JudikaturOGH

11Os32/96-7(11Os33/96) – OGH Entscheidung

Entscheidung
26. März 1996

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 26.März 1996 durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Prof.Dr.Hager als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Schindler, Mag.Strieder, Dr.Mayrhofer und Dr.Schmucker als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag.Sild als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Dr.Robert L***** und andere wegen des Verbrechens des Mißbrauchs der Amtsgewalt nach § 302 Abs 1 StGB, in eventu des Verbrechens der Untreue unter Ausnützung einer Amtsstellung nach §§ 153 Abs 1 und Abs 2 zweiter Fall, 313 StGB, über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Beschlüsse der Untersuchungsrichterin des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 17.Februar 1995, GZ 22 b Vr 1353/88-283, sowie der Ratskammer des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 8.März 1995, GZ 22 b Vr 1353/88-285, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr.Tiegs, und der Verteidiger Univ.-Doz. Dr.Brandstätter und Dr.Strommer, jedoch in Abwesenheit des ehemals Beschuldigten Dr.Robert L*****, zu Recht erkannt:

Spruch

Im Verfahren zum AZ 22 b Vr 1353/88 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien verletzen

1.) der Beschluß der Untersuchungsrichterin des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 17.Februar 1995 (ON 283), womit der Antrag der Staatsanwaltschaft Wien vom 9.Februar 1995 auf Einvernahme eines Zeugen zur Vorbe- reitung eines Wiederaufnahmeantrages nach § 352 StPO zurückgewiesen wurde;

2.) der Beschluß der Ratskammer des Landes- gerichtes für Strafsachen Wien vom 8.März 1995 (ON 285), womit der Beschwerde der Staatsanwaltschaft Wien gegen den oben genannten Beschluß nicht Folge gegeben wurde,

das Gesetz in der Bestimmung des § 352 Abs 2 (iVm § 88 Abs 1) StPO.

Text

Gründe:

Nach Durchführung einer Voruntersuchung gegen Dr.Robert L***** u.a. wegen §§ 302 Abs 1, in eventu 153 Abs 1 und 2 zweiter Fall, 313 StGB, war das Verfahren AZ 22 b Vr 1353/88 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien von der Untersuchungsrichterin des Landesgerichtes für Strafsachen Wien mit Beschluß vom 27.Dezember 1990 (AS 3 bbb verso) gemäß § 109 Abs 1 StPO eingestellt worden.

Am 9.Februar 1995 stellte die Staatsanwaltschaft Wien den - durch ihre Stellungnahme vom 15.Februar 1995 (AS 3 ttt verso) aufrechterhaltenen und präzisierten - Antrag (AS 3 ttt), im Rahmen von Vorerhebungen zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrages betreffend Dr.Robert L***** nach § 352 StPO Peter M***** zeugenschaftlich zu der im (in Kopie angeschlossenen) Artikel "Waffenmillionen für die Parteien" des Nachrichtenmagazins "NEWS", Nr 4/95, wiedergegebenen Behauptung einzuvernehmen, "der ÖAAB habe im Zusammenhang mit einem umschrittenen Munitionskauf unter Verteidigungsminister Dr.Robert L***** ein paar Millionen gekriegt".

Diesen Antrag wies die Untersuchungsrichterin des Landesgerichtes für Strafsachen Wien mit Beschluß vom 17.Februar 1995 (ON 283) mit der Begründung zurück, § 352 Abs 2 erster Satz StPO lasse im Zusammenhalt mit § 357 Abs 2 StPO keinen Raum für ein dem Wiederaufnahmeverfahren vorangehendes "Erhebungs"-Verfahren sui generis, weil dieses im Widerspruch zur formellen und materiellen Rechtskraft von Einstellungsbeschlüssen stünde.

Der dagegen von der Staatsanwaltschaft Wien erhobenen Beschwerde (ON 284) gab die Ratskammer des Landesgerichtes für Strafsachen Wien mit Beschluß vom 8.März 1995 (ON 285) nicht Folge, wobei sie vor allem auf den Wortlaut des § 352 Abs 2 StPO hinwies.

Rechtliche Beurteilung

In den Entscheidungen sowohl der Unter- suchungsrichterin als auch der Ratskammer des Landes- gerichtes für Strafsachen Wien blieb, wie der General- prokurator in seiner zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, außer Betracht, daß eine - in ihrer Zweckmäßigkeit unbestrittene (vgl StP-AK-ThV X [Rechtsbehelfe, Wiederaufnahme]/II, 385 f) - Befugnis des Staatsanwaltes, sich vor (allfälliger) Stellung eines Wiederaufnahmeantrages die hiefür nötigen Entschei- dungsgrundlagen im Wege gerichtlicher Vorhebungen zu verschaffen, schon auf die allgemeinen Regelungen der Strafprozeßordnung gestützt werden kann; ist doch der öffentliche Ankläger gemäß § 88 Abs 1 StPO "überhaupt" berechtigt, durch den Untersuchungsrichter, durch die Bezirksgerichte oder durch die Sicherheitsbehörden Vorer- hebungen führen zu lassen, sofern diese die Erlangung der nötigen Anhaltspunkte für die Veranlassung des Strafver- fahrens wider eine bestimmte Person - worunter auch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zu verstehen ist - oder für die Zurücklegung der Anzeige zum Ziel haben.

Entgegen der Ansicht der Untersuchungsrichterin des Landesgerichtes für Strafsachen Wien steht der Vornahme einer solchen für nötig befundenen (§ 352 Abs 2 StPO) gerichtlichen Vorerhebung auch die Rechtskraftwirkung des Einstellungsbeschlusses, also der auch durch Art 4 Abs 1 des 7.Zusatzprotokolls zur MRK garantierte - sich aber auch aus den Bestimmungen der StPO selbst (insbesondere ihres XX.Hauptstückes) ergebende - Grundsatz "ne bis in idem" nicht entgegen; denn das Wiederaufnahmeverfahren bildet in seiner Gesamtheit eine in der Prozeßordnung vorgesehene Durchbrechung dieses Grundsatzes, deren Zulässigkeit in Art 4 Abs 2 des erwähnten Zusatzprotokolles anerkannt wird. Nach dieser Bestimmung ist nämlich die Wiederaufnahme sogar des mit rechtskräftigem Freispruch beendeten Verfah- rens nach dem Gesetz und Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates ua dann nicht ausgeschlossen, falls neue oder neu bekanntgewordene Tatsachen vorliegen.

Der Begriff der Wiederaufnahme, der (auch iS der oa Konventionsbestimmung) alle Maßnahmen im Rahmen des iudicium rescindens, sohin insbesondere Vorerhebungen nach §§ 352 Abs 2 und 357 Abs 2 StPO umfaßt, erstreckt sich auf Grund der Bestimmungen des IX.Hauptstückes der StPO auch auf gerichtliche, im gegebenen Sachzusammenhang der materiellen Prüfung auf ihre Notwendigkeit unterliegende Erhebungen zur Vorbereitung eines staatsanwaltschaftlichen Wiederaufnahmeantrages. Im übrigen tritt in letzteren vom Ankläger veranlaßten Vorerhebungen, nämlich selbst dann, wenn sie seine Antragstellung zum Nachteil des außer Verfolgung Gesetzten oder Freigesprochenen (§§ 352, 355 StPO) oder (allenfalls zu milde) Verurteilten (§ 356 StPO) vor- bereiten sollen, mangels Begründung eines Prozeßrechtsverhältnisses der richterliche Wille zu neuerlicher Verfoglung nicht mit gleicher Intensität zutage wie bei den vom Gesetz ausdrücklich eingeräumten Vorerhebungen zur Prüfung eines bereits in dieser Richtung gestellten Wiederaufnahmeantrages. Die Führung von Vorer- hebungen über einen Wiederaufnahmeantrag setzt nämlich bereits die Abstandnahme des Gerichtes von der für den Antragsgegner am wenigsten belastenden Vorgangsweise der sofortigen Ablehnung der Wiederaufnahme voraus. Auch unter diesem Gesichtspunkt zeigt sich demnach, daß zur Klärung der mutmaßlichen Prämissen für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens Vorerhebungsakte vor Stellung eines diesbezüglichen Antrages in dem durch § 352 Abs 2 StPO begrenzten Umfang zulässig sind.

Daraus folgt, daß sowohl die Unter- suchungsrichterin als auch die Ratskammer des Landesge- richtes für Strafsachen Wien durch ihre bloß formell mit der Unzulässigkeit des Vorerhebungsantrages der Staatsanwaltschaft begründeten Beschlüsse das Gesetz in der Bestim- mung des § 352 Abs 2 (iVm § 88 Abs 1) StPO verletzt haben.

Da sich die Gesetzesverletzung nicht zum Nach- teil des ehemals Beschuldigten ausgewirkt hat, muß es mit ihrer Feststellung sein Bewenden haben.

Rückverweise