6Ob731/76 – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Lassmann als Vorsitzenden und durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Sperl sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Petretto, Dr. Samsegger und Dr. Vogel als Richter in der Rechtssache des Antragstellers Ing. H* P*, Angestellter, *, vertreten durch Dr. Walter Faulhaber, Rechtsanwalt in Wien, gegen die Antragsgegnerin M* P*, Haushalt, *, vertreten durch Dr. Walter Schuppich, Dr. Werner Sporn und Dr. Michael Winischhofer, Rechtsanwälte in Wien, wegen Feststellung der Rechtmäßigkeit gesonderter Wohnungnahme, infolge Revisionsrekurses des Antragstellers, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für ZRS Wien als Rekursgerichtes vom 3. November 1976, GZ 44 R 285/76 16, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Döbling vom 13. September 1976, GZ 3 Nc 150/76 11, aufgehoben wurde, folgenden
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben und der angefochtene Beschluß dahin abgeändert, daß die Entscheidung des Gerichtes erster Instanz wieder hergestellt wird.
Text
Begründung:
Die Parteien haben am 30. 1. 1962 die Ehe geschlossen, aus welcher die Kinder B* (geboren am *) und A* (geboren am * ) hervorgegangen sind. Die Familie bewohnte gemeinsam die Wohnung in Wien *. Nach Angabe des Antragstellers ist die Ehe zerrüttet und es haben zwischen den Ehegatten schon Gespräche wegen einer allfälligen Scheidung der Ehe stattgefunden.
Am 1. 4. 1976 verließ der Antragsteller die Ehewohnung und stellte unter einem beim Erstgericht den Antrag, gemäß § 92 Abs 2 neue Fassung ABGB die Rechtmäßigkeit der gesonderten Wohnungnahme festzustellen.
Zur Begründung führte er an, er sei durch den ständigen, von der Antragsgegnerin gegen ihn geführten Kleinkrieg nervlich derart belastet, daß er sich bereits vor Monaten in ärztliche Behandlung begeben mußte. Der behandelnde Arzt, dem die häuslichen Verhältnisse bekannt seien, weil er beide Parteien behandle, habe dem Antragsteller erklärt, er müsse unbedingt das gemeinsame Wohnungsverhältnis mit der Antragsgegnerin lösen, wenn eine Verbesserung des Gesundheitszustandes herbeigeführt werden solle. Zur Erhaltung seiner Arbeitskraft habe der Antragsteller seine gegenwärtige Wohnung beziehen müssen.
Die Antragsgegnerin sprach sich gegen den Antrag aus.
Mit dem Antrag wurde eine Bestätigung des behandelnden Arztes Dozent Dr. J* vom 5. 3. 1976 vorgelegt, wonach der Antragsteller wegen schwerer Organneurose und vegetativer Stigmatisation seit geraumer Zeit in ärztlicher Behandlung steht. Der Patient ist – so heißt es darin – wegen seines Krankheitszustandes keinerlei psychischer Belastung gewachsen und kann hiedurch irreparable Schäden erleiden. Nach Ansicht dieses Arztes ist es dringend geboten, jedwede Streitmöglichkeit strikte zu vermeiden und das derzeitige Wohnungsverhältnis zu lösen, das dem Arzt als primärer Grund von Auseinandersetzungen bekannt ist.
Das Erstgericht bestellte den Sachverständigen Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. F*, der unter Heranziehung beider Ehegatten zu ausführlichen Gesprächen und Stellungnahmen einen Befund erhob und ein Gutachten erstattete. Gemäß diesem Befund, hinsichtlich dessen Einzelheiten auf die Darstellung S. 1 5 ff des Aktes verwiesen wird, ist in der Ehe der Parteien ein unglücklicher Zustand des Familienlebens entstanden. Der vom Antragsteller als „Kleinkrieg“ bezeichnete Zustand oft recht dramatisch verlaufender Einzelereignisse begann immer mehr die psychische Struktur des Antragstellers zu stören. Ende 1975 oder Anfang 1976 fühlte sich der Antragsteller nervlich so am Ende, daß ihm Dozent Dr. S* Medikamente verschreiben mußte. Im Februar 1976 gingen die Eheleute nochmals gemeinsam auf Urlaub, doch zeigte sich ihre Entfremdung schon in so hohem Maße, daß jeder durch das Verhalten des anderen in gereizte und getrübte Stimmung geriet. Die darauffolgenden Wochen, in denen die Ehegatten neuerliche Versuche eines gemeinsamen Zusammenlebens unternahmen, werden von beiden als „furchtbar“ bezeichnet. Die unleidliche häusliche Lage wirkte sich für den Antragsteller auch verheerend auf seine Tätigkeit am Arbeitsplatz aus. Er ist nicht mehr fähig, wichtige Entscheidungen zu treffen, nimmt getroffene Entscheidungen später unmotiviert wieder zurück, kann nicht mehr autofahren, alle sonst in krisenhaften Zeiten auftretenden Beschwerden kommen äußerst verstärkt zum Vorschein, es kommt zu deutlichem Gewichtsverlust und immer häufiger melden sich Selbstmordgedanken. Auch die Antragsgegnerin schildert die gesteigerte Unruhe des Antragsgegner so, dass er um 5 Uhr früh das Bett verläßt und sich entgegen seiner sonstigen Gewohnheit allein auf stundenlange Wanderungen begibt. Holt er seine Frau und die Kinder ab, so geht er völlig schweigend neben ihnen einher.
