8Os143/61 – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 18. April 1961 unter dem Vorsitz des Senatspräsidenten Dr. Mironovici, in Gegenwart der Räte des Obersten Gerichtshofs Dr. Heidrich, Dr. Mayer, Dr. Bröll und Dr. Möller als Richter sowie des Richteramtsanwärters Dr. Oberhammer als Schriftführer, in der Strafsache gegen Friedrich N***** wegen des Vergehens nach dem § 1 Abs 2 Unterhaltsschutzgesetz 1960 über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 14. November 1960, GZ 2 Vr 1667/60-16, und das Urteil dieses Gerichts vom gleichen Tage GZ 2 Vr 1667/60-18 erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung, nach Anhörung des Vortrags des Berichterstatters, Rat des Obersten Gerichtshofs Dr. Mayer, und der Ausführungen des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Aggermann, zu Recht erkannt:
Spruch
Der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 14. 11. 1960, GZ 2 Vr 1667/60-16, auf Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten Friedrich N***** gemäß dem § 427 Abs 1 StPO und das Urteil des nämlichen Gerichts vom gleichen Tage, GZ 2 Vr 1667/60-18, womit der Angeklagte Friedrich N***** wegen des Vergehens nach dem § 1 Abs 2 USchG 1960 schuldig erkannt und zu einer Strafe verurteilt wurde, verletzen das Gesetz in den Bestimmungen der §§ 79 Abs 1, 80 Abs 1, 427 Abs 1 StPO.
Dieser Beschluss und dieses Urteil werden aufgehoben.
Das Landesgericht für Strafsachen Graz wird angewiesen, sich der neuerlichen Verhandlung und Entscheidung über die von der Staatsanwaltschaft gegen Friedrich N***** erhobene Anklage wegen des Vergehens nach dem § 1 Abs 2 USchG 1960 zu unterziehen.
Der Angeklagte Friedrich N***** wird mit seinem Einspruche, seiner Nichtigkeitsbeschwerde und seiner Berufung auf diese Entscheidung verwiesen.
Gründe:
Rechtliche Beurteilung
Gegen den wiederholt vorbestraften Friseurgehilfen Friedrich N***** wurde von der Staatsanwaltschaft Graz wegen des Vergehens nach dem § 1 Abs 2 USchG 1960 die Anklageschrift eingebracht. Eine Zustellung derselben unter der in der Anzeige enthaltenen von N***** angegebenen Anschrift Graz, L*****gasse Nr *****, blieb erfolglos. Nach Ermittlung seiner neuen Anschrift: Graz-Liebenau, M*****graben Nr ***** (S 25), erfolgte die Zustellung der Anklageschrift, da N***** ungeachtet vorgängiger Aufforderung unter dieser Anschrift nicht anzutreffen war, durch Hinterlegung am 18. 10. 1960 (S 21). Die Vorladung des Angeklagten zu der für den 14. 11. 1960 anberaumten Hauptverhandlung mittels StPO-Form 108 erging jedoch irrigerweise wiederum an die Anschrift Graz, L*****gasse *****, wurde hinterlegt, kam jedoch dem Angeklagten niemals zu (S 34 und 49).
Zur Hauptverhandlung vom 14. 11. 1960 war der Angeklagte nicht erschienen, das Gericht stellte fest, dass die Zustellung der Vorladung durch Hinterlegung ausgewiesen sei, und fasste den Beschluss, die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten gemäß dem § 427 Abs 1 StPO durchzuführen (S 35). Mit Urteil vom gleichen Tage, GZ 2 Vr 1667/60-18, wurde der Angeklagte Friedrich N***** des Vergehens nach dem § 1 Abs 2 USchG 1960, begangen in der Zeit vom 8. 3. bis 15. 6. 1960 in Graz durch gröbliche Verletzung seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht gegenüber seinem außerehelichen Kinde Edeltraud M*****, wobei er innerhalb der letzten drei Jahre vor der Tat schon wegen der Verletzung der Unterhaltspflicht bestraft worden war, schuldig erkannt und zur Strafe des strengen Arrestes in der Dauer eines Jahres, verschärft durch drei harte Lager, und gemäß dem § 389 StPO zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens verurteilt. Dieses Urteil wurde dem Angeklagten schließlich unter der Anschrift Graz-Liebenau, M*****weg (richtig: M*****graben) Nr *****, durch Hinterlegung am 19. 10. 1960 zugestellt, nachdem vorerst irrtümlich wieder die Zustellung unter der Anschrift Graz, L*****gasse *****, veranlasst worden war (S 47). Am 3. 1. 1961 brachte Friedrich N***** einen als Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung bezeichneten, sachlich überdies als Einspruch zu wertenden Schriftsatz (ONr 21) ein, der jedoch verspätet ist.
Der vom Landesgericht für Strafsachen Graz eingehaltene Vorgang steht, soweit die Zustellung der Vorladung des Angeklagten Friedrich N***** zur Hauptverhandlung vom 14. 11. 1960 durch Hinterlegung für ausgewiesen erachtet, gemäß dem § 427 Abs 1 StPO die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt und ein Urteil gefällt wurde, mit dem Gesetz nicht im Einklang.
Gemäß dem 1. Absatz des § 427 StPO kann, wenn der Angeklagte bei der Hauptverhandlung nicht erschienen ist, in seiner Abwesenheit die Hauptverhandlung vorgenommen und das Urteil gefällt werden, jedoch bei sonstiger Nichtigkeit nur dann, wenn es sich um ein höchstens mit 5jähriger Freiheitsstrafe bedrohtes Verbrechen oder um ein Vergehen handelt, der Angeklagte bereits in der Voruntersuchung vernommen und ihm die Vorladung zur Hauptverhandlung noch persönlich zugestellt wurde. Gemäß dem § 79 Abs 1 StPO muss die Vorladung zur Hauptverhandlung in I. Instanz dem Beschuldigten selbst zugestellt werden.
Im gegebenen Falle traf die letztgenannte Voraussetzung nicht zu.
Gemäß dem § 80 Abs 1 StPO sind auf das Verfahren bei Zustellungen die Vorschriften der §§ 87 bis 91, 100 bis 105, 109, 110, 114 der ZPO dem Sinne nach anzuwenden. Gemäß dem § 101 Abs 1 ZPO ist die Zustellung in erster Linie in der Wohnung an die Person, der zugestellt werden soll, vorzunehmen. Eine Ersatzzustellung gemäß den Bestimmungen des § 106 Abs 2 und 3 ZPO (§ 80 Abs 1, 2. Satz, StPO), die vorzunehmen ist, wenn die Zustellung zu eigenen Händen des Empfängers nicht bewirkt werden kann, setzt demgemäß das Vorhandensein eines zutreffenden Zustellortes voraus. Friedrich N***** hatte jedoch zur Zeit der Zustellung der Vorladung zur Hauptverhandlung vom 14. 11. 1960 seine Wohnung nicht mehr in Graz, L*****gasse *****, sondern in Graz-Liebenau, M*****graben *****; nur die letztgenannte Anschrift war Wohnung und damit Ort der Zustellung im Sinn des § 101 Abs 1 ZPO. Die vom Zustellorgan gemäß den §§ 106 Abs 2, 104 ZPO eingehaltene Vorgangsweise und schließlich die Hinterlegung der Vorladung zur Hauptverhandlung konnten demnach mangels Bestehens eines zutreffenden Zustellortes keine Wirkungen gegen den Angeklagten zeitigen, die Vorladung zur Hauptverhandlung wurde ihm somit nicht persönlich zugestellt. Es kann bei dieser Sachlage dahingestellt bleiben, ob die Ausführungen in Lohsing-Serini S 226 ff über die Ersatzzustellung zutreffend sind oder nicht.
Der von der Generalprokuratur erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes war daher Folge zu geben und wie im Spruche zu erkennen. Der Angeklagte Friedrich N***** war mit seinem Einspruche, seiner Nichtigkeitsbeschwerde und seiner Berufung auf diese Entscheidung zu verweisen.