JudikaturOGH

10ObS54/03v – OGH Entscheidung

Entscheidung
18. Februar 2003

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter KommRat Mag. Paul Kunsky (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Georg Eberl (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj. Lisa G*****, geboren am 21. Juni 1998, *****, vertreten durch die Mutter Waltraud G*****, ebendort, diese vertreten durch Prof. Dr. Kurt Dellisch, Rechtsanwalt in Klagenfurt, gegen die beklagte Partei Land Kärnten, vertreten durch das Amt der Kärntner Landesregierung, Arnulfplatz 2, 9021 Klagenfurt, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 14. November 2002, GZ 7 Rs 270/02h-14, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgericht vom 2. Mai 2002, GZ 34 Cgs 18/02x-8, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Bei der am 21. 6. 1998 geborenen Klägerin ist es aufgrund einer angeborenen Fehlbildung des Gehirns zu erheblichen Entwicklungsrückständen gekommen. Dies betrifft einerseits die motorische Entwicklung, die es dem Mädchen nicht möglich macht, eine entsprechende Rumpfkontrolle aufzubauen. Der Bewegungsablauf der Muskulatur wirkt hypoton und auch etwas hypokinetisch. Eindeutige Spastizitätszeichen finden sich nicht. Die beobachtbaren Bewegungen sind ungerichtet und motorisch schwach wirkend.

In der psychischen Entwicklung ist die Klägerin ebenfalls hochgradig retardiert. Es ist bisher keinerlei Sprachentwicklung gegeben. Die Kontaktfähigkeit ist nicht altersgemäß, dh das Kind reagiert zwar durch Emotionen wie Zeigen von Freude und Angst; eine differenzierte Ausdrucksform liegt aber nicht vor. Das Kind kann in keiner Weise irgendwelche Bedürfnisse mitteilen. Auch selbständige Lageänderungen kann es nicht durchführen.

Die Klägerin kann sich nicht selbständig an- und auskleiden. Im Vergleich zu (gesunden) Kindern gleichen Alters ist eine erhebliche Erschwernis dieser meist auch bei Kleinkindern noch durchzuführenden Tätigkeiten in der Form gegeben, dass die Klägerin nicht "mithelfen" kann. Außerdem ist das An- und Auskleiden aufgrund der muskulären Tonuslage erschwert handhabbar, sodass der Aufwand gegenüber Kindern gleichen Alters um etwa 25 % erhöht ist.

Dies gilt auch für die tägliche Körperpflege.

Die Klägerin kann nicht selbständig Medikamente oder Nahrung zu sich nehmen. Bei der Nahrungsaufnahme ist zu berücksichtigen, dass es bei breiiger Nahrung, die dem Kind verabreicht werden kann, zu verlängerten Fütterungsphasen kommt, da die Klägerin keinen Schluckreflex hat, sodass das Verabreichen der Mahlzeiten um zumindest 50 % aufwändiger ist als bei Gleichaltrigen oder pflegebedürftigen Erwachsenen.

Es ist eine Reinigung wie bei Inkontinenz nötig. Es sind zwar nicht Einläufe erforderlich; allerdings ist aufgrund der hypotonen Muskelsituation davon auszugehen, dass es zu erschwerter Möglichkeit des Stuhlabgangs kommt und entsprechende Techniken oder Ernährungen angewandt werden müssen.

Die Klägerin benötigt Mobilitätshilfe im engeren und im weiteren Sinn.

Das Land Kärnten hat der Klägerin mit Bescheid vom 28. 6. 2001 ab 1. 7. 2001 Pflegegeld der Stufe 2 zuerkannt.

