreckbar erklärt werden (Werkusch, Die Vollstreckung ausländischer Straferkenntnisse [2001], 132). Solcherart ist die in Österreich zu vollstreckende Strafe unter weitestgehender (vgl dazu Art 2 Abs 1 des Überstellungsübereinkommens) Bedachtnahme auf die im Urteilsstaat verhängte Sanktion zu bestimmen (§ 42 Abs 2 EU-JZG; § 65 Abs 1 ARHG); dies unter - eigenständige zusätzliche Konstatierungen des österreichischen Gerichtes zu Strafzumessungstatsachen ausschließender (Werkusch, aaO, 140; aM mit Beziehung auf das ARHG Schwaighofer, Auslieferung und Internationales Strafrecht [1988],

221) - Bindung an die Sachverhaltsfeststellungen im Erkenntnis des Urteilsstaates (Art 11 Abs 1 lit a des Überstellungsübereinkommens; § 42 Abs 1 EU-JZG) sowie unter Berücksichtigung des Schlechterstellungsverbotes (Art 11 Abs 1 lit d des Überstellungsübereinkommens; § 42 Abs 3 EU-JZG; § 65 Abs 2 ARHG). Daraus ergibt sich somit insgesamt, dass im Exequaturverfahren eine autonome Strafbemessung nach österreichischem Recht nicht stattzufinden hat (EBRV zum EU-JZG, 370 BlgNR 22. GP, 18). Aus dem Gegenstand und dem Wesen des Exequaturverfahrens folgt, dass damit nicht (neuerlich) über die Stichhaltigkeit der strafrechtlichen Anklage entschieden wird. Das Exequaturverfahren fällt daher nicht in den Anwendungsbereich des Art 6 Abs 1 MRK (Werkusch aaO, 112 f, 123; Karl, IntKomm EMRK [Vogler] Art 6 Rz 255 f). Der Vollständigkeit halber sei festgehalten, dass die Einhaltung der durch Art 6 MRK gewährleisteten Verfahrensgarantien durch den Urteilsstaat regelmäßig Zulässigkeitsvoraussetzung der Vollstreckungsübernahme ist (§ 39 Abs 2 Z 1 EU-JZG; § 64 Abs 1 Z 1 ARHG). Dem rechtlichen Gehör des Verurteilten wird überdies durch das - grundsätzliche - Erfordernis der (hier vorgelegenen) Zustimmung desselben zur Vollstreckungsübernahme (§ 40 Abs 1 EU-JZG; Art 3 Abs 1 lit d des Überstellungsübereinkommens; § 64 Abs 2 ARHG) Rechnung getragen.

c) Die in den entsprechenden, hier anzuwendenden Verfahrensbestimmungen des Art 11 Abs 1 des Überstellungsübereinkommens und des § 44 Abs 1 EU-JZG (und darüber hinaus auch des § 67 Abs 1 ARHG) nicht angeordnete Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung in Anwesenheit des Verurteilten vor Fällung der Anpassungsentscheidung ist mithin, entgegen der für den Verurteilten nicht nachteiligen gegenteiligen Rechtsansicht, die das Oberlandesgericht Linz in seiner (kassatorischen) Rechtsmittelentscheidung vertrat, auch durch Art 6 Abs 1 MRK nicht geboten.

Weil die Gesetzesverletzung für den Verurteilten keinen Nachteil bedeutete, hatte ihre Feststellung ohne konkrete Wirkung zu bleiben.

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