13Os59/93(13Os60/93) – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 28.April 1993 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kießwetter als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Hörburger, Dr.Massauer, Dr.Markel und Dr.Ebner als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag.Malesich als Schriftführerin in der Strafvollzugssache des Franz S***** wegen des § 46 Abs. 1 StGB über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen den Beschluß des (Kreis-, nunmehr) Landesgerichtes Wr.Neustadt vom 19.November 1992, GZ BE 617/92-8, und gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien vom 21.Dezember 1992, AZ 24 Bs 235/92, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr.Kodek, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten Franz S*****, zu Recht erkannt:
Spruch
In der Strafvollzugssache des Franz S***** verletzen die Beschlüsse des Kreis- (nunmehr Landes-)gerichtes Wiener Neustadt als Vollzugsgericht vom 19.November 1992, GZ BE 617/92-8, und des Oberlandesgerichtes Wien als Beschwerdegericht vom 21.Dezember 1992, AZ 24 Bs 235/92, das Gesetz im § 46 StGB in Verbindung mit dem Art 6 Abs. 2 MRK.
Diese Beschlüsse werden aufgehoben und es wird die Sache zu neuerlicher Entscheidung an das Landesgericht Wiener Neustadt als Vollzugsgericht zurückverwiesen.
Mit seiner gegen den vorzitierten Beschluß des Kreis-(nunmehr Landes-)gerichtes Wiener Neustadt erhobenen Beschwerde wird Franz S***** auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Rechtliche Beurteilung
Franz S***** verbüßt derzeit in der Strafvollzugsanstalt Hirtenberg über ihn mit Urteilen des Landesgerichtes für Strafsachen Wien, des Kreisgerichtes Korneuburg sowie des Jugendgerichtshofes Wien verhängte Freiheitsstrafen im Gesamtausmaß von drei Jahren und fünf Monaten (§ 1 Z 5 StVG). Das urteilsmäßige Strafende fällt (bei Berücksichtigung der angerechneten Vorhaftzeiten) auf den 20.Juli 1994. Die zeitlichen Voraussetzungen für die bedingte Entlassung nach dem § 46 Abs. 1 StGB waren am 4.November 1992 erfüllt, jene nach dem § 46 Abs. 2 StGB werden am 30.Mai 1993 vorliegen.
Die Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt stimmte zunächst der bedingten Entlassung nach dem § 46 Abs. 1 StGB des im Erstvollzug befindlichen Verurteilten zu (ON 5 in BE 617/92 des Kreisgerichtes Wiener Neustadt). Im Hinblick auf die mögliche bedingte Entlassung wurde ihm in der Zeit vom 6. bis 9.Oktober 1992 ein Ausgang bewilligt (§ 147 StVG). Während dieses Ausganges wurde er am 7.Oktober 1992 als im Verdacht stehend, einen PKW-Diebstahl begangen zu haben, festgenommen und wieder in das Gefangenenhaus eingeliefert.
Wegen "der Begehung einer neuerlichen strafbaren Handlung" zog die Staatsanwaltschaft nunmehr ihre Zustimmung zur bedingten Entlassung zurück (ON 7). Das Vollzugsgericht wies daraufhin mit Beschluß vom 19. November 1992, GZ BE 617/92-8, den Antrag des Franz S***** auf bedingte Entlassung aus der Freiheitsstrafe ab und begründete dies damit, daß der Verurteilte nach Gewährung von vier bedingten Strafnachsichten, die allesamt (zum Teil nach Verlängerung der Probezeit) widerrufen werden mußten, bei Gewährung eines Ausgangs neuerlich einschlägig straffällig geworden sei.
In seiner Beschwerde gegen diesen Beschluß bestritt Franz S***** vor allem die ihm vorgeworfene Begehung einer neuerlichen strafbaren Handlung (ON 10).
Das Oberlandesgericht Wien gab mit Beschluß vom 21.Dezember 1992, AZ 24 Bs 235/92, der Beschwerde dennoch nicht Folge. Es wiederholte die erstgerichtliche Begründung und stützte sich ebenso darauf, daß der Verurteilte bei Gewährung eines Ausganges neuerlich straffällig geworden sei.
