11Os150/94 – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 24.November 1994 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Lachner als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Massauer, Prof.Dr.Hager, Dr.Schindler und Dr.Mayrhofer als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag.Hradil als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Andrzej G***** wegen des teils vollendeten, teils versuchten Verbrechens nach § 12 Abs 1, Abs 2 und Abs 3 Z 3 SGG und § 15 StGB sowie einer anderen strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 30.Juni 1994, GZ 8 Vr 1163/94-29, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Rechtliche Beurteilung
Mit dem angefochtenen Urteil wurde der 22-jährige polnische Staatsangehörige Andrzej G***** des teils vollendeten, teils versuchten Verbrechens nach § 12 Abs 1, Abs 2 und Abs 3 Z 3 SGG und § 15 StGB sowie des Finanzvergehens des (gewerbsmäßigen) Schmuggels nach §§ 35 Abs 1, 38 Abs 1 lit a FinStrG schuldig erkannt.
Der dagegen erhobenen, auf § 281 Abs 1 Z 4, 5, 5 a, 9 lit b, 10 und 11 StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten kommt aus dem zuerst bezeichneten Grund Berechtigung zu.
Die Verteidigerin stellte in der Hauptverhandlung unter anderem (wiederholt) den Antrag (S 228, 229, 234) auf Einholung des Gutachtens eines medizinischen (psychiatrischen) Sachverständigen zum Nachweis dafür, daß der Angeklagte (zur Tatzeit) zurechnungsunfähig gewesen und jetzt nicht verhandlungsfähig sei. Sie brachte zur Begründung dieses Beweisantrages vor, daß der Angeklagte auf Grund des - unter einem in beglaubigter Übersetzung vorgelegten - Befundes (Bescheides) Nr. 272/3/92 der militärischen Bezirks-Ärztekommission in Elblag (Polen) vom 7.Feber 1992 wegen leichter "Phrenasthenie und Anadontie" für den Militärdienst "dauerhaft dienstuntauglich" sei (S 226, 235 a), seit Jahren in psychiatrischer Behandlung stehe (wozu die zeugenschaftliche Vernehmung der im Gerichtssaal anwesenden Eltern des Angeklagten beantragt wurde - S 233 f) und auch vor Beginn der Hauptverhandlung (am Gang) die Nerven verloren und herumgeschrien habe, weshalb er vom eskortierenden Justizwachebeamten sogleich in den Verhandlungssaal habe gebracht werden müssen (S 227 f).
Dieser Antrag wurde vom Schöffengericht nach (ersichtlich fernmündlicher) Einholung der Auskunft eines Facharztes für Anästhesiologie (S 229) im wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, daß es sich bei den Leiden des Angeklagten "laut vorgelegtem Befund um Zwerchfellschwäche und Zahnlosigkeit" handle, daß im gesamten Verfahren keine Indizien in Richtung einer strafrechtlichen Zurechnungsunfähigkeit hervorgekommen seien und der Angeklagte die an ihn gerichteten Fragen verstanden und, wenngleich auch teils widersprüchlich, beantwortet habe (S 228, 229, 234).
Mit Recht erblickt der Beschwerdeführer bei dieser Sachlage in der Ablehnung des in Rede stehenden Beweisantrages eine Beeinträchtigung seiner Verteidigungsrechte (Z 4), dies aus folgenden Erwägungen:
Wann eine Untersuchung des Geisteszustandes des Angeklagten stattzufinden hat, regelt § 134 Abs 1 StPO. Darnach ist eine solche Untersuchung durch einen oder nötigenfalls zwei Ärzte (§ 118 Abs 2 StPO) zu veranlassen, wenn Zweifel darüber entstehen, ob der Täter zur Tatzeit den Gebrauch seiner Vernunft besessen oder ob er an einer Geistesstörung gelitten habe, wodurch seine Zurechnungsfähigkeit aufgehoben war. Diese Grundsätze gelten auch für die Verhandlungsfähigkeit, das ist die Eignung, als mit den Rechten der Strafprozeßordnung ausgestattetes Prozeßsubjekt (ua) an Hauptverhandlungen teilzunehmen (EvBl 1971/15 ua). Entscheidend ist demnach, ob auf Grund einer gewissenhaften Würdigung der gegebenen Sachlage Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten bestehen. Ist das der Fall, dann können derartige - auf objektiven Beweisergebnissen beruhende - Zweifel nicht durch irgendwelche Überlegungen beseitigt werden; es ist vielmehr die gutächtliche Meinung wenigstens eines Sachverständigen einzuholen.
