22R36/23h – LG Korneuburg Entscheidung
Kopf
IM Namen der Republik
Das Landesgericht Korneuburg als Berufungsgericht hat durch die Richter Mag Iglseder als Vorsitzenden sowie Mag Rak und Mag Jarec LLM in der Rechts-sache der klagenden Partei A***** G***** GmbH , vertreten durch Stanonik Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei A***** A***** AG , vertreten durch Brenner Klemm, Rechtsanwälte in Wien wegen EUR 800,-- sA, infolge Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Bezirksgerichts Schwechat vom 24.11.2022, 20 C 37/22z 9, in nicht öffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wird Folge gegeben, und das angefochtene Urteil dahin abgeändert, dass es zu lauten hat:
„[1] Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei EUR 800,-- zu zahlen, wird abgewiesen.
[2] Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit EUR 839,52 (darin EUR 139,92 USt) bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen zu Handen der Beklagtenvertreter zu ersetzen.“
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit EUR 434,54 (darin EUR 46,76 USt und EUR 154,-- Barauslagen) bestimmten Kosten des Beru-fungsverfahrens binnen 14 Tagen zu Handen der Beklagtenvertreter zu ersetzen.
Die Revision ist jedenfalls unzulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSgründ E:
Die Fluggäste E***** R***** und V***** R***** verfügten über eine bestätigte Buchung für die Flugverbindung am 14.11.2019
– OS 858 von Tel Aviv (TLV) nach Wien (VIE), 16:10 Uhr bis 19:05 Uhr,
– OS 7053 / OU 443 von VIE nach Zagreb (ZAG), 19:35 Uhr bis 20:25 Uhr, und
– OU 656 von ZAG nach Split (SPU), 21:10 Uhr bis 22:00 Uhr.
Der Flug OS 858, dessen ausführendes Luftfahrtunternehmen die Beklagte war, verließ aufgrund einer „Rotationsverspätung“ TLV erst um 17:39 Uhr und erreichte VIE erst um 20:16 Uhr, was dazu geführt hätte, dass die Fluggäste ihre Anschlussflüge nicht erreicht hätten, wenn sie mit diesem Flug befördert worden wären. Sie wurden daher von der Beklagten auf den von der israelischen Luftfahrtgesellschaft E***** durchgeführten Flug LY 363 von TLV nach VIE mit dem planmäßigen Flugzeiten 16:15 Uhr bis 19:00 Uhr umgebucht, der sich jedoch ebenfalls verspätete und VIE erst um 19:29 Uhr erreichte ( on-block ), wodurch die Minimum Connecting Time (MCT) von 30 min zum Flug OS 7053 / OU 443 unterschritten wurde, sodass die Fluggäste ihre geplanten Anschlussflüge dennoch verpassten und ihr Endziel SPU mit einer Verspätung von mehr als drei Stunden erreichten. Die Flugstrecke TLV – SPU umfasst eine Entfernung von mehr als 1.500 km [jedoch nicht mehr als 3.500 km]. Der Fluggäste traten die klagsgegenständlichen Ansprüche an die A***** Ltd ab, die die Abtretung annahm und die Ansprüche an die Beklagte abtrat, die ihrerseits die Abtretung annahm.
Die Klägerin begehrte den Zuspruch einer Ausgleichsleistung gemäß Art 7 [Abs 1 lit b] der Verordnung (EG) Nr 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.02.2004 (EU-FluggastVO) von jeweils EUR 400,-- insgesamt daher EUR 800,-- (ohne Zinsen). Sie brachte im Wesentlichen vor, die Beklagte sei ausführendes Luftfahrtunternehmen des Fluges OS 858 gewesen. Dass der von der Beklagten angebotene Ersatzflug nicht von ihr selbst ausgeführt worden sei, sei rechtlich irrelevant; die Beklagte habe sich das aus der absehbaren Verspätung des Fluges OS 858 ergebende Nichterreichen der Anschlussflüge zurechnen zu lassen.
Die Beklagte beantragte die Klagsabweisung, bestritt und brachte im Wesentlichen vor, dass sie nicht ausführendes Luftfahrtunternehmen des Fluges LY 363 gewesen sei, aufgrund dessen Verspätung die Fluggäste ihre Anschlussflüge verpasst hätten, und sie hinsichtlich dieses Fluges auch keine Codesharing- Vereinbarung mit E***** gehabt habe. Sie sei daher für Ausgleichsansprüche nicht passiv klagslegitimiert.