Franz S***** wurde allerdings in der Folge mit (gekürzt ausgefertigtem und sogleich in Rechtskraft erwachsenem) Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 22.Jänner 1993, GZ 4 b EVr 12.425/92-12, "vom Strafantrag" wegen der ihm angelasteten, während des Ausganges verübten strafbaren Handlung freigesprochen.
Die zitierten Beschlüsse des Kreis-(nunmehr Landes-)gerichtes Wiener Neustadt und des Oberlandesgerichtes Wien verletzen das Gesetz.
Eine Bestrafung wegen der den Gerichten zur Aburteilung zugewiesenen strafbaren Handlungen kann nur nach vorgängigem Strafverfahren gemäß der Strafprozeßordnung infolge eines vom zuständigen Richter gefällten Urteils erfolgen (§ 1 StPO). Dies gilt nicht nur für die Bestimmung einer Strafe wegen einer strafbaren Handlung, sondern auch für die Verknüpfung anderer Unrechtsfolgen mit dieser strafbaren Handlung wie den Widerruf einer bedingten Strafnachsicht oder Entlassung (§ 53 Abs. 1 StGB, §§ 94 a StPO; arg: "verurteilt"), oder der bedingten Nachsicht und der bedingten Entlassung bei einer vorbeugenden Maßnahme (§ 54 Abs. 1 StGB, § 494 a StPO), sowie auch für die Heranziehung einer strafbaren Handlung als Versagungsgrund der bedingten Entlassung (vgl JBl 1991, 325). Neben den zeitlichen Voraussetzungen (Verbüßung der Hälfte der Strafe, mindestens jedoch von drei Monaten) erfordert der § 46 Abs. 1 StGB zur bedingten Entlassung die Annahme, es bedürfe zur Abhaltung des Rechtsbrechers von weiteren strafbaren Handlungen nicht der Vollstreckung des Strafrestes. Dies wurde vom Vollzugs- und Beschwerdegericht übereinstimmend mit der zwischenzeitig durch rechtskräftiges Urteil falsifizierten Feststellung verneint, Franz S***** sei bei Gewährung eines Ausganges neuerlich "straffällig geworden". Ausgangslage für die im § 46 Abs. 1 StGB geforderte Prognosestellung war für die zur Entscheidung über die bedingte Entlassung berufenen Gerichte daher nicht etwa der Verdacht der Begehung einer strafbaren Handlung, der bei bestimmter Sachverhaltsgestaltung, ist er im Sinne höherer Wahrscheinlichkeit entsprechend verdichtet, durchaus eine der Prognosegrundlagen darstellen kann, sondern die Annahme des Vorliegens eines feststehenden strafrechtlichen Verschuldens.
Die Prognosestellung nach § 46 StGB erfordert die Berücksichtigung verschiedener Gesichtspunkte. Die Begehung einer strafbaren Handlung während der Strafzeit kann aber auch hier nur nach einem in Rechtskraft erwachsenen förmlichen Schuldspruch Berücksichtigung finden. Dies gilt umsomehr, wenn der Verdächtige die ihm vorgeworfene Tat bestreitet. Vollzugs- und Beschwerdegericht haben sich jedoch in keiner Weise mit der Frage des Tatverdachtes und der (allfälligen) Plausibilität seiner Verantwortung auseinandergesetzt, sondern sind vor rechtskräftiger Verurteilung von feststehender strafrechtlicher Schuld ausgegangen. Dies widerspricht der Unschuldsvermutung des Art 6 Abs. 2 MRK.
Die in Wahrheit nur auf die unbegründete und unzulässige Annahme der Begehung einer neuen Straftat während des Ausgangs gestützten Beschlüsse des Vollzugs- und des Beschwerdegerichts verletzen daher zum Nachteil des Strafgefangenen das Gesetz und waren aufzuheben.
Da eine zwischenzeitige entscheidende Änderung der für eine bedingte Entlassung gemäß dem § 46 Abs. 1 StGB erforderlichen Voraussetzungen nicht ausgeschlossen werden kann, war entgegen der Ansicht des Generalprokurators die unterlaufene Gesetzesverletzung bloß festzustellen und unter gleichzeitiger Aufhebung der das Gesetz verletzenden Beschlüsse dem Vollzugsgericht die neuerliche Entscheidung aufzutragen.