10ObS146/94 – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Elmar A.Peterlunger und Dr.Friedrich Stefan in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Burghard G*****, vertreten durch Dr.Gerhard Götschofer, Rechtsanwalt in Vorchdorf, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Gewerblichen Wirtschaft, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84, vertreten durch Dr.Karl Leitner, Rechtsanwalt in Wien, wegen Waisenpension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 31.März 1994, GZ 13 Rs 11/94-11, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom 15.November 1993, GZ 24 Cgs 172/93m-6, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie zu lauten haben.
"Das Begehren des Inhalts, die beklagte Partei sei schuldig, dem Kläger die Waisenpension auch ab 1.7.1993 weiterzugewähren, wird abgewiesen."
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens erster und zweiter Instanz sowie die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der am 6.9.1963 geborene Kläger besuchte in der Zeit von 1970 bis 1979 die Volks- und Hauptschule sowie anschließend den polytechnischen Lehrgang. Wegen der schlechten finanziellen Lage seiner Familie war der Kläger nicht in der Lage, eine höhere als die Pflichtschule zu besuchen. Anschließend war der Kläger von September 1979 bis Juni 1980 Maurerlehrling und verdiente dabei 3.200 S brutto monatlich. Dieses Lehrverhältnis wurde nach 10 Monaten beendet, weil der Lehrherr die gesetzlichen Bestimmungen mißachtete. Anschließend absolvierte der Kläger in Gmunden eine Elektrikerlehre; nebenbei verrichtete er am Abend und am Wochenende Aushilfsarbeiten. Kurz vor Ende der Lehrzeit begann der Kläger eine Ausbildung an der Handelsakademie für Berufstätige in Abendkursen; auch während des Präsenzdienstes setzte er den Schulbesuch fort. Im Juli 1987 legte er die Matura ab. Hätte er die Möglichkeit der Weiterbildung bereits zu einem früheren Zeitpunkt gehabt, hätte er entweder gleich nach dem 11. Lebensjahr (er trat zufolge seines Geburtstages am 6.September erst mit 7 Jahren in die Volksschule ein) ein 8-stufiges Gymnasium besucht bzw nach dem Hauptschulbesuch die 4-stufige Oberstufe eines Gymnasiums und hätte dann im Jahre 1982 maturiert. Grund für den Besuch der Handelsakademie war, daß der Kläger seine Lehre in Gmunden absolvierte und dort nur dieses Abendschulangebot vorhanden war. Seit Herbst 1987 studiert der Kläger Elektrotechnik im Studienzweig elektrische Energetik. Die Mindeststudiendauer beträgt 10 Semester, die durchschnittliche Studiendauer 16 Semester. Der Kläger wird das Studium voraussichtlich im Sommersemester 1994 beenden.
Mit Urteil des Landes-(damals Kreis-)gerichtes Wels vom 28.6.1991, 24 Cgs 6/91 wurde die beklagte Partei schuldig erkannt, dem Kläger auch ab 1.10.1989 die Waisenpension im gesetzlichen Ausmaß weiterhin zu gewähren. Die schlechte finanzielle Lage der Eltern des Klägers, die es verhindert habe, daß der Kläger in der Lage gewesen sei, den üblichen Studiengang bis zum Besuch der Hochschule einzuhalten, sei als unüberwindbares Hindernis im Sinne des § 128 Abs 2 Z 1 GSVG (aF) zu qualifizieren, durch das die Schulausbildung verzögert worden sei. Dieses Urteil erwuchs in Rechtskraft.
Mit Bescheid vom 15.6.1993 entzog die beklagte Partei dem Kläger die Waisenpension ab 1.7.1993 wegen Wegfalles der Kindeseigenschaft.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die Klage mit dem Begehren auf Weitergewährung der Waisenpension über den 30.6.1993 hinaus. Durch die schlechte finanzielle Lage seiner Familie sei der Kläger nach Absolvierung der Pflichtschule gezwungen gewesen, Geld zu verdienen. Wäre ihm der Besuch der Mittelschule nach der Pflichtschule möglich gewesen, hätte er bereits im Sommer 1982 maturieren können und nicht erst im Sommer 1987. Seine Schulausbildung sei sohin um 5 Jahre verzögert worden. Da er nach wie vor ein ordentliches Studium betreibe und auch die Studiendauer nicht überschritten habe, gebühre ihm die Waisenpension weiterhin.
Die beklagte Partei beantragt die Abweisung der Klage. Die schlechte finanzielle Lage der Eltern des Klägers sei wohl als unüberwindliches Hindernis im Sinne des Gesetzes zu verstehen, doch sei dadurch die Schulausbildung nur um 4 Jahre verzögert worden. Diese Verzögerung der Schulausbildung um 8 Semester sei aber bereits berücksichtigt worden. Darüberhinaus liege kein Verzögerungstatbestand vor.
Das Erstgericht gab dem Begehren des Klägers statt. Der Kläger sei aus finanziellen Gründen gezwungen gewesen, nach der Pflichtschule vorerst ein eigenes Einkommen zu erzielen. Dadurch sei seine Schulausbildung um 5 Jahre verzögert worden. Wäre dem Kläger nämlich bereits 1979, als er sich zum Antritt einer Lehre entschloß bzw nach Abschluß der Volksschule eine Weiterbildungsmöglichkeit offengestanden, hätte er ein Gymnasium besuchen und die Matura bereits 1982 ablegen können. Tatsächlich sei ihm dies wegen des Hinderungsgrundes erst 1987 möglich gewesen. Zufolge der Dauer der Verzögerung der Ausbildung bestehe die Kindeseigenschaft weiter.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Es lehnte das von der beklagten Partei ins Treffen geführte Argument, daß die Zeit des Besuches des polytechnischen Lehrganges nicht als Zeit einer Behinderung zu qualifizieren sei, ab. Es sei nämlich davon auszugehen, daß der Kläger - wären die schlechten finanziellen Verhältnisse der Eltern dem nicht entgegengestanden - schon nach Abschluß der Volksschule eine Mittelschule besucht hätte und dann bereits am Ende des Schuljahres 1982 in der Lage gewesen wäre, die Matura abzulegen. Unter diesen Umständen wäre auch der Besuch des polytechnischen Lehrganges unterblieben. Tatsächlich habe er jedoch erst 1987 maturiert. Dies zeige, daß seine Schulausbildung tatsächlich um 5 Jahre verlängert worden sei. Ein früherer Besuch der Handelsakademie sei nicht möglich gewesen, weil dies mit dem Berufsschulbesuch nicht vereinbar gewesen wäre. Im Hinblick auf die 5-jährige Verzögerung bestehe die Kindeseigenschaft weiterhin.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen dahin abzuändern, daß das Klagebegehren abgewiesen werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Der Kläger beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist berechtigt.
Im Hinblick auf das Geburtsdatum des Klägers ist die Frage des Weiterbestandes der Kindeseigenschaft des Klägers nach § 128 Abs 2 Z 1 GSVG in der Fassung vor der 13.GSVG-Novelle BGBl 1987/610 zu beurteilen. Danach besteht die Kindeseigenschaft auch nach Vollendung des 18.Lebensjahres, wenn und solange sich das Kind in einer Schul- oder Berufsausbildung befindet, die seine Arbeitskraft überwiegend beansprucht, längstens bis zur Vollendung des 26.Lebensjahres. Ist die Schul- oder Berufsausbildung durch die Erfüllung der Wehrpflicht, der Zivildienstpflicht, Krankheit oder ein anderes unüberwindliches Hindernis verzögert worden, so besteht die Kindeseigenschaft über das 26. Lebensjahr hinaus für einen der Dauer der Behinderung angemessenen Zeitraum.
Auch die beklagte Partei legt ihren Revisionsausführungen zugrunde, daß die schlechte finanzielle Lage der Eltern des Klägers als unüberwindliches Hindernis im Sinne des § 128 Abs 2 Z 1 GSVG zu qualifizieren sei. Feststellungen hiezu fehlen jedoch. Eine Ergänzung des Verfahrens zu diesem Punkt ist allerdings entbehrlich, weil dem Begehren des Klägers auch dann keine Berechtigung zukäme, wenn man den Vorinstanzen in diesem Punkt folgte.
Fest steht, daß der Kläger die Matura im Jahre 1987 ablegte. Strittig ist nur, in welchem Ausmaß die Schulausbildung bis dahin verzögert wurde. Die Vorinstanzen sind dabei zu dem Ergebnis gelangt, daß der Kläger bei Fehlen des Hinderungsgrundes im Jahre 1982 maturiert hätte und sind daher zu einem Verzögerungszeitraum von 5 Jahren gelangt. Sie haben dabei allerdings unbeachtet gelassen, daß der Kläger die Handelsakademie für Berufstätige besuchte, die einen vierjährigen Bildungsgang aufweist (§ 75 Abs 1 lit a SchOG), während die Handelsakademie als berufbildende höhere Schule ansonst 5 Schulstufen umfaßt (§ 66 Abs 1 iVm § 67 lit b SchOG). Der Besuch des polytechnischen Lehrganges wurde daher dadurch wettgemacht, daß die Schulausbildung des Klägers durch den Besuch der Handelsakademie für Berufstätige gegenüber dem Besuch einer Handelsakademie als Tagesschule um ein Jahr verkürzt wurde.
Die Vorinstanzen haben ihren Entscheidungen zugrunde gelegt, daß der Kläger, wäre er durch die schlechten finanziellen Verhältnisse seiner Eltern nicht daran gehindert gewesen, ein achtstufiges Gymnasium bzw nach Absolvierung der Hauptschule die vierstufige Oberstufe eines Gymnasiums besucht hätte. Dabei kann es sich naturgemäß nur um Hypothesen handeln, kann doch der Ablauf des Studienganges unter anderen als den tatsächlich bestandenen Umständen nur vermutet, nicht aber mit Sicherheit nachvollzogen werden. Dies zeigt schon der Umstand, daß die Vorinstanzen den Schulbesuch von der 4. bis zur
8. Schulstufe nur alternativ feststellten. Es kann daher nicht ein hypothetischer, kaum rekonstruierbarer Studiengang zugrunde gelegt werden, sondern es ist von der Ausbildung auszugehen, die der Betroffene tatsächlich vollzogen hat. Die Dauer der Verlängerung der Kindeseigenschaft ergibt sich aus dem Vergleich der tatsächlichen Dauer dieser Ausbildung mit dem Zeitaufwand den eine gleichartige Ausbildung ohne Bestehen des Hinderungsgrundes erfordert hätte. Ausgehend davon, daß der Kläger bei Fehlen des Verzögerungsgrundes die Handelsakademie besucht hätte, die er in der Folge auch absolvierte, hätte er am Ende des Schuljahres 1982/83 sohin etwa im Juni 1983 maturiert. Tatsächlich legte er die Matura im Juli 1987 ab. Selbst wenn man die schlechte finanzielle Situation der Familie als unüberwindliches Hindernis im Sinne des § 128 Abs 2 Z 1 GSVG (aF) qualifizierte, wofür - wie dargestellt - die erforderlichen Feststellungen fehlen, wäre dadurch die Schulausbildung des Klägers nur um 4 Schuljahre (bzw 8 Studiensemester) verlängert worden. Aufgrund des Urteiles des Landes-(Kreis-)gerichtes Wels vom 28.6.1991 leistete die beklagte Partei die Waisenpension an den am 6.9.1963 geborenen Kläger bis Juni 1993 und damit für einen Zeitraum von 8 Semestern über die Vollendung des 26.Lebensjahres hinaus und entzog die Leistung erst für die Zeit ab 1.7.1993. Da der Studiengang des Klägers durch den von ihm behaupteten und von den Vorinstanzen angenommenen Hinderungsgrund nur in dem Ausmaß verzögert wurde, in dem die Waisenpension bereits gewährt wurde, besteht der erhobene Anspruch schon aus diesem Grund nicht zu Recht, so daß es entbehrlich ist, auf die in der Revision relevierte Frage einzugehen, ob der Besuch des polytechnischen Jahrganges als Hinderungsgrund im Sinne des § 128 Abs 2 Z 1 GSVG (aF) in Frage kommen kann.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Umstände, die einen Kostenzuspruch aus Billigkeit rechtfertigen könnten, wurden nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage.