JudikaturOGH

7Ob60/76 – OGH Entscheidung

Entscheidung
04. November 1976

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Neperscheni als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Flick, Dr. Petrasch, Dr. Kuderna und Dr. Wurz als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Z*, vertreten durch Dr. Ingo Ubl, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagten Parteien 1.) H* G*, Angestellter, *, 2.) E* G*, Kaufmann, ebendort, 3.) prot. Firma W* G* Co., *, sämtliche vertreten durch Dr. Reinhold Moosbrugger, Rechtsanwalt in Dornbirn, wegen 85.698,30 S s.A. und Feststellung (Streitwert insgesamt 145.698,30 S s.A.), infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes vom 15. Juni 1976, GZ 1 R 119/76 34, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch vom 23. März 1976, GZ 2 Cg 711/74 30, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin ist schuldig, den Beklagten die mit 5.386,50 S bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin 960,— S Barauslagen und 327,90 S Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Erstbeklagte verschuldete am 9. November 1971 als Lenker des im Unfallszeitpunkt bei der Klägerin haftpflichtversicherten und vom Zweit- und der Drittbeklagten gehaltenen PKW mit dem polizeilichen Kennzeichen * auf der Bundesstraße 190 in Koblach einen Verkehrsunfall, wobei dieser PKW auf die linke Fahrbahnhälfte geriet und mit dem entgegenkommenden, seine rechte Fahrbahnhälfte befahrenden PKW * zusammenstieß. Der Lenker des letztgenannten PKWs, H* S*, wurde getötet, fünf weitere Insassen dieses Fahrzeuges wurden schwer verletzt. Der Erstbeklagte wurde mit Urteil des Landesgerichtes Feldkirch vom 7. Juni 1973, 13 Vr 1785/71 39, rechtskräftig des Vergehens gegen die Sicherheit des Lebens nach § 335 StG schuldig erkannt, weil er infolge einer für die Fahrbahnverhältnisse (regennasse Straße) und den Straßenverlauf (Rechtskurve auf einer Fahrbahnkuppe) überhöhten Geschwindigkeit seine rechte Fahrbahnhälfte nicht eingehalten hatte.

Die Klägerin begehrt den Zuspruch von 85.198,30 S s.A., sowie die Feststellung, daß ihr die Beklagten sämtliche wegen dieses Unfalles zu erbringenden Leistungen zu ersetzen haben, mit der Begründung, der Unfall sei dadurch verursacht worden, daß die Bereifung des vom Erstbeklagten gelenkten Fahrzeuges nicht in Ordnung gewesen sei. Hiedurch sei eine willkürliche Gefahrenerhöhung eingetreten, die die Klägerin gemäß § 25 VersVG leistungsfrei mache. Die Klägerin habe bisher den eingeklagten Betrag an die Geschädigten ersetzt und müsse mit weiteren Schadenersatzansprüchen rechnen.

Die Beklagten beantragten Klagsabweisung und wendeten ein, die geringfügige Unterschreitung der vorgeschriebenen Profiltiefe an den Reifen hätte nur mit Hilfe eines Spezialgerätes ermittelt werden können. Sie sei mit freiem Auge nicht erkennbar gewesen. Das Fahrzeug sei überdies regelmäßig zum Service gebracht und nicht beanstandet worden. Aus diesem Grunde treffe die Beklagten kein Verschulden an der behaupteten Gefahrenerhöhung. Im übrigen sei diese für den Unfall nicht kausal gewesen.

