11Os90/01 – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 4. September 2001 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kuch als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ebner, Dr. Habl, Dr. Zehetner und Dr. Danek als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Emsenhuber als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Günter J***** wegen des Vergehens der Vernachlässigung, Pflege, Erziehung oder Beaufsichtigung nach § 199 StGB und anderer strafbarer Handlungen über die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 17. Mai 2001, GZ 8 Vr 526/99-130, verbunden mit seinem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sowie seine Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung gegen das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 4. Oktober 2000, GZ 8 Vr 526/99-124, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
1. Der Beschwerde gegen den die Nichtigkeitsbeschwerde zurückweisenden Beschluss vom 17. Mai 2001 (ON 130) wird Folge gegeben, dieser Beschluss ersatzlos aufgehoben und der Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen.
2. Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.
3. Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Graz zugeleitet.
4. Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Landesgericht für Strafsachen Graz die Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 17. Mai 2001, GZ 8 Vr 526/99-130, zurück, weil er bei der schriftlichen Anmeldung des Rechtsmittels keine Nichtigkeitsgründe genannt und die schriftliche Ausführung (ON 129) verspätet eingebracht habe (§ 285a Z 2 StPO). Tatsächlich wurde die Rechtsmittelausführung am 23. April 2001, somit mehr als vier Wochen nach der laut Übernahmsbestätigung auf dem Rückschein (S 3 kk des Antrags- und Verfügungsbogens) am 22. März 2001 erfolgten Zustellung der Urteilsausfertigung zur Post gegeben.
In seiner dagegen erhobenen Beschwerde (ON 131) hebt der Angeklagte zur Unterstützung des Vorbringens, die Urteilszustellung sei nicht am 22. März 2001, sondern am 26. März 2001 erfolgt und von einer Mitarbeiterin des Verteidigers auf dem Rückschein irrtümlich mit dem erstgenannten Datum bestätigt worden, zutreffend hervor, dass der betreffende Rückschein bei der Retournierung durch das Zustellpostamt an das Landesgericht für Strafsachen Graz mit dem Poststempel vom 27. März 2001 versehen wurde, wobei das Urteil beim Postamt lt Poststempel erst am 23. März 2001 eingelangt war. Angesichts dessen kann aber von der vom Erstgericht angenommenen Verspätung der Rechtsmittelausführung nicht ausgegangen werden.
In Stattgebung der Beschwerde war daher der angefochtene Beschluss ersatzlos aufzuheben.
Einer Wiedereinsetzung fehlt demnach die Voraussetzung einer Fristversäumung, weshalb der vom Verteidiger aus anwaltlicher Vorsicht gestellte Wiedereinsetzungsantrag zurückzuweisen war.
Mit dem angefochtenen Urteil wurde Günter Heimo J***** des Verbrechens der versuchten Unzucht mit Unmündigen nach §§ 15, 207 Abs 1 StGB (Punkt IV des Urteilsssatzes) sowie der Vergehen der Vernachlässigung der Pflege, Erziehung oder Beaufsichtigung nach § 199 StGB (I), der Fälschung besonders geschützter Urkunden nach § 224 (§ 223 Abs 2) StGB (II), der Zuhälterei nach § 216 Abs 2 StGB (III), der versuchten Bestimmung zum Diebstahl nach §§ 15, 12 (zweiter Fall), 127 StGB (V), der Hehlerei nach § 164 Abs 2 und Abs 3 StGB sowie der versuchten Vermittlung von Scheinehen nach § 15 StGB iVm § 106 Abs 1FrG (VII) schuldig erkannt.