Mit Bescheid vom 6. 11. 2001 wies die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 8. 10. 2001 auf Erhöhung des gewährten Pflegegelds ab. Das Erstgericht sprach der Klägerin Pflegegeld der Stufe 3 zu und wies das auf Zuspruch von Pflegegeld der Stufe 6 ab 1. 11. 2001 gerichtete Mehrbegehren ab. Bei einem Vergleich des Pflegebedarfs der Klägerin mit jenem gesunder gleichaltriger Kinder bestehe entsprechend der Einstufungsverordnung zum Kärntner Pflegegeldgesetz folgender Pflegebedarf der Klägerin:

Mehraufwand beim An- und Auskleiden 5 Stunden/Monat

Mehraufwand bei der tgl Körperpflege 6 Stunden/Monat

Reinigung bei Inkontinenz 20 Stunden/Monat

Verrichtung der Notdurft 30 Stunden/Monat

Einnehmen von Mahlzeiten 45 Stunden/Monat

Einnehmen von Medikamenten 5 Stunden/Monat

Mobilitätshilfe im engeren und im

weiteren Sinn 25 Stunden/Monat

136 Stunden/Monat

Dieser Pflegebedarf rechtfertige eine Einstufung in die

Pflegegeldstufe 3. Die Frage der dauernden Beaufsichtigung, der der

dauernden Bereitschaft bzw des Erfordernisses zeitlich

unkoordinierter Betreuungsmaßnahmen sei nicht relevant, da eine

Einstufung in die Pflegegeldstufe 5 oder 6 einen Pflegebedarf von

durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich erfordere, der bei

der Klägerin nicht vorliege.

Das Berufungsgericht gab der auf Zuspruch von Pflegegeld der Stufe 6, allenfalls der Stufe 5 gerichteten Berufung der Klägerin nicht Folge. Die Klägerin erfülle die für die Gewährung von Pflegegeld der Stufen 6 oder 5 in § 4 Abs 2 KrntPGG (ebenso in § 4 Abs 2 BPGG) aufgestellte Grundvoraussetzung eines monatlichen Pflegebedarfs von durchschnittlich mehr als 180 Stunden nicht. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese Grundvoraussetzung in die Richtung, dass Pflegegeldwerber mit niedrigerem Pflegebedarf und insbesondere Kinder, die die Bereitschaft oder dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson benötigten, würden nicht geteilt. Der in Art 7 B-VG verankerte Gleichheitsgrundsatz verpflichte den Gesetzgeber nur, an gleiche Tatbestände gleiche Rechtsfolgen zu knüpfen. Sachlich gerechtfertigte Differenzierungen stünden mit dem Gleichheitsgrundsatz nicht in Widerspruch. Die höhere Intensität des Grundpflegebedarfs sei ein Tatbestandsunterschied, der eine abweichende Regelung zulässig mache. Es liege im rechtspolitischen Gestaltungsbereich des Gesetzgebers, dass Pflegegeldwerber, deren Grundpflegebedarf unter mehr als 180 Stunden monatlich liege, höhere Pflegegeldstufen nicht erreichen könnten, auch wenn sie die weiteren Voraussetzungen für die Gewährung dieser Pflegegeldstufen erfüllten. Dass insbesondere kleine Kinder höhere Pflegegeldstufen deswegen nur schwer erreichen könnten, weil nach § 4 KrntPGG der natürliche Pflegegeldbedarf, den auch gleichaltrige gesunde Kinder hätten, auszuscheiden sei, vermöge daran nichts zu ändern.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im klagsstattgebenden Sinn. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts ist zutreffend (§ 510 Abs 3 Satz 2 ZPO).

Die Revisionswerberin meint, es widerspreche dem Gleichheitsgrundsatz, insbesondere bei Kindern neben den Voraussetzungen eines außergewöhnlichen Pflegebedarfs auch noch als weitere Voraussetzung das Überschreiten der 180-Stunden-Grenze nach der Einstufungsverordnung zu fordern. Die Unsachlichkeit liege einerseits darin, dass gerade wegen der Berücksichtigung nur des Mehraufwandes für behinderte gleichaltrige Kinder die 180-Stunden-Grenze, wenn überhaupt, nur in den allerseltensten Ausnahmefällen überschritten werden könne, und andererseits darin, dass - wenn einmal ein außergewöhnlicher Pflegebedarf vorliege - dieser ohne Berücksichtigung eines Pflegebedarfs nach der Einstufungsverordnung gegeben sei. Sei die ständige Bereitschaft von Pflegepersonen erforderlich, dann sei dies eben ein an sich im Pflegegeldgesetz festgelegter Zustand, der aber für sich allein ausreichend sein müsse und nicht durch eine "Sperrklausel" von 180 Pflegestunden verhindert werden dürfe. Würde man der Klägerin nur die Pflegeleistungen zukommen lassen, die den 136 errechneten Pflegestunden nach der Einstufungsverordnung entsprächen, sie aber sonst unbeaufsichtigt lassen, würde sie zumindest verwahrlosen. Wenn ein Erwachsener in der gleichen Situation wäre, würde aber bei den festgestellten Pflegebedürfnissen nach der Einstufungsverordnung die 180-Stunden-Grenze überschritten werden. Dies sei eine unsachliche Gleichstellung von Kindern mit Erwachsenen.

Der Oberste Gerichtshof hat bereits mehrfach ausgesprochen, dass das Pflegegeld den Zweck hat, in Form eines Beitrags pflegebedingte Mehraufwendungen pauschaliert abzugelten. Da Kinder Hilfe und Betreuung im Sinne der Pflegegeldgesetze auch ohne Zusammenhang mit einer Behinderung benötigen, ist bei der Beurteilung des Pflegebedarfs bei Kindern nur jenes Maß an Betreuung und Hilfe zu berücksichtigen, das über das altersmäßig erforderliche Ausmaß hinausgeht (§ 4 Abs 3 KrntPGG; RIS-Justiz RS0106555 [T14]). Damit wird naturgemäß - soweit nicht in dem besonderen Ausnahmefall bei taubblinden Personen eine diagnosebezogene Einstufung nach § 4a Abs 6 KrntPGG zu einer höheren Einstufung führt - der Zugang von Kindern zu den Pflegegeldstufen 5 - 7 eingeschränkt, weil sie den dafür erforderlichen Pflegebedarf von 180 Stunden schwer erreichen. Dies ist jedoch Folge des Umstands, dass das Pflegegeld nur einen pauschalierten Beitrag zu pflegebedingten Mehraufwendungen leisten soll. Das Ausmaß des Betreuungs- und Hilfsbedarfs bei einem völlig gesunden Kleinkind entspräche letztlich den für die Stufen 5 und 6 aufgestellten Voraussetzungen (Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich [1994] 172). Dieser Personenkreis sollte aber gerade nicht von den Pflegegeldgesetzen erfasst werden, auch wenn Kleinkinder für den Fall des Fehlens der dauernden Bereitschaft oder Anwesenheit einer Pflegeperson der Verwahrlosung ausgesetzt wären.

Auch daraus ist abzuleiten, dass der Gesetzgeber hinsichtlich der

Pflegegeldvoraussetzungen bei den Stufen 5 - 7 nicht zwischen

Erwachsenen und Kindern differenzieren will, weil bei beiden Gruppen

letztlich der pflegebedingte Mehraufwand gegenüber vergleichbaren

gesunden Personengruppen maßgebend ist. Soweit auch ein gesundes Kind

der dauernden Anwesenheit einer Pflegeperson bedarf wäre das

entsprechende Erfordernis bei einem behinderten Kind nicht als

plegegeldrelevanter Mehraufwand anzusehen.

In diesem Sinn vermag der Oberste Gerichtshof in der Regelung des

Kärntner Landespflegegeldgesetzes keine Sachwidrigkeit zu erkennen,

die eine Verfassungswidrigkeit wegen Verletzung des Gleichheitssatzes

nach sich zöge, zumal nicht jede subjektiv als ungerecht empfundene

einfachgesetzliche Regelung den Gleichheitssatz verletzt. Wie bei

Erwachsenen (dazu RS0107439 [T1]; SSV-NF 10/135; SSV-NF 14/72 ua) ist

daher auch bei Kindern Grundvoraussetzung für den Zugang zu den

Pflegegeldstufen 5 - 7, dass zusätzlich zu dem bei den Stufen 5 - 7

angeführten qualifizierten Pflegeaufwand ein Pflegebedarf von mehr

als 180 Stunden monatlich gegeben ist (10 ObS 404/98d = ARD

5042/36/99; zuletzt 10 ObS 309/02t = RIS-Justiz RS0109571 [T8]).

Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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