Mit dem angefochtenen Urteil gab das Erstgericht dem Klagebegehren zur Gänze statt und verhielt die Beklagte zum Ersatz der Prozesskosten an die Klägerin. In rechtlicher Hinsicht beurteilte es den eingangs dargestellten – teils unstrittigen, teils unbekämpfbar festgestellten – Sachverhalt zusammengefasst dahin, dass gemäß Art 5 Abs 1 lit c iVm Art 7 Abs 1 lit b EU-FluggastVO bei der Annullierung eines Fluges über eine Entfernung zwischen 1.500 km und 3.500 km eine Ausgleichsleistung von EUR 400,-- gebühre. Nach der Rechtsprechung des EuGH seien Fluggäste verspäteter Flüge im Hinblick auf die Anwendung des Ausgleichsanspruchs den Fluggästen annullierter Flüge gleichgestellt und könnten einen Ausgleichsanspruch somit ebenfalls geltend machen, wenn sie wegen eines verspäteten Fluges einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden. Die Verspätung des Fluges LY 363 sei für das Verpassen der Anschlussflüge kausal gewesen; aber auch die Verspätung des Zubringerfluges, der von der Beklagten ausgeführt worden sei, sei für die Verspätung am Endziel ursächlich gewesen. Das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstandes iSd Art 5 Abs 3 EU-FluggastVO habe die Beklagte nicht behauptet. Weder der Umstand, dass die Beklagte die Fluggäste auf einen Alternativflug umgebucht habe, mit der es ihnen ebenfalls nicht möglich gewesen sei, die Anschlussflüge zu erreichen, noch die Frage, ob für die Beklagte ex ante ersichtlich gewesen sei, dass der Alternativflug ebenfalls verspätet sein werde, oder ob die Beklagte ausführendes Luftfahrtunternehmen des Alternativfluges gewesen sei, auf den sie die Fluggäste umgebucht habe, führe dazu, dass sich die Beklagte von der Verpflichtung einer Ausgleichszahlung befreien könne.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten aus dem Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, dass das Klagebegehren zur Gänze abgewiesen werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Klägerin beantragt, der Berufung nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Berufung ist berechtigt.
Die Berufungswerberin argumentiert ausschließlich damit, dass sie nicht ausführendes Luftfahrtunternehmen des Fluges LY 363 gewesen sei. Die Verspätung dieses Fluges sei nämlich kausal für das Verpassen der Anschlussflüge und das Eintreten einer großen Verspätung am Endziel gewesen. Sie werde gleichsam dafür „bestraft“, dass sie durch die Umbuchung der Fluggäste von ihrem Flug OS 858 auf den Fremdflug LY 363 vorsorglich alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe, und damit das getan habe, was ihr regelmäßig durch die österreichischen „Höchstgerichte“ abverlangt werde, nämlich bei Kenntnis einer drohenden Verspätung proaktiv eine Umbuchung vorzunehmen. Sie halte daher ihren Einwand der mangelnden Passivlegitimation aufrecht.
Die Berufungsgegnerin hält dem im Wesentlichen entgegen, dass es rechtlich irrelevant sei, ob der von der Beklagten angebotene Ersatzflug von ihr ausgeführt worden sei oder nicht. Das Erstgericht habe festgestellt, dass der von der Beklagten ausgeführte Flug OS 858, hinsichtlich dessen kein Befreiungstatbestand gemäß Art 5 Abs 3 der VO vorgelegen sei, auch ursächlich für die Versäumung des Anschlussfluges (und damit die „große Verspätung“) gewesen sei.
Voranzustellen ist, dass auf die Ausführungen der Berufungswerberin, wonach sie durch die Umbuchung auf einen Fremdflug sämtliche zumutbare Maßnahmen ergriffen habe, nicht weiter einzugehen ist, weil eine entsprechende Prüfung das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstands voraussetzt; auf einen Befreiungstatbestand gemäß Art 5 Abs 3 der VO hat sich die Beklagte aber gar nicht berufen.