Darnach hat er
zu I) von Mitte 1994 bis zum 27. November 1998 in Graz und Unterpremstätten die ihm auf Grund eines Gesetzes obliegende Pflege, Erziehung oder Beaufsichtigung von minderjährigen Personen gröblich vernachlässigt und dadurch, wenn auch nur fahrlässig, deren Verwahrlosung bewirkt, indem er die am 7. Dezember 1989 geborene Alexandra J***** und die am 21. Mai 1986 geborene Sabrina J***** nur mangelhaft betreute und überwiegend sich selbst überließ und sozial vernachlässigte, indem er das Ansehen von Pornofilmen und Stripetease-Shows duldete, sowie in deren Anwesenheit sexualbezogene Handlungen vornahm, insbesondere mit Gabriela J***** den Geschlechtsverkehr vollzog,
(zu II) im März 1996 in Unterpremstätten und anderen Orten in drei Fällen falsche inländische öffentliche Urkunden, nämlich nachgeprägte Kfz-Kennzeichentafeln, die er auf PKWs anbrachte, im Rahmen von PKW-Überstellungsfahrten nach Rumänien im Rechtsverkehr zum Beweis der Tatsache der aufrechten Zulassung der Kraftfahrzeuge im Rechtsverkehr gebraucht,
(zu III) von 1997 bis Anfang 1998 in Graz und anderen Orten mit dem Vorsatz, sich aus der gewerbsmäßigen Unzucht einer anderen Person eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen, Mirela J***** und Joana Florina J*****, geborene A*****, mithin mehrere solche Personen zugleich ausgenützt, indem er ihnen den gesamten Schandlohn abnahm,
(zu IV) im Sommer 1998 in Unterpremstätten eine unmündige Person auf andere Weise als durch Beischlaf zur Unzucht zu missbrauchen versucht, indem er der am 28. November 1984 geborenen Mirabella J***** einen Finger in die Scheide einzuführen versuchte, was ihm jedoch nicht gelang, da Mirela J***** seine Hand gerade noch wegstoßen konnte,
(zu V) im November 1998 in Unterpremstätten Bernd M***** durch die Aufforderung, für ihn aus dessen Firma bzw von Baustellen Werkzeug zu stehlen, dazu zu bestimmen versucht, fremde bewegliche Sachen, nämlich Werkzeug im Wert von ca 8.000 S Verantwortlichen von Baufirmen mit dem Vorsatz wegzunehmen, sich bzw Günter J***** durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern,
(zu VI) von Mitte 1998 bis 25. Februar 1999 in Unterpremstätten die von den gesondert verfolgten Lucian T***** und Marius Codrut C***** in zahlreichen Angriffen gestohlenen Musik-CDs, Kosmetika, Textilien, Zementsäcke, Computerprogramme, Kunststoff-Fenster und Kompressoren in einem insgesamt 25.000 S übersteigenden Wert, mithin Sachen, die ein anderer durch ein Verbrechen bzw Vergehen gegen fremdes Vermögen erlangt hat, in mehreren Angriffen durch Ankauf bzw Übernahme an sich gebracht und
(zu VII) zu nicht näher bekannten Zeitpunkten im Jahr 1998 in Unterpremstätten und anderen Orten gewerbsmäßig mehrmals Ehen zwischen Österreichern und Fremden zu vermitteln oder anzubahnen versucht, obwohl er wusste oder wissen musste, dass sich die Betroffenen nur für die Erteilung eines Aufenthaltstitels auf diese Ehe berufen haben, aber kein gemeinsames Familienleben im Sinne des Art 8 EMRK führen wollen, indem er Bernd M*****, Anton K***** und Gabriele K***** das Angebot unterbreitete, rumänische Staatsangehörige zu heiraten, wobei er die Absicht hatte, sich durch die wiederkehrende Begehung eine fortlaufende Einnahmequelle (in Form der geplanten und durch die Heirat in Österreich möglichen Prostitution der rumänischen Staatsangehörigen) zu verschaffen.
Diesen Schuldspruch bekämpft der Angeklagte mit einer auf die Gründe der Z 5, 5a, 9 lit a und 10 des § 281 Abs 1 Z 5 gestützter Nichtigkeitsbeschwerde, der keine Berechtigung zukommt.
Rechtliche Beurteilung
Mit dem zum erstgenannten Nichtigkeitsgrund erstatteten Vorbringen, der Zeugin Annemarie H***** - auf deren Vernehmung die Parteien ausdrücklich verzichtet haben (S 103/V) - wäre kein Entschlagungsrecht zugestanden, weshalb sie einer Zeugenladung Folge leisten und zum Sachverhalt hätte aussagen müssen, wird kein Begründungsmangel geltend gemacht. Dasselbe gilt für die Beweiswerterwägungen, die vom Beschwerdeführer an die Ankündigung der Genannten geknüpft werden, im Fall der Vorladung zur Hauptverhandlung im Hinblick auf ihre mit psychosozialer Beratung und Betreuung der Familie J***** verbundene Tätigkeit als Beamtin der Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung ein Entschlagungsrecht nach § 152 Abs 1 Z 5 StPO in Anspruch zu nehmen (S 95/V).
Der damit verbundene, teils auf Nichtigkeit nach Z 9 lit a zielende Einwand im Rahmen der Mängelrüge, mit dem ungeachtet der vorliegenden Urteilsannahmen "sowohl im Protokoll als auch in der Urteilsbegründung sämtliche Feststellungen" vermisst werden, "die für die Aufrechterhaltung der einzelnen Schuldtatbestände notwendig wären", entspricht nicht einmal dem Gebot deutlicher und bestimmter Bezeichnung angeblich Nichtigkeit bewirkender Umstände (§§ 285 Abs 1, 285a Z 2 StPO).
Unberechtigt ist die zum Schuldspruch laut Punkt I auf die Feststellung, dass der Angeklagte wiederholt das Ansehen von Pornofilmen und Striptease-Shows durch die Kinder zuließ (US 16), beschränkte Begründungskritik, es gäbe dazu keine Beweismittel (siehe nur die Angaben von Mirela J***** S 73 und 385 f/I und Bernd M***** S 107 und 339 f/I iVm S 104/V und US 24, 26 f und 29 f).
Zu einer - von der Generalprokuratur angeregten - Vorgangsweise nach § 290 StPO sah sich der Oberste Gerichtshof nicht veranlasst, weil die Konstatierungen des Schöffengerichtes zur objektiven und subjektiven Tatseite (US 7 ff; zur geistigen Verwahrlosung: US 10,
14) für die rechtliche Beurteilung der Handlungsweise des Beschwerdeführers als gröbliches Vernachlässigen und dadurch bewirkte (geistige) Verwahrlosung des Kindes ausreichen (Markel in WK2 Rz 12 ff zu § 199).
Das gegen den Schuldspruch laut Punkt II gerichtete Vorbringen, mit dem der Beschwerdeführer Grundlagen für die Urteilsannahme vermisst, dass er nachgeprägte Kennzeichentafeln verwendete, ist nicht an den Verfahrensergebnissen orientiert (US 18; dazu US 24 iVm S 179/I = 235/II und 104/V).
Dem pauschalen Einwand, "das Faktum III" sei "gänzlich aus der Luft gegriffen" und auch "hinsichtlich der Fakten III, IV, V, VI" sei der Angeklagte "ohne Beweisgrundlage verurteilt" worden, genügt als Erwiderung der Hinweis auf die dazu vom Erstgericht herangezogenen Erhebungsergebnisse (US 24 iVm S 43 ff/I, 1 ff/II).
An Deutlichkeit lassen die Urteilsfeststellungen zu den Ehevermittlungs- und -anbahnungsbestrebungen des Angeklagten (VIII) entgegen der am dazu herangezogenen Tatbestand des § 106 Abs 1 FrG vorbeigehenden Beschwerde nichts zu wünschen übrig.
Mit der aktenwidrigen Behauptung, dass der Angeklagte "eigentlich durch niemanden belastet worden ist", werden keine Bedenken gegen die Richtigkeit der dem Ausspruch über die Schuld zugrunde gelegten entscheidenden Tatsachen (Z 5a) geweckt.
Durchwegs gesetzwidrig ausgeführt sind die Rechtsrügen. Zum einen werden unter nominell auf Z 9 lit a und ohne erkennbare Zielsetzung auf Z 10 gestützter Bestreitung des Gebrauchs nachgeprägter Kennzeichentafeln (II) sowie unter Missachtung der umfangreichen Urteilsannahmen über das Vernachlässigungsverhalten des Angeklagten (I) mit dem dazu erstatteten Vorbringen aus dem erstgenannten Nichtigkeitsgrund Urteilsfeststellungen teils abgelehnt, teils ignoriert (US 7 bis 17 zu I, 18 zu II). Zum anderen wird die Subsumtionskritik (Z 9 lit a) nicht erkennbar aus dem Gesetz abgeleitet, soweit gegen den Schuldspruch VII (teils denkgesetzwidrig) eingewendet wird, die - nach § 106 Abs 1 FrG im Vermitteln oder Anbahnen von Scheinehen bestehende - tatsächliche Ausführung liege sowohl zeitlich "als auch räumlich" weit in der Zukunft.
Insoweit war daher die Nichtigkeitsbeschwerde teils als nicht gesetzmäßig ausgeführt, teils als offenbar unbegründet bereits in nichtöffentlicher Sitzung zurückzuweisen (§ 285d StPO), woraus sich die Zuständigkeit des Oberlandesgerichtes Graz zur Entscheidung über die Berufung ergibt (§ 285i StPO).
Die Kostenentscheidung ist in § 390a StPO begründet.