12Os85/02 – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 12. September 2002 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Rzeszut als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schindler und Dr. Adamovic als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Traar als Schriftführer, in der Strafsache gegen (ua) Ursula G***** wegen des Verbrechens des teils vollendeten, teils versuchten schweren gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 130 erster Fall und 15 StGB sowie weiterer strafbarer Handlungen, AZ 27 Hv 65/02i des Landesgerichtes Linz, über die Grundrechtsbeschwerde der Angeklagten Ursula G***** gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Linz als Beschwerdegericht vom 11. Juli 2002, AZ 8 Bs 219/02 (GZ 27 Hv 65/02i-78), nach Anhörung des Generalprokurators in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Ursula G***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Beschluss gab das Oberlandesgericht Linz der Beschwerde der (nach ihrer Festnahme am 8. Dezember 2001) seit 10. Dezember 2001 (mit der Unterbrechung des Vollzuges einer einmonatigen Freiheitsstrafe) in Untersuchungshaft angehaltenen (nunmehr:) Angeklagten Ursula G***** gegen den Beschluss des Einzelrichters des Landesgerichtes Linz vom 26. Juni 2002, GZ 27 Hv 65/02i-73, nicht Folge und sprach aus, dass die Untersuchungshaft gemäß § 180 Abs 1 und 2 Z 3 lit b und c StPO fortgesetzt wird.
Ursula G***** wurde mit Urteil des Einzelrichters des Landesgerichtes Linz vom 26. Juni 2002, GZ 27 Hv 65/02i-72, des Verbrechens des teils vollendeten, teils versuchten schweren gewerbsmäßigen Diebstahls nach den §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 130 erster Fall und 15 StGB, des Vergehens der Urkundenunterdrückung nach § 229 StGB und des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB schuldig erkannt und hiefür nach § 130 erster Strafsatz StGB unter Anwendung des § 28 StGB zu zehn Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, worauf ihr die Zeiten vom 8. Dezember 2001 17:32 Uhr bis 24. Mai 2002 9:00 Uhr und vom 24. Juni 2002 1:10 Uhr bis 26. Juni 2002 16:10 Uhr an erlittener Vorhaft gemäß § 38 Abs 1 Z 1 StGB angerechnet wurden. Mit gleichzeitig gefasstem erstgerichtlichem Beschluss wurden gemäß § 494a Abs 1 Z 2 StPO iVm § 53 StGB die Ursula G***** mit Urteil des Landesgerichtes Wels vom 1. Oktober 1998, AZ 14 E Vr 422/98, gewährte bedingte Nachsicht einer Freiheitsstrafe in der Dauer von fünf Monaten und die mit Urteil des Landesgerichtes Linz vom 26. Mai 2000, AZ 26 E Vr 1506/99, 26 E Hv 36/00, gewährte bedingte Nachsicht eines Strafteils von sieben Monaten widerrufen.
Das Urteil des Landesgerichtes Linz vom 26. Juni 2002, GZ 27 Hv 65/02i-72, ist infolge (rechtzeitig erhobener) Berufung der Ursula G***** wegen Nichtigkeit und wegen der Aussprüche über die Schuld und die Strafe bisher nicht in Rechtskraft erwachsen.
In der Begründung seiner Beschwerdeentscheidung begegnete der Gerichtshof zweiter Instanz dem Einwand unverhältnismäßiger Haftdauer mit dem Hinweis auf das Ausmaß der in erster Instanz verhängten Freiheitsstrafe und die Irrelevanz von Spekulationen über die Erfolgswahrscheinlichkeit der offenen Urteilsanfechtung in Verbindung mit der analogen Sachlage in Ansehung des in erster Instanz beschlossenen Widerrufs der bedingten Nachsicht von (partiell anteiligen) Freiheitsstrafen im Gesamtausmaß von einem Jahr. Den Haftgrund der Tatbegehungsgefahr erachtete das Beschwerdegericht ungeachtet der erstmals längerfristigen Hafterfahrungen der Angeklagten als weiterhin aktuell, weil sie durch ihre bei offenen Probezeiten beharrlich fortgesetzte gewerbsmäßige Vermögensdelinquenz ausgeprägte Persönlichkeitszüge erkennen ließ, die die Annahme von dem nunmehrigen Hafterlebnis ausgehender Faktoren, die geeignet wären, ihre bisherige Verhaltensstruktur entscheidend zu korrigieren, weitestgehend widerlegen. Dies ergebe sich auch aus dem Gutachten des in der Hauptverhandlung beigezogenen psychiatrischen Sachverständigen Prof. Dr. Griebnitz, wonach Ursula G***** bei aufrechter Diskretions- und Dispositionsfähigkeit zwar an einer die Zurechnungsfähigkeit erheblich beeinträchtigenden kombinierten Persönlichkeitsstörung leide (labile Affektivität mit deutlich erhöhter Neigung zur Befriedigung eigener Bedürfnisse in Verbindung mit dem Drang, die Aufmerksamkeit ihrer Umgebung mit dem Ergebnis triebhafter "ökonomischer Selbstbefriedigung" auf sich zu lenken), gerade deshalb aber dazu neige, ihre als gesellschaftliche Benachteiligung und Kränkung empfundene psychosoziale Situation durch "ich-bewusste" Diebstahlshandlungen zu kompensieren. Auf dieser Basis seien nicht nur gleichgelagerte Straftaten mit nicht bloß leichten Folgen iSd § 180 Abs 1 und 2 Z 3 lit b und c StPO zu prognostizieren, sondern auch davon auszugehen, dass aus der Sicht der gesetzlichen Haftzwecke zielführende gelindere Mittel vorliegend nicht in Betracht kommen. Diese Entscheidung des Gerichtshofs zweiter Instanz bekämpft die Angeklagte mit (rechtzeitig erhobener) Grundrechtsbeschwerde, mit der sie mangelnde Voraussetzungen des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 3 lit b und c StPO sowie Unangemessenheit und Unverhältnismäßigkeit, insgesamt sohin eine Verletzung in ihrem Grundrecht auf persönliche Freiheit geltend macht, ohne damit allerdings im Recht zu sein.
Rechtliche Beurteilung
Dem Beschwerdestandpunkt zuwider kann zunächst davon nicht die Rede sein, dass die der Bejahung der Tatbegehungsgefahr in zweiter Instanz zugrundegelegten Erwägungen auf eine Klarstellung der "Widersprüchlichkeit und Inkonsequenz im Umgang mit psychisch kranken Straftätern" hinausliefen. Im empirisch belegten Spektrum denkbarer Abstufungen psychisch gestörter Täterpersönlichkeiten findet sich eben zwangsläufig auch ein sektoraler Bereich, der von bloß gradueller Reduktion der insgesamt aufrechten Diskretions- und Dispositionsfähigkeit, gleichzeitig aber auch davon gekennzeichnet ist, dass tatfördernde Komponenten einer Persönlichkeitsstörung wirksam werden. Jene dem unbedenklichen Sachverständigenbefund zu entnehmenden Indikatoren, die die Beschwerdeführerin nach ihrer erwiesenen Persönlichkeitsstruktur dem angesprochenen Sektor zuweisen, sind in der (auch insoweit) tragfähigen beschwerdegerichtlichen Begründung unmissverständlich dargelegt. Dass ein störungsbedingt intensiveres Empfinden des Haftübels in gleicher Weise geeignet sein kann, die vom Sachverständigen hervorgehobene Neigung der Ursula G***** zu deliktischer Kompensation ihres Gefühls gesellschaftlicher Benachteiligung zu beflügeln, versteht sich von selbst. Die phasenweise stationäre Behandlungsbedürftigkeit der Beschwerdeführerin ist dabei nicht geeignet, ihre Persönlichkeitsbeurteilung aus der Sicht der sie betreffenden Tatbegehungsgefahr in für den Beschwerdestandpunkt günstiger Weise zu beeinflussen.
Auch was gegen die Angemessenheit bzw Verhältnismäßigkeit der von Ursula G***** erlittenen Untersuchungshaft vorgebracht wird, vermag insgesamt nicht zu überzeugen. Der Beschwerdeversuch, das der Angeklagten angelastete Verbrechen des teils vollendeten, teils versuchten schweren gewerbsmäßigen Diebstahls mit dem Hinweis auf die auf insgesamt siebzehn Angriffe entfallende Gesamtschadenshöhe von 2.377,13 EUR und die durch eine psychische Störung bedingte Tatmotivation einer - wenn auch ungeeigneten - Abwehrhaltung gegen gesellschaftliche Benachteiligung als Aneinanderreihung einzelner Bagatellen aus gleichsam bloß jugendhaftem Verständnisstandard hinzustellen, setzt sich über wesentliche Modalitäten des in Rede stehenden Tatkomplexes hinweg. Abgesehen davon, dass das Gewicht der spezifisch auf die psychische Störung der Ursula G***** abgestellten Versuche, den Grad ihres Verschuldens zu beschönigen, schon dadurch relativiert wird, dass mehr als die Hälfte der ihr angelasteten diebischen Zugriffe nach erstgerichtlicher Überzeugung von gezielt durchdachtem Zusammenwirken mit ihrem Gatten Günther G***** geleitet war, bedarf der unrechtsrelevante gesellschaftliche Störwert ersichtlich breitflächig praktizierten methodischen Stehlens unter örtlichen Rahmenbedingungen, für die eine weitgehende tatbegünstigende Drittbindung der Aufmerksamkeit der ins Auge gefassten Tatopfer erfahrungsgemäß typisch ist, keiner besonderen Hervorhebung. Die hier gebotene Gegenüberstellung des nach Lage des Falles realistisch zu erwartenden Gesamtausmaßes zu vollziehender Freiheitsstrafen und der bisherigen Dauer der von Ursula G***** erlitten Vorhaft ergibt jedenfalls derzeit keine nach §§ 180 Abs 1, 193 Abs 2 StPO fassbare Unverhältnismäßigkeit.
Aus analogen Erwägungen steht die Untersuchungshaft auch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung des Verfahrensgegenstands. Schließlich ist den Unterinstanzen auch dahingehend beizupflichten, dass sich das Ausmaß der von der Beschwerdeführerin bisher erlittenen Vorhaft im Zusammenhang mit ihrer psychischen Auffälligkeit als nicht geeignet erweist, eine Substituierbarkeit der Untersuchungshaft durch ein gelinderes Mittel welcher Art auch immer ausreichend zu fundieren. Seelische Labilität und manifeste Bereitschaft zu gezielt durchdachtem deliktischem Zusammenwirken mit einem Komplizen widerlegen jenes Mindestmaß an positiver Beeinflussbarkeit, das ein vertretbares Vertrauen auf eine sachdienliche Wirksamkeit einer minderschweren Eingriffsvariante rechtfertigen würde. Da Ursula G***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit demnach nicht verletzt wurde, war die Grundrechtsbeschwerde ohne Kostenausspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen.