JudikaturOGH

10ObS462/97g – OGH Entscheidung

Entscheidung
31. März 1998

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Hon.-Prof. Dr. Danzl sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Carl Hennrich und Brigitte Augustin (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in den Rechtssachen der klagenden Parteien 1. Johann B***** (10 ObS 462/97g), 2. Hubert K***** (10 ObS 463/97d), 3. Josef K***** (10 ObS 464/97a), 4. Friedrich H***** (10 ObS 465/97y), 5. Alois R***** (10 ObS 3/98h), 6. Josef L***** (10 ObS 4/98f), 7. Josef Z***** (10 ObS 5/98b), 8. Leopold S***** (10 ObS 6/98z), 9. Franz F***** (10 ObS 30/98d), 10. Franz B***** (10 ObS 31/98a), 11. Alois G***** (10 ObS 36/98m), 12. Josef S***** (10 ObS 43/98s) und 13. Anton P***** (10 ObS 55/98f), alle vertreten durch Hasch, Spohn, Richter und Partner, Rechtsanwälte in Linz, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Bauern, Ghegastraße 1, 1030 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen vorzeitiger Alterspension wegen Erwerbsunfähigkeit, infolge Revisionen der klagenden Parteien gegen die Urteile des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 22. Oktober 1997, GZ 12 Rs 142/97g-11, 12 Rs 165/97i-11, 12 Rs 166/97m-11, 12 Rs 167/97h-11, 12 Rs 201/97h-10, 12 Rs 213/97y, 12 Rs 214/97w-8, 12 Rs 220/97b-11, vom 29. Oktober 1997, GZ 11 Rs 211/97x-11, 11 Rs 242/97f-12, vom 2. Dezember 1997, GZ 11 Rs 276/97f-11, 11 Rs 262/97x-12, und vom 11. Dezember 1997, GZ 12 Rs 271/97b-11, womit infolge Berufungen der klagenden Parteien die Urteile des Landesgerichtes Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom 4. April 1997, GZ 16 Cgs 40/97x-6, vom 9. Juli 1997, GZ 18 Cgs 110/97f-5, 18 Cgs 136/97d-5, vom 11. September 1997, GZ 16 Cgs 129/97k-6, und vom 13. Oktober 1997, GZ 18 Cgs 219/97k-7, des Landesgerichtes Ried im Innkreis als Arbeits- und Sozialgericht vom 13. Mai 1997, GZ 14 Cgs 255/96a-6, 14 Cgs 47/97i-6, vom 2. Juni 1997, GZ 14 Cgs 46/97t-6, und vom 28. Oktober 1997, GZ 14 Cgs 164/97w-6, des Landesgerichtes Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 24. April 1997, GZ 6 Cgs 42/97p-4, 6 Cgs 43/97k-4, und des Landesgerichtes Steyr als Arbeits- und Sozialgericht vom 22. Mai 1997, GZ 24 Cgs 53/97h-6, und vom 12. August 1997, GZ 24 Cgs 121/97h-6, bestätigt wurden, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

I. Die oben genannten Sozialrechtssachen zu den Aktenzeichen 10 ObS 462/97g, 10 ObS 463/97d, 10 ObS 464/97a, 10 ObS 465/97y, 10 ObS 3/98h, 10 ObS 4/98f, 10 ObS 5/98b, 10 ObS 6/98z, 10 ObS 30/98d, 10 ObS 31/98a, 10 ObS 36/98m, 10 ObS 43/98s und 10 ObS 55/98f werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

II. Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden gemäß Artikel 177 EGV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

"1. Ist Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 79/7/EWG so auszulegen, daß er einem Mitgliedsstaat die unterschiedliche Festsetzung des Rentenalters nur für Renten- bzw Pensionsansprüche erlaubt, die ausschließlich aus dem Risikofall des Alters gewährt werden, oder ist diese Ausnahmeregelung auch auf Renten- bzw Pensionsansprüche zu beziehen, die zwar erst ab einem bestimmten Alter, aber darüber hinaus nur wegen einer bestehenden Invalidität (Erwerbsunfähigkeit) gewährt werden?

2. Ist Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a und Absatz 2 der Richtlinie 79/7/EWG so auszulegen, daß er einem Mitgliedsstaat erlaubt, eine vorher bestandene gleiche Regelung des Rentenalters (hier die Vollendung des 55. Lebensjahres für Männer und Frauen) nach Ablauf der Umsetzungsfrist dahin zu ändern, daß für Männer und Frauen nunmehr ein unterschiedliches Rentenalter (hier die Vollendung des 57. Lebensjahres für Männer und des 55. Lebensjahres für Frauen) festgesetzt wird?"

