10ObS280/94 – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr.Herbert Vesely (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Werner Fendrich (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Drena B*****, ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr.Reinfried Eberl, Rechtsanwalt in Salzburg, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien. Roßauer Lände 3, wegen Invaliditätspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 13.September 1994, GZ 12 Rs 74/94-27, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Salzburg als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 14. Februar 1994, GZ 20 Cgs 15/93-17, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten der Berufung und der Revision sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Mit Bescheid vom 15.12.1992 lehnte die Beklagte den am 27.7.1992 gestellten Antrag der Klägerin auf Invaliditätspension mangels Invalidität ab.
Das auf die genannte Leistung im gesetzlichen Ausmaß ab 1.8.1992 gerichtete Klagebegehren stützte sich zunächst nur darauf, daß die in den letzten 15 Jahren überwiegend als Serviererin tätig gewesene Klägerin nicht mehr berufstätig sein könne, weil sie an Aufbrauchserscheinungen der gesamten Wirbelsäule, an Hüft- und Kniegelenksbeschwerden beidseits und an einem depressiven Zustandsbild leide. Dies sei durch Sachverständige aus den Fachgebieten der Orthopädie und der Neurologie zu beweisen.
Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Sie wendete ein, daß die überwiegend als Serviererin und Buffethilfe beschäftigt gewesene Klägerin noch leichte Arbeiten ausüben könne.
Im Verfahren erster Instanz wurde die Klägerin durch einen Facharzt für Orthopädie und orthopädische Chirurgie (11.3.1993) und durch einen Universitätsassistenten am Salzburger Institut für forensische Psychiatrie (13.5.1993) untersucht, die schriftliche Gutachten erstatteten. Beim ersten Sachverständigen erwähnte die Klägerin, daß sie auch an einer Gastritis leide. Dieser Gutachter stellte auch ein "erhebliches" Übergewicht (97 kg Körpergewicht bei 164 cm Körpergröße) fest. Beim Gutachter des Institutes für forensische Psychiatrie gab die Klägerin ua an, sie könne wegen ständiger Magenschmerzen sehr viele Medikamente nicht mehr einnehmen. Sie nehme Schmerzmittel und Magentabletten und wegen der Wechselbeschwerden Premarin und Colpron. Dieser Sachverständige stellte die Körpergröße mit 1,68 cm, das Körpergewicht mit 100 kg und die RR (Abkürzung für mit dem Riva-Rocci-Apparat gemessene Blutdruckwerte) mit 220/120 fest. In der Diagnose seines nervenfachärztlichen Gutachtens erwähnt er ua eine deutliche Adipositas (Übergewicht) und eine labile Hypertonie (Bluthochdruck), nicht aber die von der Klägerin erwähnten ständigen Magenschmerzen.
In der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vom 14.2.1994 brachte die Klägerin vor, sie stehe seit zwei Monaten in psychiatrischer bzw neurologischer Therapie; ein stationärer Aufenthalt sei demnächst geplant. Für den Fall, daß das Gericht die Sache noch nicht für spruchreif erachten sollte, beantragte sie "vorsorglich" eine ergänzende neurologisch-psychiatrische Untersuchung.
Das Erstgericht wies diesen Beweisantrag und das Klagebegehren ab.
Es stellte im wesentlichen fest, daß die am 16.4.1940 geborene Klägerin überwiegend im Gastgewerbe als Serviererin und Zahlserviererin gearbeitet hat. Dadurch hat sie eine Reihe von Kenntnissen und Fähigkeiten erworben, die dem Lehrberuf einer Kellnerin zuzurechnen sind. Sie besitzt jedoch nur einseitige Kenntnisse und Fertigkeiten, die nur einen Teilbereich dieses Lehrberufes abdecken. Daher war sie als Zahlserviererin nur eine gehobene Hilfskraft. Sie leidet ua an deutlicher Adipositas (Übergewicht) und labiler Hypertonie (Bluthochdruck). Mit dem mit hoher Wahrscheinlichkeit seit Juli 1992 bestehenden körperlichen und geistigen Zustand, der durch heilgymnastische Übungen, eine (nervenfachärztliche) "medikamentös überwachte Therapie" und physikotherapeutische Maßnahmen aufrecht erhalten werden kann, aber nicht wesentlich besserungsfähig ist, kann die Klägerin täglich vier Stunden körperlich leichte, geistig einfache Arbeiten in wechselnder Körperhaltung verrichten. Gehen und Stehen sollen zusammen höchstens ein Drittel der Arbeitszeit dauern. Nach einstündiger ununterbrochener Arbeit in einer Körperhaltung muß die Klägerin zehn Minuten eine andere Arbeitshaltung einnehmen können. Gänzlich ausgeschlossen sind Arbeiten in vorgebeugter Körperhaltung, in knieender oder hockender Stellung sowie auf Leitern oder Gerüsten, in Kälte, Nässe und Zugluft, unter vermehrtem Zeitdruck, Arbeiten, die eine "konzentrative Belastbarkeit" und eine "überdurchschnittliche konzentrative Belastung" erfordern und solche, bei denen Lasten über 5 kg gehoben oder getragen werden müssen. Bücken darf nur ausnahmsweise vorkommen, Über-Kopf-Arbeiten mit dem linken Arm nur gelegentlich, Treppensteigen nicht oft. Die Erreichbarkeit der Arbeitsstätte ist nicht eingeschränkt. Trotz beeinträchtiger Umstellbarkeit kann die Klägerin ihrer bisherigen Tätigkeit artverwandte oder ähnliche Tätigkeiten und solche, die ihr vom Arbeitsablauf her bekannt sind, ohne weiteres erlernen.
Dieser Leistungsfähigkeit entspricht die vom Erstgericht näher beschriebene Tätigkeit einer Buffetkassierin in Selbstbedienungsrestaurants von Supermärkten und Kaufhäusern. Dabei ergibt sich durch erhöhte Gästefreuqenz meistens zwischen 12.00 und 12.45 Uhr Arbeitsdruck. Auf dem gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt gibt es mehr als 150 Arbeitsplätze in Halbzeitbeschäftigung, durch die die gesetzliche Lohnhälfte erreicht werden kann.
Wegen dieser zumutbaren Verweisungstätigkeit sei die Klägerin nicht invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge.
Die geltend gemachten Verfahrensmängel (unterlassene Ergänzung des neurologisch-psychiatrischen Gutachtens und unterlassene Einholung eines internen Gutachtens) lägen nicht vor, gegen die Tatsachenfeststellungen bestünden keine Bedenken, die rechtliche Beurteilung des ausreichend festgestellten Sachverhaltes sei richtig.
In der Revision macht die Klägerin Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtige rechtliche Beurteilung geltend; sie beantragt, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.
Die Beklagte erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Rechtliche Beurteilung
Die nach § 46 Abs 3 ASGG zulässige Revision ist iS des Eventualantrages berechtigt.
Bereits in der Berufung behauptete Verfahrensmängel erster Instanz, deren Vorliegen das Berufungsgericht verneint hat, können zwar nach stRsp des erkennenden Senates (SSV-NF 3/115 - mit ausdrücklicher Ablehnung der auch in der Revision vertretenen gegenteiligen Meinung Kudernas - SSV-NF 7/74 uva; Kodek in Rechberger, ZPO Rz 3 zu § 503 mwN) auch in einer Sozialrechtssache nicht neuerlich in der Revision geltend gemacht werden; die Klägerin hat jedoch schon in der Berufung im Zusammenhang mit den schon in der ersten Instanz behaupteten, in die Fachgebiete der inneren Medizin sowie der Neurologie und Psychiatrie fallenden Beschwerden nicht nur primäre Verfahrensmängel, sondern auch sekundäre Mängel, also Feststellungsmängel geltend gemacht, die dem Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung zuzuordnen sind. Tatsächlich wurde über das angeblich ständige Magenschmerzen verursachende, als Gastritis bezeichnete Magenleiden überhaupt kein Beweisverfahren durchgeführt. Das erhebliche Übergewicht wurde zwar von den Sachverständigen für Orthopädie sowie für Neurologie und Psychiatrie diagnostiziert und in den Auswirkungen auf ihre Fachgebiete ebenso beurteilt, wie die vom letztgenannten Gutachter diagnostizierte labile Hypertonie. Mangels Beziehung eines Sachverständigen für innere Medzin wurden jedoch die behaupteten Magenbeschwerden nicht geklärt und deren Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit der Klägerin ebensowenig festgestellt wie die internen Folgen des erheblichen Übergewichtes und der vom Neurologen gemessenen hohen Blutdruckwerte. Der Revisionswerberin ist auch darin beizupflichten, daß ihr Vorbringen in der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vom 14.2.1994, daß sie seit zwei Monaten in psychiatrischer bzw neurologisch-psychiatrischer Therapie stehe und demnächst ein stationärer Aufenthalt geplant sei, (auch) so verstanden werden kann, daß sie damit eine Verschlimmerung ihres neurologisch-psychiatrischen Zustandes gegenüber der damals immerhin schon fast neun Monate zurückliegenden Untersuchung durch den Sachverständigen im Institut für forensische Psychiatrie behauptet und deshalb eine ergänzende Untersuchung (und Begutachtung) durch diesen Sachverständigen beantragt hat. Daß dieser Antrag nur "vorsorglich" für den Fall gestellt wurde, daß das Gericht die Sache noch nicht für spruchreif halten sollte, ändert daran nichts, weil dieser Vorbehalt selbstverständlich nur für den Fall einer Spruchreife im klagestattgebenden Sinn gemeint sein konnte. Deshalb fehlen auch Feststellungen über eine allfällige Verschlechterung des neurologisch-psychiatrischen Zustandes nach der Untersuchung im Institut für forensische Psychiatrie am 13.5.1993.
Da zwischen den erstgerichtlichen Feststellungen, daß der Klägerin Arbeiten "unter vermehrtem Zeitdruck" und Arbeiten, die eine "konzentrative Belastbarkeit erfordern" nicht mehr zumutbar sind und der Feststellung, daß ihr Arbeiten "mit normaler konzentrativer Belastung zumutbar, solche, die eine "überdurchschnittliche konzentrative Belastung erfordern" aber nicht zumutbar sind, Widersprüche bestehen, liegen auch diebezüglich Feststellungsmängel vor. Diese Feststellungen stehen auch in einer noch aufzuklärenden Spannung zur weiteren Feststellung, daß sich bei der einzigen Verweisungstätigkeit einer Buffetkassierin durch erhöhte Gästefrequenz meistens zwischen 12.00 und 12.45 Uhr "Arbeitsdruck" ergibt.
Obwohl die Arbeitsfähigkeit der Klägerin selbst nach den bisherigen Feststellungen sehr stark eingeschränkt ist und nur durch eine (nervenfachärztliche) "medikamentös überwachte Therapie" (?), heilgymnastische Übungen und physikotherapeutische Behandlungen stabil gehalten werden kann, und von der Klägerin eine neurologisch-psychiatrische Behandlung, ja sogar ein bevorstehender stationärer Aufenthalt behauptet wurde, fehlen Feststellungen über mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartende Krankenstände oder ihnen gleichzuhaltende Kuraufenthalte.
Wegen der aufgezeigten Feststellungsmängel hätte das Berufungsgericht mangels Spruchreife noch nicht durch Urteil in der Sache selbst entscheiden dürfen, sondern gemäß § 497 Abs 1 ZPO deren § 496 anwenden müssen. Nach dieser Gesetzesstelle ist die Sache vom Berufungsgericht an das Prozeßgericht erster Instanz zur Verhandlung und Urteilsfällung zurückzuweisen (Abs 1). Statt der Zurückverweisung hat das Berufungsgericht die in erster Instanz gepflogene Verhandlung, soweit erforderlich, zu ergänzen und durch Urteil in der Sache selbst zu erkennen, wenn nicht anzunehmen ist, daß dadurch im Vergleich zur Zurückverweisung die Erledigung verzögert oder ein erheblicher Mehraufwand an Kosten verursacht würde (Abs 3).
Da von der im letztzit Abs genannten Ausnahme ausgegangen werden kann, sind die Urteile beider Vorinstanzen aufzuheben; die Sozialrechtssache ist an das Erstgericht zur Verhandlung und Urteilsfällung zurückzuverweisen.
Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten der Berufung und der Revision beruht auf dem nach § 2 Abs 1 ASGG auch in Sozialrechtssachen anzuwendenden § 52 Abs 1 ZPO.