10ObS164/93 – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Fritz Stejskal (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Peter Fischer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Parteien 1. Seker S*****, ***** 2. Ismail S*****, 3. mj. Abdulkerim S*****, alle ***** letzterer gesetzlich vertreten durch seine eheliche Mutter, die Erstklägerin, alle vertreten durch Dr. Herbert Gartner, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen zu 1. Witwenpension, zu
2. und 3. Waisenpensionen, infolge Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 17. März 1993, GZ 31 Rs 13/93-15, womit infolge Berufung der klagenden Parteien das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 31. Juli 1992, GZ 22 Cgs 85/92-5, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Das Berufungsurteil wird aufgehoben. Die Streitsache wird an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens und der Revision sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Mit drei Bescheiden vom 30.April 1992 lehnte die Beklagte die am 23. Mai 1991 gestellten Anträge der Witwe und der Söhne Ismail und Abdulkerim des am 9. Mai 1991 verstorbenen Mehmet S*****, der österreichische und türkische Versicherungszeiten erworben hat, mit der Begründung ab, daß die Wartezeit für die Zuerkennung einer Witwen- bzw. Waisenpension nicht erfüllt sei.
In der erkennbar auf die abgelehnten Leistungen gerichteten Klage stützten die in erster Instanz nicht durch eine qualifizierte Person (§ 40 Abs 1 ASGG) vertretenen Hinterbliebenen ihre Ansprüche darauf, daß sie eine türkische Witwenpension und Waisenpensionen bekämen und deshalb nach dem Abkommen zwischen der Republik Österreich und der Türkischen Republik (über Soziale Sicherheit vom 2. Dezember 1982 BGBl 1985/91) auch die begehrten österreichischen Hinterbliebenenpensionen erhalten müßten, zumal der Versicherte in Österreich mehr als 6,5 Jahre, in der Türkei nur 4,5 Jahre gearbeitet habe.
Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klagebegehren. Sie wendete ein, der Versicherte habe in Österreich von Dezember 1972 bis März 1980 78 Beitragsmonate der Pflichtversicherung erworben und während der letzten 120 Kalendermonate vor dem Stichtag 54 türkische Versicherungsmonate. Die Wartezeit wäre aber nur erfüllt, wenn im letztgenannten Zeitraum mindestens 60 Versicherungsmonate oder insgesamt wenigstens 180 Beitragsmonate vorlägen.
Am 30. Juni 1992 beraumte der Vorsitzende die Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung auf den 23. Juli 1992, 13.10 Uhr, an. Die auch für den Zweit- und Drittkläger bestimmte Ladung wurde von der Geschäftsabteilung am 14. Juli 1992 abgefertigt, am 15. Juli 1992 mit der Klagebeantwortung als Einschreibesendung mit internationalem Rückschein in Wien zur Post gegeben und von der Erstklägerin nach diesem Rückschein am 21. Juli 1992, nach ihrer Behauptung erst am 22. Juli 1992 in Aksaray übernommen. Diese Stadt liegt etwa 200 km südöstlich von Ankara.
Die Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung wurde am 23.Juli 1992 in Abwesenheit der Kläger durchgeführt. Sie begann und endete nach dem Protokoll um 13.10 Uhr. Nach Verlesung der Klage und Vortrag der Klagebeantwortung ließ das Erstgericht "Beweis über den Versicherungsverlauf des verstorbenen Versicherten" zu. Dann wurden die wesentlichen Teile des Pensionsaktes verlesen und die Verhandlung nach § 193 Abs "3" ZPO geschlossen.
Das Erstgericht wies die Klagebegehren ab.
Es stellte fest, daß der am 1.Februar 1952 geborene und am 9.Mai 1991 verstorbene Versicherte von Dezember 1972 bis März 1980 in Österreich 78 Beitragsmonate der Pflichtversicherung und vom 30.Juni 1982 bis 4. August 1989 54 Versicherungsmonate nach türkischen Rechtsvorschriften, insgesamt 132 Versicherungsmonate erwarb. Deshalb sei am Stichtag die nach § 236 Abs 1 (Z 1 lit) a und Abs 2 ASVG für die Erfüllung der Wartezeit erforderliche Mindestzahl von Versicherungsmonaten nicht vorgelegen und die nach § 235 leg cit erforderliche allgemeine Voraussetzung der eingeklagten Ansprüche nicht erfüllt. Eine Vernehmung der Erstklägerin als Partei sei nicht möglich gewesen, weil sie trotz durch internationalen Rückschein ausgewiesener Ladung nicht zur Tagsatzung zur mündlichen Verhandlung gekommen sei.
Mit beim Erstgericht am 4.August 1992 eingelangtem Schreiben vom 23. Juli 1992 teilte die Erstklägerin mit, sie habe die Ladung zur mündlichen Verhandlung vom 23.Juli 1992 erst am 22.Juli 1992 erhalten und deshalb nicht kommen können.
In der Berufung behaupteten die Kläger unter dem Berufungsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens zunächst aktenwidrig, sie hätten zum Beweis dafür, daß die Erfüllung der Wartezeit nicht Voraussetzung ihrer Ansprüche sei, die Erstklägerin "zur Parteienvernehmung genannt". In einem weiteren Absatz der Mängelrüge machten sie geltend, daß die Ladung der Erstklägerin erst einen Tag vor dem Verhandlungstermin zugestellt worden sei, weshalb ihr die Teilnahme an der Verhandlung nicht möglich gewesen sei. Das Erstgericht habe darauf keine Rücksicht genommen und die Verhandlung geschlossen. So sei es nicht möglich gewesen, die Umstände des Todes des Versicherten darzustellen, der an den Folgen eines Arbeitsunfalles gestorben sei. Deshalb entfalle nach § 235 Abs 3 ASVG die Wartezeit. Das Fehlen diesbezüglicher Feststellungen sei daher auf eine unrichtige rechtliche Beurteilung zurückzuführen.