III. Die Revisionsverfahren werden bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften ausgesetzt.

Text

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

Mit den jeweils gleichlautenden Bescheiden der beklagten Partei wurden die Anträge der - alle im Zeitraum September 1941 bis Juli 1942 geborenen - Kläger auf Gewährung der vorzeitigen Alterspension wegen Erwerbsunfähigkeit mit der Begründung abgelehnt, daß Voraussetzung für den Anspruch auf diese Leistung gemäß § 122c Bauern-Sozialversicherungsgesetz (BSVG) in der Fassung des Strukturanpassungsgesetzes 1996, BGBl 1996/201, bei männlichen Versicherten die Vollendung des 57. Lebensjahres sei; da die Kläger am Stichtag das 57. Lebensjahr noch nicht vollendet hätten, sei diese Anspruchsvoraussetzung nicht erfüllt.

Die Erstgerichte wiesen das Begehren der von den Klägern gegen diese Bescheide erhobenen, auf die Gewährung der beantragten Leistung ab dem jeweiligen - in allen Fällen nach dem 1.9.1996 gelegenen - Stichtag gerichteten Klagen ab, wobei es dem von der beklagten Partei in den angefochtenen Bescheiden vertretenen Rechtsstandpunkt folgte.

Das Berufungsgericht gab den von den Klägern gegen diese Urteile gerichteten Berufungen nicht Folge und billigte die Rechtsansicht des Erstgerichtes.

Gegen diese Urteile richten sich die Revisionen sämtlicher Kläger aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtenen Entscheidungen dahin abzuändern, daß ihrem Begehren stattgegeben werde.

Die beklagte Partei hat sich an den Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Strittig ist in allen Revisionsverfahren nur das Begehren der Kläger auf Gewährung der vorzeitigen Alterspension wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit nach dem 1.9.1996.

Die für die Beurteilung aller vorliegenden Fälle maßgebliche, in dieser Form erst seit 1.9.1996 in Kraft stehende Bestimmung des § 122c Abs 1 Bauern-Sozialversicherungsgesetz (BSVG) lautet:

"Vorzeitige Alterspension wegen Erwerbsunfähigkeit § 122c. (1) Anspruch auf vorzeitige Alterspension wegen Erwerbsunfähigkeit hat der Versicherte nach Vollendung des 57. Lebensjahres, die Versicherte nach Vollendung des 55. Lebensjahres, wenn er (sie)

1. die Wartezeit erfüllt hat (§ 111),

2. innerhalb der letzten 36 Kalendermonate vor dem Stichtag 24 Beitragsmonate der Pflichtversicherung oder innerhalb der letzten 180 Kalendermonate vor dem Stichtag 36 Beitragsmonate der Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung nachweist und infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner (ihrer) körperlichen oder geistigen Kräfte außerstande ist, einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, die eine ähnliche Ausbildung sowie gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie die Erwerbstätigkeit erfordert, die der (die) Versicherte zuletzt durch mindestens 60 Kalendermonate ausgeübt hat und wenn dessen (deren) persönliche Arbeitsleistung zur Aufrechterhaltung des Betriebes notwendig war."

Die beklagte Partei hält dem Begehren der Kläger nur entgegen, daß sie alle das 57. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und ein Anspruch auf die begehrte Leistung aus diesem Grund nicht bestehe. Die weiteren Anspruchsvoraussetzungen sind nicht bestritten. Unstrittig ist auch, daß alle Kläger das 55. Lebensjahr vollendet haben. Die Kläger stehen auf dem Standpunkt, daß das vom Gesetzgeber erst mit 1.9.1996 eingeführte unterschiedliche Anfallsalter für Männer und Frauen dem gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz widerspreche und für ihren Anspruch - ebenso wie für weibliche Versicherte - die Vollendung des 55. Lebensjahres ausreiche.

Der Oberste Gerichtshof hat dazu erwogen:

Die Regelungen des Leistungsrechtes in der Pensionsversicherung für die in der Landwirtschaft selbständig Erwerbstätigen für die Zeit bis 31.12.1978 fanden sich zunächst in dem am 1.1.1971 in Kraft getretenen Bauern-Pensionsversicherungsgesetz (BGBl 1970/28 - B-PVG). Die oben zitierte Bestimmung des § 122c BSVG geht auf die §§ 69, 70 B-PVG zurück, die (auszugsweise) folgenden Wortlaut hatten:

"Erwerbsunfähigkeitspension.