Der Antragsteller ist konstitutionell durch eine starke Labilität seines Vegetativums belastet; das bedeutet, daß Überforderungen an das Vegetativum, wie sie durch Arbeiten unter großer Verantwortung oder starkem Zeitdruck, aber auch durch psychische Konfliktsituationen zustandekommen, von ihm nicht durch Anpassung verarbeitet und bewältigt werden können.
Außer diesen konstitutionellen vegetativen Schwächen liegt auch eine Persönlichkeits- und Charakteranlage vor, derzufolge vor allem durch die familiären Umstände in der Kindheit und Jugendzeit, aber auch durch seine spätere Ehesituation eine psychische Struktur entstand, die den Antragsteller nicht befähigt, gehäufte und verstärkte Konflikte ohne größeren psychischen oder körperlichen Schaden mit starker Minderung der allgemeinen Leistungsfäh ig keit zu meistern.
In seinem Gutachten zog der Sachverständige aus dem Befund den Schluß, daß die meisten Probleme der Eheleute aus einer verschiedenen Anlage des Lebensstils erwüchsen und zu einem Punkt geführt hätten, an dem ein Ausgleich der Konfliktsituation kaum mehr zu finden sei. Aus psychiatrisch-neurologischer Sicht ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, daß der Antragsteller durch den Weiterverbleib in einer gemeinsamen Wohnung mit seiner Gattin psychische und körperliche dauernde krankhafte Schädigungen davontragen würde, wodurch er sogar unfähig werden könnte, seine schwierigen, viele Kräfte und Konzentration erfordernden beruflichen Leistungen weiterhin erbringen zu können.
Das Erstgericht gab dem Antrag statt und beurteilte den Sachverhalt dahin, daß die psychische und körperliche Beeinträchtigung des Antragstellers einen wichtigen persönlichen Grund für die gesonderte Wohnungnahme darstelle, die auch dem Wohl der Kinder diene, weil der Antragsteller nur so seine Arbeitsleistung erbringen und damit den Unterhalt der Kinder leisten könne.
Mit dem nunmehr angefochtenen Beschluß hob das Rekursgericht die Entscheidung erster Instanz auf und trug dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrenser gä nzung auf. Es führte aus:
§ 92 Abs 2 neue Fassung ABGB enthalte zwei Tatbestände der berechtigten gesonderten Wohnungnahme gegen den Willen des anderen Ehegatten, nämlich den der Unzumutbarkeit des Zusammenlebens und jenen der gerechtfertigten Wohnungnahme aus wichtigen persönlichen Gründen. Beiden Tatbeständen sei das Moment des Vorübergehenden gemeinsam.
Die bloß subjektive, wenn auch krankhaft bedingte Meinung des Ausziehenden, das gemeinsame Zusammenwohnen nicht mehr zu ertragen, ohne daß dies durch ein schuldhaftes Verhalten des anderen Ehegatten bedingt sei, vermöge die nur als Ausnahme von § 90 neue Fassung ABGB zulässige gesonderte Wohnungnahme nicht zu rechtfertigen. Dies könne auch nicht auf den zweiten Tatbestand des § 92 Abs. 2 ABGB gestützt werden. Unter den „wichtigen persönlichen Gründen“ könne nicht die vom Ausziehenden empfundene Unerträglichkeit des weiteren Zusammenlebens verstanden werden, sondern die Berufs- oder krankheitsbedingte Notwendigkeit einer vorübergehenden Aufhebung des gemeinsamen Wohnens.
Da der Antragsteller vorgebracht habe, daß ihn „der ständige, von der Antragsgegnerin geführte Kleinkrieg“ derart belaste, daß er sich in ärztliche Behandlung habe begeben müssen und dieser „Kleinkrieg“ seine Arbeitskraft gefährde, das Erstgericht aber über das behauptete schuldhafte Verhalten der Antragsgegnerin keine Feststellungen getroffen habe, sei der angefochtene Beschluß aufzuheben. Im fortgesetzten Verfahren werde das Erstgericht zu erheben haben, ob der Antragsteller tatsächlich durch ein schuldhaftes Verhalten der Antragsgegnerin in einer solchen Weise psychisch belastet werde, daß ihm unter Berücksichtigung der gesamten weiteren Umstände der Familie, insbesondere auch unter Bedachtnahme auf das Wohl der Kinder, das weitere Zusammenleben nicht mehr zumutbar sei.
