JudikaturOGH

8Ob618/92 – OGH Entscheidung

Entscheidung
24. Juni 1993

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.-Prof.Dr.Gunther Griehsler als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Edgar Huber, Dr.Birgit Jelinek, Dr.Ronald Rohrer und Dr.Ilse Huber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Republik Österreich (Justizverwaltung), vertreten durch die Finanzprokuratur, 1010 Wien, Singerstraße 17-19, wider die beklagte Partei M***** K*****, vertreten durch Dr.Walter Kossarz, Rechtsanwalt in Krems, wegen S 100.126,64 sA, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 5.Juni 1992, GZ 14 R 60/92-52, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Krems vom 13.Jänner 1992, GZ 5 Cg 20/90-48, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit S 6.789,60 (einschließlich S 1.131,60 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger versuchte am 5.9.1988 als Strafgefangener aus der Strafvollzugsanstalt Wien-Simmering zu flüchten, indem er sich aus dem 2.Stock mit Hilfe zusammengeknüpfter Vorhänge abseilte. Infolge eines Risses dieses Seiles stürzte er ab und zog sich schwere Verletzungen (Trümmerbruch des linken Unterarmes und der linken Hand) zu. Für die dadurch erforderliche Heilbehandlung war ein Aufwand von S 130.126,64 erforderlich.

Unter Verzicht auf einen Betrag von S 30.000 gemäß § 32 Abs 2 StVG begehrt die klagende Partei gemäß § 32 Abs 1 StVG vom Beklagten einen Betrag von S 100.126,64 sA.

Der Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren (mit Ausnahme eines geringfügigen Zinsenmehrbegehrens) statt, weil es meinte, zu den nach § 32 Abs 1 StVG zu ersetzenden Aufwendungen, die durch die Flucht eines Strafgefangenen herbeigeführt würden, zählen auch die Kosten einer Heilbehandlung im Zusammenhang mit einer Verletzung auf der Flucht. Ob der Fliehende die Verletzung fahrlässig oder vorsätzlich herbeigeführt habe, unterscheide das Gesetz nach diesen Tatbestand nicht; eine vorsätzliche Selbstbeschädigung sei ein zweiter selbständiger Grund neben dem Fluchtversuch, der eine Ersatzpflicht für besondere Aufwendungen auslöse. Da der Beklagte als Strafgefangener der Sozialversicherungspflicht auch dann nicht unterliege, wenn er im Rahmen des Strafvollzuges arbeite, habe er die Kosten seiner Heilbehandlung zu ersetzen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten Folge und änderte das Urteil im Sinn der Klageabweisung ab. Führe der Strafgefangene durch Flucht oder vorsätzliche Selbstbeschädigung besondere Aufwendungen herbei, so habe er diese zu ersetzen (§ 32 Abs 1 StVG). Als besondere Aufwendungen, die durch eine Flucht herbeigeführt würden, seien insbesondere die Kosten umfangreicher Fahndungsmaßnahmen zu verstehen (Kunst, MKK StVG § 32 Anm 1). Ob darunter auch Körperverletzungen zu verstehen seien, die sich der Flüchtende anläßlich der Flucht selbst zugefügt habe, sei zwar dem Gesetzeswortlaut nicht unmittelbar zu entnehmen, doch könne zunächst aus dem anderen in § 32 Abs 1 StVG enthaltenen Tatbestand entnommen werden, daß der Gesetzgeber hier nur die Kosten einer vorsätzlichen Selbstbeschädigung ersetzt wissen wolle. Dies stehe auch im Einklang mit den §§ 66 und 68 StVG, wonach für die Erhaltung der physischen und psychischen Gesundheit der Gefangenen Sorge zu tragen sei. Die Kosten dafür habe der Bund zu tragen (Kunst aaO § 66 Anm 1). Ein Strafgefangener habe daher eine ähnliche Stellung wie ein bei einer öffentlichen Krankenversicherung Sozialversicherter (vgl Kunst aaO § 68 Anm 3). Auch gemäß § 88 Abs 1 ASVG bestehe kein Anspruch auf Geldleistungen aus einem Versicherungsfall, der durch Selbstbeschädigung vorsätzlich herbeigeführt worden sei (Z 1), bzw wenn der Versicherungsfall durch die Verübung einer mit Vorsatz begangenen gerichtlich strafbaren Handlung veranlaßt worden sei, deretwegen der Veranlasser zu einer mehr als einjährigen Freiheitsstrafe rechtskräftig verurteilt worden sei (Z 2). Auch aus dieser Regelung könne geschlossen werden, daß die Verpflichtung des Staates zur Gesundheitsvorsorge ohne Verrechnungsmöglichkeit der dabei entstandenen Kosten grundsätzlich bestehe, es sei denn, die Körperbeschädigung wäre vorsätzlich herbeigeführt worden. Da dies dem Beklagten nicht vorgeworfen werden könne, bestehe keine Ersatzpflicht. Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil eine oberstgerichtliche Rechtsprechung zu dieser Frage fehle.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision d er klagenden Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das Ersturteil wiederherzustellen; hilfsweise wurde auch ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Beklagte beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zwar aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, sie ist aber sachlich nicht berechtigt.

Die klagende Partei meint, ein Strafgefangener habe alle durch seine Flucht hervorgerufenen Aufwendungen zu ersetzen; darauf, ob er sich im Rahmen der Flucht vorsätzlich oder nur fahrlässig selbst beschädige, komme es nicht an. Das Berufungsgericht habe die vergleichsweise herangezogene Bestimmung des § 88 Abs 1 ASVG unrichtig interpretiert. Dessen Z 2 bestimme, daß ein Anspruch auf Geldleistungen nicht bestehe, wenn die Selbstbeschädigung durch die Verübung einer mit Vorsatz begangenen gerichtlich strafbaren Handlung veranlaßt worden sei. Dem Wortlaut des Gesetzes sei zu entnehmen, daß die Selbstbeschädigung an sich nicht vorsätzlich erfolgt sein müsse. Wäre dem nicht so, hätte ein sozialversicherungspflichtiger Terrorist, der bei einem Anschlag (auch) selbst verletzt werde, Anspruch auf entsprechende Geldleistungen (Rente) aus seiner Sozialversicherung. Die Statuierung der Ersatzpflicht für den Fall einer durch Flucht veranlaßten Selbstbeschädigung finde darin ihre sachliche Rechtfertigung, daß "Flucht" keine nach dem StGB gerichtlich strafbare Handlung darstelle, sondern einen Tatbestand, den nur ein Strafgefangener, dessen Rechte und Pflichten sich grundsätzlich aus dem StVG ergäben, verwirklichen könne. Aus diesem Grund scheine eine einschränkende Interpretation des § 32 Abs 1 StVG überhaupt unzulässig. Im übrigen habe sich der Kläger seine Verletzung mit dolus eventualis zugefügt, weil er sich bei den gegebenen Verhältnissen (Abseilen aus 12 bis 15 m Höhe) unvermeidlich bewußt damit abgefunden habe, eine Verletzung zu erleiden. Er habe eine Selbstverletzung in Kauf genommen, um sein Ziel, die Erlangung der Freiheit erreichen zu können. Daß er möglicherweise nur mit leichteren Verletzungen gerechnet habe, vermag das Vorliegen von dolus eventualis nicht auszuschließen.

Die klagende Partei erkennt selbst, daß der von ihr gebrachte Fall des Terroristen, bei dem gemäß § 88 Abs 1 Z 2 ASVG eine Verwirkung des Leistungsanspruchs gegenüber dem Sozialversicherungsträger vorliegt, mit dem hier vorliegenden Fall nicht vergleichbar ist. Eine Flucht bzw ein Fluchtversuch eines Strafgefangenen stellt keine nach dem StGB strafbare Handlung dar. Eine Ersatzpflicht für besondere Aufwendungen in diesem Zusammenhang kann sich nur aus besonderen Normen ergeben. Für die Behauptung, warum gerade die hier einschlägige Norm (§ 32 Abs 1 StVG) "nicht interpretierbar" sei, läßt die klagende Partei jede Begründung vermissen. Zu Recht hat das Berufungsgericht erkannt, daß § 32 Abs 1 StVG zwei Tatbestände regle, die eine Ersatzpflicht der Strafgefangenen auslösen: einerseits besondere Aufwendungen, die durch die Flucht herbeigeführt wurden, und andererseits solche, die durch vorsätzliche Selbstbeschädigung verursacht worden sind. Das Berufungsgericht hat ausführlich, unter Berücksichtigung aller einschlägigen Normen betreffend die Krankenbehandlung im StVG und ASVG sowie den daraus abzuleitenden allgemeinen Grundsätzen dargelegt, warum nicht alle durch die Flucht ausgelösten besonderen Aufwendungen unter die Ersatzpflicht des § 32 Abs 1 StVG fallen, insbesondere nicht Heilungs- und Behandlungskosten für Verletzungen, die sich der flüchtende Strafgefangene nicht vorsätzlich, sondern nur zufällig oder fahrlässig anläßlich der Flucht zugezogen hat. Auf diese zutreffende Begründung wird verwiesen.

Zum Einwand der klagenden Partei, der Beklagte habe jedenfalls mit dolus eventualis seine Verletzung in Kauf genommen und das genüge für seine Ersatzpflicht, ist zu bemerken, daß es zwar grundsätzlich zutrifft, daß ein Strafgefangener, der seine Selbstbeschädigung auf der Flucht vorsätzlich, wenn auch nur mit dolus eventualis herbeigeführt hat, nach § 32 Abs 1 StVG ersatzpflichtig wird, weil diese Bestimmung keine besonders qualifizierte Form des Vorsatzes verlangt. Nach den vorliegenden Umständen muß aber ein solch bedingter Vorsatz (der Handelnde nimmt die von ihm erkannte Möglichkeit des Erfolgseintritts hin; § 5 Abs 1 zweiter Halbsatz StGB) ausgeschlossen werden: Dem Beklagten kann höchstens bewußte Fahrlässigkeit (er erkennt die Möglichkeit des Erfolgseintritts, hofft aber, daß er nicht eintreten werde; § 6 Abs 2 StGB) vorgeworfen werden: Hätte der Beklagte den Erfolgseintritt (seine Verletzung und deren Schwere) als gewiß angesehen, kann ihm nicht unterstellt werden, daß er den Fluchtversuch dennoch unternommen hätte, weil er hätte annehmen müssen, daß eine Flucht unter diesen Umständen zum Scheitern verurteilt wäre.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.

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