§ 69. (1) Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitspension hat der Versicherte bei dauernder Erwerbsunfähigkeit, wenn die Wartezeit (§ 60) erfüllt ist und die für den Versicherten in Betracht kommende weitere Voraussetzung des § 68 Abs 2 zutrifft.

Begriff der dauernden Erwerbsunfähigkeit.

§ 70. Als erwerbsunfähig gilt der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte dauernd außerstande ist, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen. Als erwerbsunfähig gilt ferner der (die) Versicherte,

a) der (die) das 55. Lebensjahr vollendet hat, und

b) dessen (deren) persönliche Arbeitsleistung zur Aufrechterhaltung des Betriebes notwendig war, wenn er (sie) infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner (ihrer) körperlichen oder geistigen Kräfte dauernd außerstande ist, einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, die eine ähnliche Ausbildung sowie gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie die Erwerbstätigkeit erfordert, die der (die) Versicherte zuletzt durch mehr als 60 Kalendermonate ausgeübt hat."

Die Gesetzesmateralien zu diesen Bestimmungen verweisen darauf, daß die bis dahin geltende Regelung, die einen Pensionsanspruch für diese Versichertengruppe nur im Fall der totalen Erwerbsunfähigkeit vorsah, zu großen sozialen Härten geführt habe; es erweise sich namentlich bei Versicherten in fortgeschrittenem Alter häufig als schwierig, sie auf andere Erwerbstätigkeiten zu verweisen. Mit der vorgeschlagenen Regelung sollte eine Beseitigung der ärgsten Härten erreicht und eine Annäherung an die entsprechenden Regelungen des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), jedoch keine Gleichstellung mit diesen vorgenommen werden. Vielmehr solle eine Lösung versucht werden, von der anzunehmen sei, daß sie - zwar noch immer strenger als das ASVG - den Bedürfnissen der Versicherten, hierbei vor allem Inhaber von kleinen Betrieben, Rechnung tragen solle. Für solche Personen, die das 55. Lebensjahr bereits überschritten hätten, sollen die Anforderungen für die Erwerbsunfähigkeitspension dadurch gemindert werden, daß einerseits eine Verweisung auf unselbständige Erwerbstätigkeiten nicht mehr zulässig sein und auch die Verweisung auf selbständige Erwerbstätigkeiten Beschränkungen unterliegen solle.

Mit 1.1.1979 traten die leistungsrechtlichen Regelungen des BSVG für Pensionsansprüche der in der Landwirtschaft selbständig Erwerbstätigen in Kraft (§ 225 Absatz 1 BSVG). Die Bestimmungen über den Pensionsanspruch wegen Erwerbsunfähigkeit fanden sich in den §§ 123, 124 dieses Gesetzes und hatten (auszugsweise) folgenden Wortlaut:

" Erwerbsunfähigkeitspension.

§ 123. (1) Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitspension hat der (die) Versicherte bei dauernder Erwerbsunfähigkeit, wenn die Wartezeit (§ 111) erfüllt ist .........

Begriff der dauernden Erwerbsunfähigkeit.

§ 124. (1) Als erwerbsunfähig gilt der (die) Versicherte, der (die) infolge von Krankheit oder anderer Gebrechen oder Schwäche seiner (ihrer) körperlichen oder geistigen Kräfte dauernd außerstande ist, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen.

(2) Als erwerbsunfähig gilt ferner der (die) Versicherte,

a) der (die) das 55. Lebensjahr vollendet hat, und

b) dessen (deren) persönliche Arbeitsleistung zur Aufrechterhaltung des Betriebes notwendig war, wenn er (sie) infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner (ihrer) körperlichen oder geistigen Kräfte dauernd außerstande ist, einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, die eine ähnliche Ausbildung sowie gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie die Erwerbstätigkeit erfordert, die der (die) Versicherte zuletzt durch mehr als 60 Kalendermonate ausgeübt hat."

Was den Begriff der Erwerbsunfähigkeit betrifft, wurde damit die entsprechende Regelung des B-PVG praktisch unverändert in das BSVG übernommen; sie stand bis 1.9.1993 ohne Änderung in Kraft.

Mit der 18. Novelle zum BSVG, BGBl 1993/337, wurde mit Wirksamkeit vom 1.7.1993 § 124 Abs 2 BSVG aufgehoben und die Bestimmung des § 122c Abs 1 BSVG neu geschaffen. Diese hatte folgenden Wortlaut:

"Vorzeitige Alterspension wegen dauernder Erwerbsunfähigkeit.

§ 122c. (1) Anspruch auf vorzeitige Alterspension wegen dauernder Erwerbsunfähigkeit hat der (die) Versicherte nach Vollendung des 55. Lebensjahres, wenn er (sie)

1. die Wartezeit erfüllt hat (§ 111),

2. innerhalb der letzten 36 Kalendermonate vor dem Stichtag 24 Beitragsmonate der Pflichtversicherung oder innerhalb der letzten 180 Kalendermonate vor dem Stichtag 36 Beitragsmonate der Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung nachweist und infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner (ihrer) körperlichen oder geistigen Kräfte außerstande ist, einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, die eine ähnliche Ausbildung sowie gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie die Erwerbstätigkeit erfordert, die der (die) Versicherte zuletzt durch mindestens 60 Kalendermonate ausgeübt hat und wenn dessen (deren) persönliche Arbeitsleistung zur Aufrechterhaltung des Betriebes notwendig war."

In den Gesetzesmaterialien wird ausgeführt, daß als eine Maßnahme im Interesse älterer, nicht mehr voll einsetzbarer Langzeitarbeitsloser, die schon vorher durch längere Zeit der Versichertengemeinschaft angehörten, mit der vorzeitgen Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit eine neue Leistung der Pensionsversicherung eingeführt werde, und zwar dadurch, daß die damals bestehenden Regelungen (Tätigkeitsschutz) bei Invalidität/Berufs- unfähigkeit ab dem 55. Lebensjahr (§ 255 Abs 4, § 273 Abs 3 ASVG) zu einer vorzeitigen Alterspension zusammengefaßt werden, die bereits mit der Vollendung des 55. Lebensjahres in Anspruch genommen werden könne; die Wartezeit sei gegenüber einer Alterspension klarer definiert.

Änderungen erfuhr diese Bestimmung in der Folge durch das Strukturanpassungsgesetz 1996, BGBl 1996/201: Mit Wirksamkeit vom 1.7.1996 (§ 255 Abs 1 Z 4 BSVG) wurde der Begriff "dauernd" aus der Überschrift und dem Abs 1 gestrichen. Mit Wirksamkeit vom 1.9.1996 (§ 255 Abs 1 Z 4 BSVG) wurde im Einleitungssatz des § 122c Abs 1 BSVG der Ausdruck "der (die) Versicherte nach Vollendung des 55. Lebensjahres" durch den Ausdruck "der Versicherte nach Vollendung des 57. Lebensjahres, die Versicherte nach Vollendung des 55. Lebensjahres" ersetzt.

Die Gesetzesmaterialien führen für die Neuregelung budgetäre Gründe ins Treffen; durch verschiedene Maßnahmen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit, darunter auch die Anhebung des Pensionsalters für den Anspruch auf vorzeitige Alterspension wegen Erwerbsunfähigkeit und die dadurch erzielte Einsparung solle das Ziel einer finanziellen Konsolidierung des Bundeshaushaltes erreicht werden.

Der Oberste Gerichtshof hat aus folgenden Erwägungen Bedenken gegen die Vereinbarkeit des oben dargestellten, erst seit 1.9.1996 geltenden unterschiedlichen Anfallsalters ("Rentenalters") für Männer und Frauen mit dem Gemeinschaftsrecht und Zweifel an dessen Auslegung:

Artikel 1 der Richtlinie des Rates zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (79/7/EWG vom 19.12.1978 - im folgenden kurz Richtlinie) umschrieb als Ziel der Regelung, daß auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit und der sonstigen Bestandteile der sozialen Sicherung im Sinne von Artikel 3 der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit schrittweise verwirklicht wird. Die Richtlinie findet gemäß ihrem Artikel 3 unter anderem auf die gesetzlichen Systeme Anwendung, die Schutz gegen Invalidität und Alter bieten. Der Grundsatz der Gleichbehandlung beinhaltet gemäß Artikel 4 den Fortfall jeglicher unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes, insbesonder unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand und zwar betreffend:

Gemäß Artikel 5 haben die Mitgliedsstaaten die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, daß die mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung unvereinbaren Rechts- und Verwaltungsvorschriften beseitigt werden, wobei die entsprechenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften gemäß Artikel 8 so in Kraft zu setzen sind, daß der Richtlinie binnen sechs Jahren nach ihrer Bekanntmachung nachgekommen wird.