Gegen den Beschluß zweiter Instanz richtet sich der Revisionsrekurs des Antragstellers mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluß im Sinne der Wiederherstellung der Entscheidung erster Instanz abzuändern.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist berechtigt.
Die Gegenüberstellung von Gründen der „Unzumutbarkeit“ und von „wichtigen persönlichen Gründen“ für die gesonderte Wohnungnahme in § 92 Abs. 2 ABGB n.F ist insoferne irreführend, als auch in den Unzumutbarkeitsfällen zwangsläufig persönliche Belange des Antragstellers berührt werden (vgl. Schwimann in ÖJZ 1976, S. 3 69, Anm. 44). Zumindest in der Regel wird sich die „Unzumutbarkeit“ aus der Gestaltung der Ehe zufolge des Verhaltens des anderen Ehegatten oder aus Umständen in dessen Persönlichkeitsbereich ergeben, während die „wichtigen persönlichen Gründe“ ausschließlich die Person des Antragstellers betreffen. Ob das „Unzumutbarkeit“ begründende Verhalten des anderen Teiles diesem als Verschulden (offenbar: in eheschuldrechtlichem Sinn) angelastet werden kann, ist – entgegen der Ansicht des Rekursgerichtes – ohne Belang; gibt es ja doch auch Scheidungsgründe ohne Verschulden des auf Scheidung beklagten Ehepartners. Liegen „wichtige persönliche Gründe“ auf Seite des Antragstellers vor, müssen bei der Entscheidung im Sinn des § 92 Abs. 3 ABGB wohl die gesamten Umstände der Familie berücksichtigt werden, doch braucht das Verhalten des anderen Teiles nicht mehr im Sinn der „Unzumutbarkeits-“Regelung im einzelnen geprüft zu werden.
Im vorliegenden Fall reichen die bisherigen Verfahrensergebnisse aus, um die Rechtmäßigkeit der gesonderten Wohnungnahme „aus wichtigen persönlichen Gründen“ bejahen zu können.
Steht der Wunsch eines Ehegatten auf Aufrechterhaltung der umfassenden Lebensgemeinschaft einschließlich der Wohnungsgemeinschaft dem Bedürfnis des anderen Ehegatten nach gesonderter Wohnungnahme aus persönlichen Gründen gegenüber, dann hat eine Abwägung der beiderseitigen schutzwürdigen Interessen dahin stattzufinden, ob die auf Seite des Antragstellers objektiv gegebenen persönlichen Gründe ein solches Gewicht haben, daß sie eine vorübergehende Lösung der Wohngemeinschaft rechtfertigen, wobei auf die gesamten Umstände der Familie, besonders auf das Wohl der Kinder, Bedacht zu nehmen ist (vgl. dazu auch Hopf in Ent-Hopf „Die Neuordnung der persönlichen Rechtswirkungen der Ehe“ S. 102).
Dem Rekursgericht ist darin beizupflichten, daß es nicht auf bloß subjektive Meinungen des Antragstellers bezüglich eines von ihm als unangenehm empfundenen Zustandes ankommt, sondern auf den objektiven Sachverhalt und dessen Gewicht.
Das Erstgericht ist dem Befund und Gutachten des Sachverständigen gefolgt und hat sich daher auch die tatsächlichen Voraussetzungen zu eigen gemacht, die dieser in ausführlichen Gesprächen mit beiden Ehegatten als Grundlage seiner fachlichen Beurteilung erhoben hat. Der F all liegt nicht so, daß eine Tatsachengrundlage für die Entscheidung des Erstgerichtes schlechthin fehlte oder unzulänglich erhoben worden wäre.
Mit Recht verweist der Antragsteller im Rekurs darauf, daß das Erstgericht seine Entscheidung keineswegs auf bloße persönliche Empfindungen und Meinungen des Antragstellers gestützt habe, sondern auf die mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand ärztlich empfohlene Therapie. Die Wahrscheinlichkeit, daß der Antragsteller durch den Verbleib in der gemeinsamen Wohnung der Eheleute psychische und körperliche dauernde Krankheitsschädigungen davontragen würde, ist eine objektiv vorliegende Entscheidungsgrundlage und ein wichtiger persönlicher Grund zur vorübergehenden gesonderten Wohnungn a hme von bedeutendem Gewicht.
Ob der die Gesundheit und Arbeitskraft des Antragstellers in hohem Maße bedrohende Zustand des Familienlebens von der Antragsgegnerin verursacht oder mitverursacht wurde und ihr dies eheschuldrechtlich anzulasten ist, ist also eine Frage außerhalb des gegenwärtigen Entscheidungsgegenstandes. Die gesonderte Wohnungnahme des Antragstellers erweist sich aus wichtigen persönlichen Gründen, nämlich zum Schutze der Integrität seiner Person und zur Erhaltung seiner Arbeitskraft, auch und gerade im Interesse der Familie, als objektiv gerechtfertigt.
Dem Revisionsrekurs war daher Folge zu geben und in Abänderung des angefochtenen Beschlusses die Entscheidung des Gerichtes erster Instanz wieder herzustellen.