JudikaturOGH

15Os182/01 – OGH Entscheidung

Entscheidung
31. Januar 2002

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 31. Jänner 2002 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Markel als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Strieder, Dr. Schmucker, Dr. Zehetner und Dr. Danek als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Lauermann als Schriftführer, in der Strafsache gegen Martin E***** und andere Angeklagte wegen der Verbrechen des vollendeten und versuchten (§ 15 StGB) schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143 zweiter Fall StGB und anderer strafbaren Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerden und die Berufungen der Angeklagten Andreas G***** und Ajnur P***** gegen das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Schöffengericht in Jugendstrafsachen vom 8. Oktober 2001, GZ 36 Hv 1048/01x-82, sowie über deren Beschwerden (§ 498 Abs 3 StPO) gegen die Anordnung der Bewährungshilfe und Erteilung einer Weisung nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerden werden zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufungen und die (implizierten) Beschwerden werden die Akten dem Oberlandesgericht Innsbruck zugeleitet.

Gemäß § 390a StPO fallen den Angeklagten auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil, welches auch einen in Rechtskraft erwachsenen Schuldspruch des jugendlichen Mitangeklagten Martin E***** sowie rechtskräftige Teilfreisprüche aller drei Angeklagten und weitere Entscheidungen enthält, wurden die Jugendlichen Andreas G*****, geboren am 19. Dezember 1986, und Ajnur P*****, geboren am 27. August 1984, wegen der im Spruch sowie in den Entscheidungsgründen konkretisierten und individualisierten, in Innsbruck und anderen Orten Tirols in wechselnder Beteiligung begangenen strafbaren Handlungen wie folgt verurteilt:

Andreas G***** zu II. der (nachts zum 3. Juli 2001) als Beitragstäter nach § 12 dritter Fall StGB verübten Verbrechen des vollendeten und versuchten (§ 15 StGB) schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143 zweiter Fall StGB, zu IV.A1. - 14., B, C 1. - 3. und D 1. und 2. des (zwischen 7. März und 3. Juli 2001 begangenen) Verbrechens des teils vollendeten, teils versuchten (§ 15 StGB) schweren Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 2, 129 Z 1 und 2 StGB sowie der Vergehen zu V.1. - 10. der schweren Sachbeschädigung nach §§ 125, 126 Abs 1 Z 1, 2 und 7 StGB (Tatzeiten zwischen 23. März und 3. Juli 2001), zu VI.1. und 2. des versuchten unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen nach §§ 15, 136 Abs 1 und 2 StGB (6. Juni 2001), zu VII. der Störung der Totenruhe nach § 190 Abs 1 StGB (nachts zum 17. und 19. Juni 2001), zu VIII. der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs 1 StGB (24. März 2001), zu IX. des Betruges nach § 146 StGB (22. März 2001) und zu X. der versuchten Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB (März 2001);

Ajnur P***** zu I.1. und 2. der (in der Nacht zum 3. Juli 2001 als Mittäter begangenen) Verbrechen des vollendeten und versuchten (§ 15 StGB) schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143 zweiter Fall StGB, zu IV.C, D1. und 2., E1.a - e, 2. und 3.a - h des Verbrechens des teils vollendeten, teils versuchten (§ 15 StGB) Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 129 Z 1 StGB sowie der Vergehen zu V.1., 2. und 3. der Sachbeschädigung nach § 125 StGB (zwischen 5. Juni und 3. Juli 2001) und zu VI.1. und 2. des versuchten unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen nach §§ 15, 136 Abs 1 und 2 StGB.

Während Andreas E***** die angemeldeten Rechtsmittel in der Folge ausdrücklich zurückzog (ON 86 iVm 107/IV), führten Andreas G***** und Ajnur P***** (in getrennten Rechtsmittelschriften) Nichtigkeitsbeschwerden aus, die sie auf Z 5 und 9 lit b, P***** zudem auf Z 3 des § 281 Abs 1 StPO stützen.