Im gegenständlichen Verfahren liegen derartige Zweifel auf der Hand.
Denn die dem Hauptverhandlungsprotokoll zu entnehmende Auskunft des
Facharztes für Anästhesiologie, wonach es sich bei "Phrenasthenie" um
eine "Zwerchfellschwäche" handle, läßt vollkommen unberücksichtigt,
daß der aus dem Griechischen kommende Wortstamm "Phren" nicht nur
(körperlich) Zwerchfell bedeutet, sondern in der medizinischen
Wissenschaft ebenso als Bezeichnung für Geist, Gemüt, Verstand
verwendet wird (siehe hiezu Brockhaus Enzyklopädie 19.Auflage 17.Band
S 144: "Phrenäsie" = ... "auch Bezeichnung für jede Art von
Geistesstörung", ferner Duden, Wörterbuch medizinischer Fachausdrücke
3. Auflage S 546: "Phrenopathie" = ... "allgemeine Bezeichnung für
Geisteskrankheit"). Daß der hier aktuelle Wortstamm "Phren" auch in dem (allgemein bekannten) Begriff Schizophrenie (= Spaltungsirresein) enthalten ist, sei hier noch der Vollständigkeit halber bemerkt. Hinzu kommt, daß der Beschwerdeschrift nunmehr der in Rede stehende Bescheid der bezirksmilitärärztlichen Kommission in Elblag im Original samt einer weiteren beglaubigten Übersetzung vom 7.August 1994 angeschlossen ist, wo unter Punkt 7. hinsichtlich "leichter Phrenasthenie § 72 Pkt 3" ausdrücklich von "Geistesschwäche" die Rede ist (Beilagen 1 und 3 zu ON 37). Berücksichtigt man schließlich noch das aktenkundige (S 227 f) auffällige Verhalten des Angeklagten im Gerichtsgebäude vor Beginn der Hauptverhandlung, ferner seinen Hinweis im Vorverfahren (S 79), wegen mangelnder geistiger Reife aus dem Militärdienst entlassen worden zu sein und seine widersprüchlichen Erklärungen in der Hauptverhandlung, wo er zunächst erklärte, sich gesund zu fühlen und auch verhandlungsfähig zu sein, weil er ja deshalb hier sitze (S 228), während er nach dem Vortrag der Anklage durch den Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft die Frage des Vorsitzenden (iSd § 244 Abs 2 StPO) dahin beantwortete, "die Sache nicht verstanden" zu haben (S 230), so zeigt sich, daß dem von der Verteidigung gestellten Antrag auf Beiziehung eines psychiatrischen Sachverständigen zwecks zweifelsfreier Klärung insbesondere der Frage der Diskretions- und Dispositionsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit Berechtigung nicht von vornherein abgesprochen werden kann und das angefochtene Urteil daher im Sinn der Z 4 des § 281 Abs 1 StPO nichtig ist.
Da bei dieser Sachlage die Anordnung einer neuen Hauptverhandlung nicht zu vermeiden ist, war über die Nichtigkeitsbeschwerde - in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur - gemäß § 285 e StPO schon bei der nichtöffentlichen Beratung wie aus dem Spruch ersichtlich zu erkennen, ohne daß es einer Erörterung des übrigen Beschwerdevorbringens bedarf.
Mit seiner dadurch gegenstandslos gewordenen Berufung war der Angeklagte auf diese Entscheidung zu verweisen.