JudikaturOGH

10ObS2425/96g – OGH Entscheidung

Entscheidung
28. Januar 1997

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Ehmayr und Dr.Danzl als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr.Peter Krüger und Dr.Martin Gleitsmann (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Aloisia H*****, vertreten durch Dr.Johannes Grund und Dr.Wolf D.Polte, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Bauern, 1030 Wien, Ghegastraße 1, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Pflegegeld infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 3.September 1996, GZ 12 Rs 211/96b-18, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Ried im Innkreis als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 2.Juli 1996, GZ 14 Cgs 14/96k-13, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichtes wird dahingehend abgeändert, daß das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei zu Handen ihrer Vertreter binnen 14 Tagen die mit S 4.058,88 (hierin enthalten S 679,48 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten der Revision zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 12.10.1909 geborene Klägerin bezieht seit dem 1.2.1995 das Pflegegeld der Stufe 4. Sie ist in einem Einzelzimmer im ersten Stock eines Pflegeheimes untergebracht. Seit ca. 1 Jahr (bezogen auf dem Zeitpunkt des Schlusses der Verhandlung erster Instanz am 29.4.1996, sohin seit ca. Anfang 1995) ist sie bettlägerig, hauptsächlich bedingt durch eine hochgradige Adipositas und eine inaktivitätsbedingte zunehmende Muskelschwäche sowie durch die Arthrosen der Gelenke der unteren Extremitäten. Zudem leidet die Klägerin an Gelenkschmerzen und zeitweise auftretenden Schwindelzuständen. Sie benötigt Hilfe zum Aufsetzen und beim Querbettsitzen. Ein Rollstuhl ist nicht vorhanden. Wegen der eingeschränkten Armbeweglichkeit und der Muskelschwäche wäre nur ein elektrisch betriebener Rollstuhl verwendbar.

Folgende lebenswichtige Verrichtungen des personenbezogenen Betreuungsaufwandes sind nur mit fremder Hilfe möglich:

Tägliche Körperpflege; Zubereitung einfacher warmer Mahlzeiten; Verrichtung der Notdurft (es besteht Harn- und Stuhlinkontinenz, während der täglichen Körperpflege wird die Klägerin auf den Leibstuhl gesetzt), Ein- und Auskleiden.

Nur teilweise ohne fremde Hilfe ist möglich das Einnehmen der Mahlzeiten (wegen der stark eingeschränkten Beweglichkeit der Arme und wegen der Armschmerzen kann die Klägerin nur breiige Kost mit Löffel zu sich nehmen; mit Messer und Gabel kann sie nicht essen, sodaß ihr feste Speisen eingegeben werden müssen).

Ein Betreuungsaufwand ist auch für die Reinigung bei Inkontinenz und die Verabreichung von Medikamenten erforderlich.

Folgende sachbezogene Verrichtungen sind nur mit fremder Hilfe möglich:

Die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten; die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände; das Waschen der Leib- und Bettwäsche; die Beheizung des Wohnraumes (die Klägerin kann auch den Heizkörper in ihrem Zimmer nicht bedienen).

Ein Umlagern der Klägerin in der Nacht ist zufolge Vorhandenseins einer Antidecubitusmatratze nicht erforderlich.

Infolge ihrer bestehenden Harn- und Stuhlinkontinenz ist es erforderlich, sie entsprechend zu wickeln. Dieses Wickeln ist zwar durch Aufteilung auf 5 Pflegeeinheiten möglich. Dies hat bzw kann aber zur Folge haben, daß bei Stuhlgang außerhalb dieser Pflegeeinheiten die Klägerin mehr oder weniger lange Zeit "im Kot" zu liegen kommt.

Im Zimmer der Klägerin befindet sich eine Glocke, mit der Pflegepersonal herbeigerufen werden kann. Auf Grund ihres Zustandes ist die Klägerin allerdings nicht mehr in der Lage, diese Glocke zu bedienen (Feststellung des Erstgerichtes, welche von der beklagten Partei bekämpft wurde, ohne daß sich das Berufungsgericht allerdings mit dieser Beweisrüge inhaltlich auseinandersetzte).

Mit dem bekämpften Bescheid wies die beklagte Partei den Antrag der Klägerin auf Erhöhung des Pflegegeldes ab.

Hiegegen erhob ihr Behandlungsarzt fristgerecht "Einspruch" mit dem Antrag auf Erhöhung des Pflegegeldes auf die Stufe 5. Dieses Begehren wurde über Verbesserungsauftrag des Gerichtes fristgerecht durch die Klägerin selbst als Klage wiederholt.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es beurteilte den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt rechtlich dahingehend, daß bei der Klägerin von einem außergewöhnlichen Pflegeaufwand im Sinne des § 6 EinstV gesprochen werden könne, da durch die Unmöglichkeit einer Glockenbetätigung und insbesondere der bestehenden Stuhlinkontinenz samt Wartenmüssen in diesem Zustand unter Umständen bis zu einer entsprechenden späteren Reinigung eine menschenwürdige koordinierte Pflege auch im Sinne der Richtlinien für die einheitliche Anwendung des Bundespflegegeldgesetzes (BPGG) nicht mehr möglich sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und wies das Klagebegehren ab. Der Gesetzgeber unterscheide beim Ausmaß des Pflegebedarfes zwischen Hilfe- und Betreuungsbedürftigkeit, welche durch den zeitlichen Umfang der Pflegemaßnahmen definiert werde, und Pflegebedarf, für den neben einem Mindestaufwand von über 180 Stunden im Monatsschnitt auch andere Kriterien maßgebend seien, also das Erfordernis besonders qualifizierter Pflege indiziert sei. Wie sich aus § 1 Abs 3 und 4 EinstV ergebe, werde der mit Inkontinenz verbundene Pflegeaufwand vom Gesetzgeber erkennbar als zeitlicher und nicht als qualitativer Pflegeaufwand gesehen. Insofern spreche daher nichts dagegen, daß im Regelfall trotz der Inkontinenz mit einer koordinierten Pflege im Sinne des § 15 der Richtlinien das Auslangen gefunden werde, insbesondere dann, wenn die Patientin wie hier an Verstopfung leide, also die Befürchtung des Erstgerichtes, daß sie stundenlang im Kot liegen müsse, "wohl übertrieben" sei. Diese Richtlinien seien zwar für das Gericht nicht unmittelbar verbindlich, doch bestünden keine Bedenken, sie als Auslegungshilfe heranzuziehen. Da bei der Klägerin 5 Pflegeeinheiten genügten, um eine entsprechende Betreuung herbeizuführen, also kein außergewöhnlicher Pflegebedarf im Sinne des Erfordernisses der Bereitschaft einer Pflegeperson bestehe, sei das auf Erhöhung des Pflegegeldes auf Stufe 5 gerichtete Klagebegehren nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Gegen dieses Urteil richtet sich die auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte, gemäß § 46 Abs 3 ASGG auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässige und von der beklagten Partei nicht beantwortete Revision der Klägerin mit dem Antrag, dieses im Sinne der Entscheidung des Erstgerichtes abzuändern; hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Revisionsausführungen lassen sich dahingehend zusammenfassen, daß die EinstV zum BPGG - anders als die Richtlinien - keine Unterscheidung zwischen koordinierter und unkoordinierter Pflege kenne. Da die Klägerin nicht in der Lage sei, durch ihre an ihrem Bett befindliche Klingel bei Bedarf eine Pflegeperson herbeizurufen, was aber wiederum bedeute, daß die Pflegepersonen in regelmäßigen kürzeren Zeitabständen immer wieder bei der Klägerin vorbeischauen müßten, ob eine Pflege (insbesondere nach einem Stuhl- oder Harnabgang) notwendig sei, liege außergewöhnlicher Pflegeaufwand vor. Selbst nach § 17 der Richtlinien des Hauptverbandes sei damit aber eine Einstufung in der Höhe der Stufe 5 vorzunehmen, weil die dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson (erster Fall) erforderlich sei.

Hiezu hat der Oberste Gerichtshof folgendes erwogen:

1.) Nach § 4 Abs 2 BPGG (idF der Novelle BGBl 1995/131) gebührt Pflegegeld der Stufe 4 - abgesehen von den weiteren, hier nicht strittigen Voraussetzungen - Personen, deren Pflegebedarf nach Abs 1 durchschnittlich mehr als 180 Stunden beträgt. "Wenn ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand erforderlich ist", gebührt Personen, deren Pflegebedarf nach Abs 1 ebenfalls durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, Pflegegeld der Stufe 5. Ein solcher außergewöhnlicher Pflegeaufwand liegt nach § 6 EinstV BGBl 1993/314 vor, "wenn die dauernde Bereitschaft, nicht jedoch die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson erforderlich ist". In seinen Entscheidungen 10 ObS 2324/96b und 10 ObS 2434/96f hat der Oberste Gerichtshof erst jüngst hiezu ausgeführt, daß dauernde Bereitschaft dahingehend zu verstehen sei, daß der Pflegebedürftige jederzeit Kontakt mit der Pflegeperson aufnehmen und diese in angemessener Zeit die erforderliche Betreuung und Hilfe leisten kann oder die Pflegeperson von sich aus in angemessenen Zeitabständen Kontakt mit dem Pflegebedürftigen aufnimmt. Nach den Feststellungen des Erstgerichtes ist zumindest letzteres gegeben, da die Versorgung der Klägerin - insbesondere auch ihr von den Vorinstanzen unterschiedlich gewertetes Wickeln zufolge bestehender Harn- und Stuhlinkontinenz - im Pflegeheim im Rahmen von 5 Pflegeeinheiten pro Tag bewerkstelligt wird; offen und ungeklärt ist allerdings, ob es der Klägerin auch möglich ist (wäre), jederzeit (also auch außerhalb dieser Pflegeeinheit) Kontakt mit diesen Pflegepersonen aufzunehmen, da die Feststellung des Erstgerichtes, wonach sie die in ihrem Zimmer vorhandene Glocke zufolge ihres Zustandes nicht bedienen kann, von der beklagten Partei im Rahmen ihrer Beweisrüge zur Berufung bekämpft, vom Berufungsgericht jedoch (aus rechtlichen Erwägungen) unbehandelt gelassen wurde. Wie noch auszuführen sein wird, ist diese Feststellung weder für sich allein noch im Zusammenhalt mit den übrigen (unbekämpften) Feststellungen der Vorinstanzen allerdings entscheidungsrelevant.

2.) Nach § 17 Abs 2 Z 1 der Richtlinien des Hauptverbandes der Österreichischen Sozialversicherungsträger für die einheitliche Anwendung des BPGG, Amtliche Verlautbarung Nr. 120/1994, kundgemacht in SozSi 1994, 686, soll Pflegegeld der Stufe 4 Personen gebühren, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, "wobei eine koordinierte Pflegeleistung bis zu 5 Einheiten täglich zu erbringen ist"; (nach Abs 1 ist unter "Einheit" eine "Pflegeverrichtung oder eine Summe von Pflegeverrichtungen zu verstehen, die unabhängig von ihrer Art und Dauer ohne wesentliche Unterbrechung in einem zeitlichen Zusammenhang erbracht wird"; so auch Z 12 Abs 3 des Konsensuspapiers, Fassung Mai 1996, zur Vereinheitlichung der ärztlichen Begutachtung nach dem BPGG) nach Z 2 der Richtlinien sei Voraussetzung für ein Pflegegeld der Stufe 5 das Erfordernis der "dauernden Bereitschaft einer Pflegeperson" (lit a) oder daß "die Pflegeperson von sich aus eine koordinierte Pflegeleistung von mehr als 5 Einheiten täglich zu erbringen hat" (lit b). Nach dem bereits erwähnten Konsensuspapier habe die Pflegeperson für Stufe 5 hingegen sogar "von sich aus eine koordinierte Pflege in 6 bis 10 Einheiten täglich" zu erbringen, wobei der Begriff der "Pflegeeinheit" gleich wie in den Richtlinien umschrieben wird.

Da sowohl das Erstgericht als auch die Revisionswerberin ausdrücklich auf diese Richtlinien zur Stützung ihres (insoweit übereinstimmenden) Rechtsstandpunktes verweisen, ist es erforderlich, zur Rechtsnormqualität derselben Stellung zu nehmen.

3.) Die erwähnten Richtlinien bezeichnen in ihrem § 1 als Grundlage für die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit einerseits § 4 Abs 1 bis 5 BPGG, andererseits die EinstV des BMAS. Nach § 2 gelten die Richtlinien für alle Pensions- und Unfallversicherungsträger. Im zweiten Abschnitt "Betreuung" (§ 3 bis 10) und im dritten Abschnitt "Hilfe" (§ 11 bis 14) werden die bereits in der Einstufungsverordnung enthaltenen Begriffe Zeitaufwand, tägliche Körperpflege, Zubereitung und Einnahme von Mahlzeiten, Verrichtung der Notdurft, An- und Auskleiden, Einnahme von Medikamenten, Mobilitätshilfe im engeren Sinn, Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, Reinigung der Wohnung, der persönlichen Gebrauchsgegenstände, Beheizung des Wohnraumes einschließlich Herbeischaffung von Heizmaterial und Mobilitätshilfe im weiteren Sinn näher erläutert und teilweise über die EinstV hinausgehend umschrieben. Der 4. Abschnitt (§ 15 bis 17) nimmt eine Differenzierung der Pflegestufen 4, 5, 6 und 7 vor, der 5. Abschnitt (§ 18 bis 20) regelt die geistige oder psychische Behinderung, der 6. Abschnitt (§ 21 und 22) befaßt sich mit "Diagnosebezogenen Mindesteinstufungen" bei Sehbehinderung und bei Rollstuhlfahrern. Im 7. Abschnitt (§ 23 bis 25) werden die Begriffe Alter, Heimpflege und verstorbene Antragsteller umschrieben, der 8. und letzte Abschnitt (§ 26 bis 31) enthält Vorschriften über die Administration.

Es stellt sich somit die Frage, ob diese Richtlinien des Hauptverbandes auch für die zur Entscheidung in Sozialrechtssachen (Pflegegeldleistungen: § 65 Abs 1 Z 1 ASGG) berufenen Gerichte verbindlich sind. Dies ist jedoch aus folgenden Erwägungen zu verneinen:

a) Dem Hauptverband der Österreichischen Sozialversicherungsträger obliegt nach § 31 Abs 2 Z 3 ASVG die Erstellung von Richtlinien zur Förderung oder Sicherstellung der gesamten wirtschaftlichen Tragfähigkeit, der Zweckmäßigkeit und der Einheitlichkeit der Vollzugspraxis der Sozialversicherungsträger. Im § 31 Abs 5 findet sich der Katalog jener Materien, über die der Hauptverband Richtlinien aufzustellen hat; darunter auch solche für die einheitliche Anwendung des BPGG (Z 23). Diese Richtlinien sind aufgrund der ausdrücklichen Anordnung des § 31 Abs 6 ASVG für die im Hauptverband zusammengefaßten Versicherungsträger verbindlich. Lediglich ausnahmsweise wird eine darüber hinausreichende Verbindlichkeit angeordnet, wie im § 31 Abs 5 Z 10 für die Richtlinien über die Berücksichtigung ökonomischer Grundsätze bei der Krankenbehandlung: Diese sind nach ausdrücklicher Anordnung des Gesetzgebers auch für die Vertragspartner bindend. Alle diese Richtlinien bedürfen nach § 31 Abs 8 ASVG der Beurkundung des gesetzmäßigen Zustandekommens durch den BMAS und sind sodann in der Fachzeitschrift "Soziale Sicherheit" zu verlautbaren.

Soweit die Richtlinien nach der entsprechenden gesetzlichen Ermächtigung im ASVG durch Beschluß des Hauptverbandes erlassen und entsprechend kundgemacht sind, haben sie als generelle rechtsverbindliche Anordnung einer Verwaltungsbehörde nach herrschender Auffassung die Qualität von Rechtsverordnungen (Korinek in Tomandl, SV-System, 7. ErgLfg 510 mwN; Grillberger, Österr. Sozialrecht3, 105). Als bloße generelle Weisungen oder Verwaltungsverordnungen (vgl Tomandl, Probleme des Hilflosenzuschusses, ZAS 1979, 130 [134]; derselbe, Grundriß des österr. Sozialrechts4, 194 [Rz 256]), sind sie schon deshalb nicht zu qualifizieren, weil die einzelnen Sozialversicherungsträger keine dem Hauptverband untergeordneten Verwaltungsorgane, sondern selbständige Rechtssubjekte sind (zutreffend Pfeil, Ein nicht gewährter Hilflosenzuschuß, DRdA 1990, 74 [76 mwN bei FN 10]; derselbe, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich, 181), sodaß es an einer organisationsrechtlichen Über- und Unterordnung fehlt.

b) Aus der Bindung der Versicherungsträger an diese Richtlinien folgt freilich - entgegen mehrfach vertretener Auffassung (Korinek, Grillberger und Pfeil, jeweils aaO) - noch nicht deren Verbindlichkeit für die Gerichte. Infolge der Kundmachung fällt zwar ein wesentliches Argument weg, das gegen die Verbindlichkeit der seinerzeitigen Richtlinien zum Hilfslosenzuschuß auch für die Gerichte ins Treffen geführt wurde (Tomandl aaO, auf den der OGH in den Entscheidungen SSV-NF 1/46 = SZ 60/223, ZAS 1988, 53/5 und JBl 1988, 64 verwiesen hat). Auch wenn nunmehr alle zur Entscheidung in Pflegegeldangelegenheiten berufenen Sozialversicherungsträger (und nicht nur die Pensionsversicherungsträger) vom Geltungsbereich der verlautbarten Richtlinien erfaßt sind, ist an der Qualität der Richtlinien als nur die Sozialversicherungsträger bindende Norm keine Änderung eingetreten. Zunächst einmal ist unbestritten, daß der Hauptverband nur die Sozialversicherungsträger, nicht aber die übrigen nach § 22 BPGG zur Entscheidung berufenen Träger zu binden vermag (Gruber/Pallinger, BPGG Rz 77 zu § 4). Daß dennoch die Richtlinien möglicherweise als Hilfsmittel für die Interpretation der jeweiligen Begriffe im BPGG auch im Hinblick auf Pflegegeld herangezogen werden könnten, für deren Gewährung nicht die Sozialversicherungsträger zuständig sind (so Pfeil aaO), ist kein zwingendes Argument für die Verbindlichkeit der Richtlinien für die Gerichte; auch andere Interpretationshilfen wie Gesetzesmaterialien oder Lehrmeinungen im juristischen Fachschrifttum haben keine verbindliche Kraft. Ferner wäre es ungewöhnlich, daß der Gesetzgeber dem BMAS eine den gesamten Personenkreis des BPGG umfassende Verordnungsermächtigung einräumt (§ 4 Abs 5, nunmehr Abs 3 BPGG), darüber hinaus aber für einen Teil dieses Personenkreises eine noch nähere Ausführung des Gesetzes durch eine weitere Rechtsverordnung einem anderen Verordnungsgeber überträgt (Gruber/Pallinger, aaO), wenngleich dies keinen entscheidenden Einwand gegen die Verbindlichkeit der Richtlinien darzustellen mag (Pfeil, BPGG 82).

c) Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofes sind jedoch folgende Umstände ausschlaggebend (so auch jüngst 10 ObS 2349/96f, 10 ObS 2396/96t und 10 ObS 2424/96k, sämtliche vom 13.12.1996):

Wenngleich sich die Richtlinien für die einheitliche Anwendung des BPGG auf die Versicherten bzw Pflegegeldbeansprucher als davon Betroffene auswirken mögen, so sind doch die genannten Personenkreise nicht Adressanten der Richtlinien; der Hauptverband hat keine generelle gesetzliche Ermächtigung, Rechtsnormen im Zusammenhang mit der Zuerkennung von Pflegegeld für Dritte zu erlassen; er kann daher insbesondere Ansprüche von Versicherten bzw Pflegebedürftigen weder schaffen noch begrenzen. § 31 Abs 6 ASVG spricht folgerichtig (anders als etwa § 31 Abs 5 Z 10 ASVG) auch nur von einer Verbindlichkeit der Richtlinien für die im Hauptverband zusammengefaßten Versicherungsträger. Umsoweniger besteht irgendeine gesetzliche Ermächtigung des Hauptverbandes, für Gerichte verbindliche Normen auf dem Gebiet der Pflegevorsorge zu erlassen. Die Richtlinien haben nicht die Aufgabe, für andere Rechtsanwender zu präzisieren, wann ein Anspruch auf Pflegegeld besteht, sondern den Zweck, die Versicherungsträger zu einer gleichmäßigen Rechtsanwendung anzuleiten (arg "Einheitlichkeit der Vollzugspraxis der Sozialversicherungsträger" in § 31 Abs 2 Z 3 ASVG). Die Entscheidung über den Anspruch auf Pflegegeld ist durch § 65 Abs 1 ASGG letztlich den Gerichten zugewiesen; soweit ein Gesetz die Vollziehung einem Gericht übertragen hat, kann die Konkretisierung des Gesetzes mittels einer Verordnung nur insoweit durch eine Verwaltungsbehörde erfolgen, als dies das Gesetz ausdrücklich oder erkennbar vorsieht. Die Konkretisierungskompetenz wurde durch § 4 Abs 3 BPGG ausschließlich dem BMAS zugewiesen, nicht aber dem Hauptverband.

Eine Bindung der Gerichte an die Richtlinien des Hauptverbandes wäre im übrigen im Interesse einer Entscheidungsharmonie höchstens dann sachgerecht, wenn die Sozialgerichte die Aufgabe hätten, die von den Trägern der Sozialversicherung erlassenen und von den Versicherten bekämpften Bescheide zu überprüfen. Dies ist aber gerade nicht der Fall. Dem Grundsatz der sukzessiven Zuständigkeit entsprechend haben die Sozialgerichte vielmehr über die vom Versicherten mit einer Klage geltend gemachten sozial(versicherungs)rechtlichen Ansprüche nach Abschluß des mit einem darüber absprechenden Bescheid des Versicherungsträgers beendeten Verwaltungsverfahrens in einem eigenen, selbständigen Verfahren zu entscheiden (Kuderna, ASGG**2 441 Anm 1 zu § 67; 10 ObS 2189/96a). Die Erhebung der Klage beseitigt gemäß § 71 Abs 1 ASGG den "angefochtenen" Bescheid des Trägers und setzt ein vollkommen neues erstinstanzliches Verfahren in Gang. Das Gericht kann den - durch die Klage außer Kraft getretenen - Bescheid weder "abändern" noch "bestätigen" oder "aufheben", wie dies einem Rechtsmittelverfahren entsprechen würde (vgl Fink, Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen, 7 ff, 83 ff).

Aus all dem folgt, daß die Richtlinien zwar im Hinblick auf den einheitlichen Vollzug des BPGG durch die davon erfaßten Entscheidungsträger anzuwenden sind, jedoch keine verbindliche Kraft für die in Sozialrechtssachen berufenen Gerichte beanspruchen können. Insoweit ist auch dem Berufungsgericht in seiner Beurteilung zu den Richtlinien - im Ergebnis - beizupflichten (Seite 6 oben des Berufungsurteils).

4.) Die in den Richtlinien (siehe oben Punkt 2.) vorgegebene Abstellung auf eine koordinierte Pflegeleistung "von mehr als fünf" (nach dem für die Gerichte umsoweniger verbindlichen Konsensuspapier näherhin "6 bis 10") Pflegeeinheiten ist daher mangels Deckung im Gesetz (BPGG bzw ASVG) für die Gerichte nicht verbindlich. Eine derartige Vorgabe ist auch § 6 EinstV nicht zu entnehmen. Abzustellen ist daher einzig und allein darauf, ob bei der Klägerin eine "dauernde Bereitschaft" und damit aus diesem Kriterium abzuleitender "außergewöhnlicher Pflegeaufwand" erforderlich ist oder nicht. Diese Frage kann bereits nach den bisherigen Feststellungen des Erstgerichtes abschließend beantwortet werden. Aufgrund der unstrittigen Immobilität der nunmehr bereits im 88. Lebensjahr stehenden Klägerin ist nämlich eine dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson jedenfalls erforderlich, unabhängig davon, ob diese durch die im Zimmer befindliche Glocke von der Klägerin auch nach Bedarf herbeigerufen werden kann oder - mangels körperlichen Imstandeseins dazu - nicht. Es liegt auf der Hand, daß eine im festgestellten Ausmaß wie die Klägerin behinderte und zu sämtlichen lebenswichtigen Verrichtungen auf fremde Betreuung und Hilfe angewiesene Person, der selbst keinerlei sachbezogene Verrichtungen mehr möglich sind, einer solchen dauernden Bereitschaft bedarf, andernfalls sie "der Verwahrlosung ausgesetzt wäre" (§ 1 Abs 1 EinstV, § 4 Abs 1 BPGG). Auch wenn die Klägerin nicht selbst in der Lage ist, diese Pflegeperson jederzeit bei Bedarf herbeizurufen, so genügt es doch, daß diese Pflegeperson von sich aus in angemessenen Zeitabständen Kontakt mit der Pflegebedürftigen aufnimmt, insoweit aber dazu dauernd bereit ist (siehe nochmals 10 ObS 2324/96d und 10 ObS 2434/96f).

In Stattgebung der Revision war daher das angefochtene Urteil dahingehend abzuändern, daß das Urteil des Erstgerichtes wiederherzustellen war.

5.) Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens stützt sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

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