Zur Beschwerde des Angeklagten G*****:

Rechtliche Beurteilung

Der in der Mängelrüge (Z 5) erhobene Vorwurf, "im Urteil fehlen jegliche Rechtsausführungen dahingehend, ob beim Beschwerdeführer der Schuldausschließungsgrund des § 4 Abs 1 [ersichtlich gemeint: § 4 Abs 2 Z 1] JGG gegeben ist oder nicht", geht ins Leere: Mit dem bezeichneten Nichtigkeitsgrund kann nur die mangelhafte Begründung tatsächlicher Feststellungen angefochten werden, aber nicht auch die Mangelhaftigkeit der rechtlichen Beurteilung (vgl Mayerhofer StPO4 § 281 Z 5 E 129 f; Foregger/Fabrizy StPO8 § 281 Rz 41). Unzutreffend ist der weitere Einwand, das bekämpfte Urteil leide an einer Aktenwidrigkeit, weil es - nach Meinung der Beschwerde - den Inhalt des schriftlich erstatteten (ON 68) und in der Hauptverhandlung mündlich erörterten (S 59 ff/IV) Gutachtens des Sachverständigen Univ. Prof. Dr. Werner L***** zur "Frage nach einer allenfalls vorliegenden verzögerten Reife" unrichtig wiedergebe, zumal der Experte - entgegen dem Urteilsinhalt (US 23 oben) - niemals darauf verwiesen habe, es bestünde bei Andreas G***** "keine verzögerte Reife etwa im Sinn des § 4 JGG".

Dem entgegen stützt das Tatgericht die kritisierte Urteilspassage mit zwar knappen, aber dennoch ausreichenden, aktengetreuen und widerspruchslosen Worten auf den (vom Rechtsmittel teilweise vernachlässigten) gesamten Inhalt der in freier Beweiswürdigung (§ 258 Abs 2 StPO) als "logisch und nachvollziehbar", demnach als tauglich beurteilten Expertise, welche auftragsgemäß über "die Zurechnungsfähigkeit, allfällige Unreife des Andreas G*****" erstattet wurde (vgl S 25 iVm 67/III).

Im schriftlichen Gutachten gelangte der Sachverständige (Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger für Neurologie, Psychiatrie, Kinderneuropsychiatrie und gerichtliche Medizin) unmissverständlich zum Ergebnis, dass von einer "verzögerten Reife" nicht gesprochen werden könne, vielmehr (nur) von einer pathologischen, in einem hohen Maß therapiebedürftigen Fehlentwicklung (S 79 unten/III). Damit in Übereinstimmung führte er mündlich dazu aus, dass der psychisch extrem gestörte 14jährige G***** "unreif" sei, könne man nicht feststellen, er sei "bezüglich der Reife altersgemäß entwickelt" und habe trotz einer Entwicklungsstörung die Grenzen zur Dispositions- und Diskretionsunfähigkeit noch nicht überschritten (S 59 bis 63, 65 und 67/IV). Damit ist klargestellt, dass beim jugendlichen Beschwerdeführer im Tatzeitraum (auch) der spezifische materielle Strafausschließungsgrund der verzögerten Reife nicht vorlag (vgl dazu Jesionek, Das österreichische Jugendgerichtsgesetz3, § 4 Anm. 17., 22. f).

Die geltend gemachten formellen Begründungsmängel haften daher dem Urteil nicht an.

Die Rechtsrüge (Z 9 lit b) kommt unter isolierter Betrachtung der eingeschränkten Diskretionsfähigkeit im Zusammenhang mit der pubertären Entwicklungskrise und dem Alter von 14 Jahren entgegen der - wie dargelegt - formell fehlerfrei begründeten Feststellung zum Schluss, dass "bei richtiger rechtlicher Beurteilung beim Angeklagten zwangsläufig von einer verspäteten Reife .... gemäß § 4 Abs 2 Z 1 [JGG] ausgegangen werden muss". Solcherart führt sie jedoch den bloß ziffernmäßig bezeichneten materiellen Nichtigkeitsgrund mangels Festhalten am gesamten festgestellten Tatsachensubstrat, das auf der Gesamtheit der Expertise beruht, nicht dem Gesetz gemäß aus. In Wahrheit bekämpft der Nichtigkeitswerber mit diesem Vorbringen ebenso wie mit einem gleichlautenden Teil der Mängelrüge bloß unzulässig nach Art einer Schuldberufung die zu seinem Nachteil ausgefallene Lösung der Schuldfrage.

Soweit der Beschwerdeführer unter dem (der Strafprozessordnung fremden Titel) "Sekundäre Feststellungsmängel" zusätzliche Konstatierungen dahin begehrt, dass Andreas G***** "auch psychische Defekte, Selbstbeschädigungstendenzen, Schwierigkeiten in der sozialen Kontakt- und Anpassungsfähigkeit sowie Verwahrlosungserscheinungen aufwies", die er aus dem schriftlichen Befund (S 69 und 77/III) herausgreift, trachtet er abermals nur, auf verfahrensvorschriftswidrige Weise, nämlich durch eigene Beweiswerterwägungen, zur Annahme seiner verzögerten Reife zu gelangen. Er beachtet dabei nicht, dass der Sachverständige, dem die Tatrichter in freier Beweiswürdigung uneingeschränkt gefolgt sind, seine (den Intentionen des Nichtigkeitswerbers jedoch zuwiderlaufenden) gutächtlichen Schlussfolgerungen aus der Gesamtheit des aufgenommenen Befundes gezogen hat und zum gegenteiligen Ergebnis gelangt ist.

Zur Beschwerde des Angeklagten P*****:

Die vom Vorsitzenden entgegen der Vorschrift des § 250 Abs 1 und 2 StPO unterlassene Mitteilung über den Inhalt der in Abwesenheit aller Angeklagten, jedoch in Gegenwart ihrer Verteidiger gemachten Aussagen der Zeugin Vanessa S***** (S 49 ff/IV) bewirkte keine Nichtigkeit. Die Zeugin, welche Opfer des dem Schuldspruch I.2. zugrundeliegenden Raubüberfalls geworden war, verwies nämlich in der Hauptverhandlung pauschal auf ihre bisherigen richtigen Angaben und brachte nichts Neues vor, was den (sich von Anfang an zu diesem Angeklagevorwurf uneingeschränkt schuldig bekennenden - vgl S 125, 87 ff/II und 39/IV) Angeklagten belastet hätte. Demnach konnte die gerügte Formverletzung unzweifelhaft keinen nachteiligen Einfluss auf die Entscheidung üben (§ 281 Abs 3 Satz eins StPO), zumal auch das Rechtsmittel eine Relevanz dieses Fehlers für den Sachausgang nicht aufzeigt (Mayerhofer aaO § 250 E 6b, 6c, 9).

Dem weiteren Beschwerdeeinwand, die Angeklagten seien zur Gutachtenserörterung gemäß "§ 42 Abs 1 JGG" zu Unrecht von der Teilnahme an der Verhandlung ausgeschlossen worden (S 53 oben/IV), weil nach dieser Bestimmung nur die Öffentlichkeit von der Hauptverhandlung auszuschließen ist, genügt es zu erwidern, dass es sich dabei erkennbar lediglich um einen sanktionslosen Schreib- oder Zitierfehler handelt. Rechtskonform hätte zwar vorliegend die Öffentlichkeit nach der speziellen Norm des § 42 Abs 1 JGG von der Hauptverhandlung ausgeschlossen werden sollen. Hingegen ist die (von allen Verteidigern beantragte) Anordnung, dass die Angeklagten während der mündlichen Erörterung des neurologisch-psychologischen Gutachtens den Verhandlungssaal zu verlassen haben, durch "§ 41 Abs 1" JGG gedeckt. Indes stellt die unrichtige Paragrafenbezeichnung allein den relevierten Nichtigkeitsgrund nicht her, weil auch daraus ein nachteiliger Einfluss auf die Entscheidung auszuschließen ist (abermals § 281 Abs 3 StPO).

Entgegen dem in der Mängelrüge (Z 5) vertretenen Standpunkt reicht der festgestellte Sachverhalt (US 20 iVm US 23) aus, (auch) die Diskretionsfähigkeit des jugendlichen Angeklagten im Sinne des § 4 Abs 2 Z 1 JGG abschließend beurteilen zu können. Mit der auf die schriftlich erstattete und mündlich erörterte Expertise des Sachverständigen Univ. Prof. Dr. Werner L***** gestützten Konstatierung, "P***** war bei allen Urteilstaten zurechnungsfähig, allerdings war seine Dispositionsfähigkeit hochgradig eingeschränkt und es besteht keine verzögerte Reife iSd § 4 JGG", hat das Tatgericht unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass beim Angeklagten auch die (wenngleich eingeschränkte) Diskretionsfähigkeit gegeben war. Die unterbliebene ausdrückliche Erwähnung der in der Hauptverhandlung gemachten Aussage des genannten Experten, wonach die Diskretionsfähigkeit sicher eingeschränkt, aber sicher nicht verloren ist (S 67/IV), schadet daher nicht, weil dieser Mangel keinen entscheidungswesentlichen Umstand berührt. Für die Schuldfrage ist nämlich unerheblich, ob zur Tatzeit nur eine oder beide der genannten Komponenten eingeschränkt waren.

Der Vorwurf, der Sachverständige stelle in seiner Beurteilung nur auf die Zurechnungsunfähigkeit nach § 11 StGB sowie auf die Strafunmündigkeit iSd § 4 Abs 1 JGG ab, aber nicht auf die Straflosigkeit eines Jugendlichen gemäß § 4 Abs 2 Z 1 JGG (wegen verzögerter Reife), beruht auf einer missverständlichen Auslegung und auf einer bloß partiellen Berücksichtigung des Gutachtens. Vollends auf das ihm verwehrte Gebiet der Bekämpfung der tatrichterlichen Beweiswürdigung gerät der Beschwerdeführer, indem er aus dem vom Sachverständigen im Gutachten erwähnten negativen sozialen und familiären Einflüssen (S 91 dritter Absatz/III) den beweiswürdigenden Schluss zieht, diese hätten jedenfalls zu einer entwicklungsbedingten "Unreife" geführt.

Jener Teil der Mängelrüge (der Sache nach Z 9 lit b), in dem gefordert wird, "dies [ersichtlich gemeint: die Unreife] hätte das Erstgericht so festzustellen gehabt und wären diese Feststellungen für die Beurteilung, ob der Strafausschließung[sgrund] des § 4 Abs 2 Z 2 JGG vorliegt, von Bedeutung gewesen", bzw mit dem Postulat in der Rechtsrüge (Z 9 lit b), "es hätte zu der Entscheidung gelangen müssen, dass der jugendliche Beschuldigte aufgrund der verzögerten Reife nicht schuldfähig und daher auch nicht zu bestrafen gewesen wäre", stellt keine den Prozessgesetzen gemäße Ausführung des bezeichneten materiellen Nichtigkeitsgrundes dar. Zum einen setzt sich das Rechtsmittel über die Konstatierung hinweg, dass keine verzögerte Reife vorlag, andererseits wird übersehen, dass den Gegenstand des Schuldspruchs mehrere Verbrechen bilden und jene(s) Vergehen, für welche(s) ihrer Ansicht nach die Voraussetzungen der zitierten Norm zutreffen sollen (vgl den Gesetzestext und Jesionek aaO § 4 Anm. 31. und 37.), nicht konkret bezeichnet werden (wird). Aus den dargelegten Gründen waren daher die Nichtigkeitsbeschwerden in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur gemäß § 285d Abs 1 Z 1 und 2 iVm § 285a Z 2 StPO bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen.

Daraus folgt gemäß §§ 285i, 298 Abs 3 letzter Satz StPO die Zuständigkeit des Gerichtshofs zweiter Instanz zur Entscheidung über die Berufungen der Angeklagten (Andreas G***** hat diese nur angemeldet) sowie über deren (darin ex lege enthaltenen - § 498 Abs 3 vorletzter Satz StPO) Beschwerden gegen die Anordnung der Bewährungshilfe und gegen die Erteilung einer Weisung (US 14).

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