In der Berufungsverhandlung wiesen die Kläger darauf hin, daß die Erstklägerin so kurzfristig (zur einzigen erstgerichtlichen Tagsatzung) geladen worden sei, daß sie daran nicht habe teilnehmen können.
Das Berufungsgericht gab der Berufung nicht Folge.
Die Vernehmung der Erstklägerin als Partei sei nicht erforderlich gewesen, weshalb der gerügte Verfahrensmangel nicht vorliege. Auch die Rechtsrüge sei nicht berechtigt.
In der nicht beantworteten Revision machen die Kläger Nichtigkeit und Mangelhaftigkeit des Verfahrens sowie unrichtige rechtliche Beurteilung geltend und beantragen, das Berufungsurteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern oder allenfalls die vorinstanzlichen Entscheidungen aufzuheben.
Rechtliche Beurteilung
Die nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 dieser Gesetzesstelle zulässige Revision ist berechtigt.
Als "Nichtigkeit des Verfahrens" machen die Revisionswerber geltend, daß ihnen durch die aktenkundige späte Zustellung der Ladung zur erstgerichtlichen Verhandlungstagsatzung vom 23.Juli 1992 die Möglichkeit, vor dem Erstgericht zu verhandeln, entzogen worden sei. Deshalb seien diese Tagsatzung und das erstgerichtliche Urteil nichtig. Das Berufungsgericht habe diesen Nichtigkeitsgrund aber nicht aufgegriffen und darüber nicht entschieden.
Damit wird nicht der im § 503 Z 1 ZPO bezeichnete Revisionsgrund ausgeführt, daß das Urteil des Berufungsgerichtes wegen eines der im § 477 leg cit bezeichneten Mängel nichtig sei, sondern der im § 503 Z 2 ZPO genannte Revisionsgrund, daß das Berufungsverfahren an einem Mangel leide, der eine erschöpfende und gründliche Beurteilung der Streitsache zu hindern geeignet war.
Dieser Revisionsgrund liegt auch vor.
Das Berufungsgericht erledigte nämlich nur einen der in der Berufung behaupteten Verfahrensmangel erster Instanz, und zwar die Nichtdurchführung der Vernehmung der Erstklägerin als Partei. Hingegen ging es auf die schon in der Berufungsschrift behauptete und in der mündlichen Berufungsverhandlung wiederholte Rüge, der Erstklägerin sei die Teilnahme an der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vom 23.Juli 1992 nicht möglich gewesen, weil ihr die Ladung erst am Vortag zugestellt worden sei, nicht ein. Damit blieb ein in der Berufung geltend gemachter Berufungsgrund (Mangelhaftigkeit, allenfalls sogar Nichtigkeit des erstgerichtlichen Verfahrens einschließlich Urteils iS des § 477 Abs 1 Z 4 ZPO) unerledigt.
Wegen dieses in der Revision auch gerügten wesentlichen Mangels des Berufungsverfahrens (§ 503 Z 2 ZPO) war nach § 510 Abs 1 leg cit das Berufungsurteil aufzuheben und die Streitsache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die hinsichtlich der Unterlassung der Vernehmung der Erstklägerin als Partei geltend gemachte Mangelhaftigkeit (§ 503 Z 2 ZPO) liegt hingegen nicht vor (§ 510 Abs 3 leg cit).
Die rechtliche Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes durch das Berufungsgericht wäre im übrigen nur dann richtig, wenn in den Zeitraum gemäß § 236 Abs 2 Z 1 ASVG keine neutralen Monate (§ 234 leg cit) fielen. Um diese Monate würde sich nämlich nach § 236 Abs 3 leg cit der genannte Zeitraum verlängern. Nach Art 20 Z 3 des schon zit Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Türkischen Republik gelten als neutrale Zeiten auch Zeiten, während derer der Versicherte Anspruch auf eine Pension aus dem Versicherungsfall des Alters bzw. der Invalidität nach den türkischen Rechtsvorschriften hatte. Zum Vorliegen neutraler Monate im Zeitraum vom 1.Juni 1981 bis 30. Juni 1991 liegen bisher weder Behauptungen noch Feststellungen vor. Daß der Versicherungsfall (Tod des Ehegatten bzw. Vaters der Kläger) die Folge eines Arbeitsunfalles (§§ 175 und 176 ASVG) oder einer Berufskrankheit (§ 177 leg cit) sei, in welchem Fall die Wartezeit für die eingeklagten Leistungen aus dem Versicherungsfall des Todes nach § 235 Abs 3 lit a ASVG entfällt, wurde bisher in erster Instanz weder behauptet noch festgestellt. Sollte sich ergeben, daß die Wartezeit erfüllt ist oder entfällt, dann wäre hinsichtlich des Zweitklägers zu prüfen, ob dessen Kindeseigenschaft auch nach der Vollendung des 18.Lebensjahres iS des § 252 Abs 2 iVm § 260 ASVG weiterbesteht.
Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten des Berufungsverfahrens und der Revision beruht auf dem nach § 2 Abs 1 ASGG auch in Sozialrechtssachen anzuwendenden § 52 Abs 1 ZPO.