Vorbehalte finden sich in Artikel 7 Abs 1. Danach steht die Richtlinie unter anderem nicht der Befugnis der Mitgliedsstaaten entgegen, die Festsetzung des Rentenalters für die Gewährung der Altersrente oder Ruhestandsrente und etwaige Auswirkungen daraus auf andere Leistungen von ihrem Anwendungsbereich auszuschließen (Buchstabe a). Nach Absatz 2 dieser Norm haben die Mitgliedsstaaten in regelmäßigen Abständen die aufgrund des Absatz 1 ausgeschlossenen Bereiche zu überprüfen, um festzustellen, ob es unter Berücksichtigung der sozialen Entwicklung in dem Bereich gerechtfertigt ist, die betreffenden Ausnahmen aufrechtzuerhalten.

Der Europäische Gerichtshof vertritt in ständiger Judikatur den Standpunkt, daß sich ein Betroffener seit dem 23. Dezember 1984 (Ablauf der Sechsjahresfrist) auf Artikel 4 der Richtlinie berufen kann, um innerstaatlich eine Gleichbehandlung im Sinne der Richtlinie zu erreichen (unmittelbare Wirkung - Urteil vom 04.12.1986 Rs 71/85 in der Rechtssache Federatic Nederlandse Vakbeweging/Niederländischer Staat; Urteil vom 24.3.1987, Rs 286/85 in der Rechtssache Norah McDermott u Ann Cotter/Minister for Social Welfare u Attorney - General und andere).

Der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union mit Wirksamkeit vom 1.1.1995 erhob die Gemeinschaftsrechtsordnung auf der Grundlage des bisher Erreichten ("acquis communautaire") zum teilweise gleichberechtigten, teilweise Vorrang genießenden Bestandteil der österreichischen Rechtsordnung. Gegenstand des Bestandes der Gemeinschaftsrechtsordnung ist damit auch die Richtlinie 79/7/EWG sowie die dazu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.

Gegen die Vereinbarkeit der Bestimmung des § 122c BSVG in der für dieses Verfahren maßgeblichen Fassung mit der Richtlinie 79/7/EWG bestehen aus zwei Gründen bedenken:

1. Für den Anspruch auf die Leistung einer vorzeitigen Alterspension wegen Erwerbsunfähigkeit sind für Männer und Frauen unterschiedliche Altersgrenzen vorgesehen. Diese Versicherungsleistung wird im Gesetz wohl als "Alterspension" bezeichnet, ihrem Charakter nach handelt es sich jedoch, wie auch der oben dargestellte historische Werdegang der Bestimmung zeigt, in Wahrheit um einen Pensionsanspruch aus dem Titel der geminderten Erwerbsfähigkeit (Erwerbsunfähigkeit, Invalidität). Es erscheint insbesondere fraglich, ob allein der Umstand, daß eine Leistung, die über 20 Jahre hindurch als Pension wegen Erwerbsunfähigkeit (Risiko der Invalidität im Sinne des Artikels 3 Absatz 1 Buchstabe a 2. Fall der Richtlinie) geleistet wurde und die in ihren Anspruchsvoraussetzungen weiterhin primär auf die geminderte Erwerbsfähigkeit des Leistungswerbers abstellt, allein wegen der nunmehrigen Bezeichnung als vorzeitige Alterspension der Ausnahmeregelung des Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie unterstellt werden kann, die allein eine unterschiedliche Regelung des Anfallsalters zulässig machen würde, zumal der Europäische Gerichtshof die Ansicht vertritt, daß die in Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie normierte Ausnahmeregelung eng auszulegen ist (Urteil vom 30.3.1993, Rs C-328/91 in der Rechtssache Secretary of State for Social Security/E. Thoma ua). Nach der Rechtsprechung des EuGH ist für die Beurteilung einer Leistung aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht nicht deren Einordnung nach dem jeweiligen nationalen Recht, sondern die generelle Zielsetzung aus internationaler Sicht maßgebend. Wäre demnach Art 7 Abs 1 Buchstabe a der Richtlinie so auszulegen, daß die von den Klägern begehrte Pension aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht nicht als Altersrente oder Ruhestandsrente, sondern als Invaliditätsleistung zu klassifizieren ist, dann wäre eine unterschiedliche Behandlung von Frauen und Männern unzulässig.