Beide Untergerichte wiesen das Klagebegehren ab. Hiebei gingen sie von folgendem wesentlichen Sachverhalt aus:

Der Erstbeklagte hat sich vor Antritt der Unfallsfahrt vom Zustand der am PKW montierten Reifen selbst kein Bild verschafft. Er hat sich darauf verlassen, daß der Zweitbeklagte, der das Fahrzeug zu seiner Verfügung hatte, dieses in ordentlichem Zustand gehalten habe. Das Fahrzeug wurde erstmals am 1. September 1969 zum Verkehr zugelassen. Es war mit sogenannten „Kleber Gürtelreifen“ ausgestattet und hatte im Unfallszeitpunkt einen Kilometerstand von 30.120 (vom Berufungsgericht berichtigt auf 31.447). Derartige Reifen können bei normaler Abnützung bis zu 50.000 km ohne Abnützung der Profile auf weniger als 1 mm gefahren werden. Tatsächlich wurde mit diesen Reifen nur eine Strecke von ca. 15.000 km (vom Berufungsgericht berichtigt um 1.327 km mehr) zurückgelegt, weil während der Wintermonate 1969/70 und 1970/71 andere Reifen montiert waren. Die geringfügige Abnützung des rechten vorderen und linken hinteren Reifens (bei diesem ergaben vier Stellen Profiltiefen von 0,8, 0,8, 0,5 und 0,9 mm und beim rechten vorderen Reifen an zwei Stellen Profiltiefen von 0,8 und 0,9 mm) konnten weder vom Erst-, noch vom Zweitbeklagten mit freiem Auge festgestellt werden, weil diese geringfügigen Unterschreitungen der vorgeschriebenen Mindestprofiltiefe von 1 mm nur mit Hilfe eines Spezialgerätes festgestellt werden kann. Außerdem war das Fahrzeug am 3. November 1971, also sechs Tage vor dem Unfall, beim 30.000 Kilometer-Service in der Alfa-Romeo-Werkstätte des J* P* in S*. Der das Service durchführende Monteur hat den fehlerhaften Zustand der Reifen ebenfalls nicht erkannt. Überdies war der Zustand der Reifen für den Unfall nicht kausal, weil der Erstbeklagte an der Unfallstelle durch einen Wassersack mit einer Tiefe von mehreren Millimetern gefahren ist, wodurch er auf die linke Fahrbahnhälfte geraten war und auch dorthin geraten wäre, wenn alle vier Reifen seines Fahrzeuges die Mindestprofiltiefe von 1 mm aufgewiesen hätten.

Rechtlich vertrat vor allem das Berufungsgericht den Standpunkt, das Fahren mit abgefahrenen Reifen stelle eine willkürliche Gefahrenerhöhung im Sinne des § 23 Abs 1 VersVG dar, die den Versicherer nach § 25 Abs 1 VersVG von der Verpflichtung zur Leistung befreie. Dies gelte auch schon dann, wenn nur ein Reifen abgefahren war. Diese Gefahrenerhöhung habe aber der Versicherungsnehmer erst dann zu verantworten, wenn er die Kontrolle des Reifens überhaupt unterläßt oder trotz erkennbarer Mängel der Reifen das Kraftfahrzeug in Betrieb setzt. Ein Wissen um die Gefahrenerhöhung stehe dem verschuldeten Nichtwissen gleich. Dies sei allerdings bei fehlender Sinnfälligkeit zu verneinen. Wenn, wie im vorliegenden Fall, die zu geringe Profiltiefe zweier Reifen mit freiem Auge nicht erkennbar gewesen sei, sondern es eines Spezialgerätes bedurft hätte, um diese Mängel festzustellen, dann ergebe sich daraus zwangsläufig, daß dieser Umstand dem Versicherungsnehmer nach § 23 Abs 1 VersVG nicht anzulasten sei. Die Beweislast für die Umstände der Gefahrenerhöhung und des Verschuldens des Versicherungsnehmers treffe den Versicherer. Auf Grund der getroffenen Feststellungen sei der Klägerin dieser Beweis nicht gelungen. Darüberhinaus hätten die Beklagten den Nachweis erbracht, daß der mangelhafte Zustand der Reifen für den Unfall wegen des aufgetretenen Aquaplanings nicht kausal gewesen sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Es wird Abänderung im Sinne der Klage begehrt. Hilfsweise stellt die Klägerin einen Aufhebungsantrag.

Die Beklagten beantragen, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht gerechtfertigt.

Die Revision geht insoweit nicht von dem von den Untergerichten festgestellten Sachverhalt aus, als sie von einer Mitverursachung des Unfalles durch sich auf der Fahrbahn bildende Wassersäcke spricht. Die Untergerichte haben jedoch ausgeführt, das versicherte Fahrzeug wäre infolge der herrschenden Straßenverhältnisse auch auf die linke Fahrbahn geraten, wenn alle Reifen die vorgeschriebene Mindestprofiltiefe erreicht hätten. Dies heißt nichts anderes, als daß der Unfall durch die Straßenverhältnisse, verbunden mit der Fahrweise des Erstbeklagten, allein und nicht bloß mitverursacht worden ist, die mangelhafte Bereifung des Fahrzeuges sohin für den Unfall nicht ursächlich war. Ob diese Feststellung richtig ist oder nicht, kann der Oberste Gerichtshof nicht überprüfen, weil es sich hiebei um eine reine Tatsachenfeststellung handelt.

Hiemit haben die Beklagten den ihnen nach § 25 Abs 3 VersVG obliegenden Gegenbeweis erbracht. Im übrigen sei hier darauf verwiesen, daß auch bei diesem Negativbeweis nicht eine mathematische, jeden Zweifel und jede Möglichkeit des Gegenteiles ausschließende Gewißheit verlangt werden kann. Es genügt vielmehr ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewißheit, der den Zweifel zwar nicht völlig ausschließt, ihn jedoch in Hinblick auf die erwiesene große Wahrscheinlichkeit eines anderen Sachverhaltes unbeachtlich erscheinen läßt (ZVR 1974/169, VersR 1969, 983 u.a.).

Was nun das Wissen von der Gefahrenerhöhung anlangt, so ist es zwar richtig, daß die Rechtsprechung ein verschuldetes Nichtwissen der Kenntnis im allgemeinen gleichstellt (JBl 1968, 480, ZVR 1969/90 u.v.a.). Dem Wissen des Versicherungsnehmers um die Gefahrenerhöhung steht jedoch nur ein solches Wissenmüssen gleich, das der positiven Kenntnis gleichkommt; das ist dann der Fall, wenn die Gefahrenerhöhung für den Versicherungsnehmer unter Berücksichtigung der von ihm zu erwartenden Aufmerksamkeit, Kenntnisse und Fähigkeiten durchaus sinnfällig ist, er sie aber trotzdem nicht beachtet. Diese Sinnfälligkeit wird jedoch regelmäßig schon dann zu verneinen sein, wenn es zur Klärung der Frage, ob eine Gefahrenerhöhung gegeben ist, erst besonders weitwendiger Erhebungen durch einen Sachverständigen bedarf (EvBl 1970/262, 7 Ob 22/70, 7 Ob 12, 13/76 u.a.).

Im vorliegenden Fall war nicht nur die Mangelhaftigkeit der Reifenprofile ohne Spezialgerät nicht erkennbar. Die Reifen waren auch erst auf einer Kilometerstrecke benützt worden, die nicht einmal ein Drittel jener Strecke beträgt, die Reifen dieser Art ohne wesentliche Abnützungserscheinungen im allgemeinen zurücklegen können. Hinzu kommt, daß an dem Fahrzeug erst kurz vor dem Unfall in einer Spezialwerkstätte das Service durchgeführt worden war. Alle diese Umstände schließen aus, daß das Nichterkennen des Reifenmangels einem Wissen um diesen Mangel rechtlich gleichzusetzen wäre. Damit wurde aber auch das Verschulden der Beklagten an der Gefahrenerhöhung nicht bewiesen.

Da die Untergerichte sohin die Sache rechtlich richtig beurteilt haben, mußte der Revision ein Erfolg versagt bleiben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41 und 50 ZPO.

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