2. Aus der Fassung des Artikel 7, insbesondere dessen Absatz 2 sowie den gesamten Intentionen der Richtlinie ist abzuleiten, daß es sich bei den Ausnahmeregelungen des Artikel 7 Absatz 1 um solche handelt, die von den Mitgliedsstaaten für eine bestimmte Übergangszeit aufrechterhalten werden dürfen, wobei aber letztlich die Grundsätze der Gleichbehandlung auch in diesen Bereichen verwirklicht werden sollen (in diesem Sinne auch das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 07.07.1992 Rs C-9/91 in der Rechtssache The Queen/Secretary of State für Social Security, dazu insbesondere auch die Schlußanträge des Generalanwaltes Walter von Gerven vom 12.5.1992; Urteil vom 30.03.1993, Rs C-328/91 in der Rechtssache Secretary of State for Social Security/E. Thoma ua). In seinem Urteil vom 07.07.1994 Rs C-420/92 in der Rechtssache Elizabeth Bramhill/Chief Adjudication Officer wurde eine Regelung für richtlinienkonform angesehen, derzufolge Zuschläge zu langfristigen Leistungen für den Ehegatten, die ursprünglich nur für Männer vorgesehen waren, nunmehr auch Frauen gewährt werden, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Der Gerichtshof führte auch in diesem Fall aus, die Richtlinie 79/7/EWG habe zum Ziel, daß der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit schrittweise verwirklicht werde. Eine Auslegung, die darauf hinausliefe, daß ein Mitgliedsstaat, was Leistungen angehe, die er vom Anwendungsbereich der Richtlinie gemäß Artikel 7 Absatz 1 lit d ausgeschlossen habe, sich dann nicht mehr auf die Ausnahmeregelung in dieser Bestimmung stützen könne, wenn er eine Maßnahme träfe, die wie die im Ausgangsverfahren streitige bewirke, daß das Ausmaß einer Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechtes verringert werde, wäre mit diesem Ziel unvereinbar und könnte die Verwirklichung des genannten Grundsatzes gefährden.

Aus diesen Ausführungen ergibt sich, daß der Gerichtshof Regelungen für zulässig erachtet, die bestehende Differenzierungen, wenn auch vorerst nur teilweise, beseitigen und damit zu einem schrittweisen Abbau von Ungleichbehandlungen im Rahmen der Ausnahmeregelungen führen; sie weisen aber auch darauf hin, daß Änderungen von diskriminierenden Bestimmungen im Bereich der Ausnahmeregelungen des Artikel 7 Absatz 1 nur in Richtung eines solchen Abbaues von Ungleichbehandlungen für richtlinienkonform erachtet werden. Ausgehend davon scheint die Neufassung des § 122c Abs 1 BSVG durch

Artikel 36 Z 47 des Strukturanpassungsgesetzes 1996 gegen die Richtlinie zu verstoßen; es wurde damit ein Schritt in die umgekehrte Richtung gesetzt, zumal die Neuregelung nach Wirksamkeitsbeginn der Richtlinie auch für den österreichischen Rechtsbereich eine zuvor nicht bestandene Diskriminierung zwischen Männern und Frauen neu geschaffen hat.

Aus den dargelegten Gründen sind die betreffenden gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften der Richtlinie 79/7/EWG für die Urteilsfindung des Obersten Gerichtshofes in den anhängigen Rechtssachen von entscheidender Bedeutung. Da über deren Auslegung jedoch Zweifel bestehen, sind die Voraussetzungen des Art 177 EG-Vertrag erfüllt, so daß dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften die eingangs gestellten Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen waren.

Im Hinblick darauf, daß es sich in allen genannten Rechtssachen um völlig gleichgelagerte Fälle handelt, erschien dem Obersten Gerichtshof eine Verbindung der Rechtssachen zur gemeinsamen Durchführung des Vorabentscheidungsverfahrens im Sinne des § 187 ZPO zweckmäßig (vgl Bernhard Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 40).

Die Aussetzung der Revisionsverfahren bis zur Beendigung des Vorabentscheidungsverfahrens beruht auf § 90a Gerichtsorganisationsgesetz (GOG).

Rückverweise