[1] Im vorliegenden Fall geht die Klägerin davon aus, dass die zumindest dreistündige Verspätung der Fluggäste an ihrem Endziel die Verpflichtung zur Leistung des Ausgleichsanspruchs im Sinne der vom Erstgericht zitierten, die Anwendung des Art 5 Abs 1 iVm Art 7 Abs 1 EU-FluggastVO auf „große Verspätungen“ ausdehnenden Auslegung durch den EuGH in seiner Entscheidung zu C-402/07, C-432/07 Sturgeon ua/Condor ausgelöst habe, ohne sich jedoch explizit und ausschließlich auf die vom EuGH in richterlicher Rechtsfortbildung geschaffene Anspruchsgrundlage zu stützen.
Nach der herrschenden zweigliedrigen Streitgegenstandstheorie wird der prozessuale Begriff des Streitgegenstandes durch den Entscheidungsantrag (Sachantrag) und die zu seiner Begründung erforderlichen vorgebrachten Tatsachen (rechtserzeugender Sachverhalt) bestimmt (vgl RS0039255, RS0037522, RS0037419 [T8]). Zwar erachtete der Oberste Gerichtshof – entgegen der einhelligen Kritik der Lehre (vgl Geroldinger in Fasching/Konecny, ZPG 3 Vor § 226 ZPO Rz 76 mwN; Rechberger/Klicka in Rechberger/Klicka, ZPO 5 Vor § 226 Rz 16) – die rechtliche Beurteilung des Sachverhalts durch den Kläger dann für beachtlich, wenn ausdrücklich ein bestimmter Rechtsgrund geltend gemacht wird; diesfalls sei das Gericht daran gebunden und dürfe der Klage nicht aus einem anderen Rechtsgrund stattgeben (RS0037610). Allerdings hat das Höchstgericht auch ausgesprochen, dass dann, wenn der Kläger alle anspruchsbegründenden Tatsachen vorgetragen und unter Beweis gestellt hat, sich auch eine unrichtige rechtliche Qualifikation nicht zu seinem Nachteil auswirken kann (aaO [T15]). Wenn also der Klage nicht unzweifelhaft entnommen werden kann, dass der Kläger eine andere rechtliche Beurteilung ausschließen wollte, kann im Berufungsverfahren die rechtliche Qualifikation geändert werden, wenn dies das Tatsachenvorbringen in erster Instanz zulässt, und die tatsächlichen Behauptungen keine Änderungen erfahren haben (aaO [T12]). Eine unrichtige rechtliche Qualifikation wirkt sich also dann nicht zum Nachteil des Klägers aus, wenn er alle anspruchsbegründenden Tatsachen vorgetragen und unter Beweis gestellt hat (aaO [T37]).
Daher hält es das Berufungsgericht für erforderlich, zunächst zu prüfen, ob der Ausgleichsanspruch auch auf den Tatbestand der Nichtbeförderung (Art 4 EU-FluggastVO) gestützt werden kann. Fraglich ist nämlich, ob bereits in der Umbuchung der Fluggäste vom Flug OS 858 auf den Flug LY 363 eine Nichtbeförderung im Sinne dieser Bestimmung erblickt werden kann, die – unabhängig vom Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstands – jedenfalls zur Verpflichtung zur Leistung des Ausgleichsanspruchs führt, noch bevor sich überhaupt die Leistungsstörung der „großen Ankunftsverspätung“ verwirklicht hat.
Dies muss aber aufgrund der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C-191/19 Air Nostrum verneint werden: Dort hat der EuGH nämlich die EU-FluggastVO, insbesondere ihren Art 7, dahin ausgelegt, dass einem Fluggast, der für einen Flug mit Anschlussflug über eine einzige Buchung verfügt, keine Ausgleichszahlung zusteht, wenn seine Buchung gegen seinen Willen geändert wurde mit der Folge, dass er den ersten Teilflug seiner gebuchten Beförderung nicht antrat, obwohl dieser Flug durchgeführt wurde, und dass er auf den späteren Flug umgebucht wurde, der es ihm ermöglichte, den zweiten Teilflug seiner gebuchten Beförderung anzutreten und damit sein Endziel zur planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.
Hätte also bereits die Umbuchung des Fluggastes nach Ansicht des EuGH eine anspruchsauslösende Nichtbeförderung dargestellt, wäre es darauf, ob der Fluggast sein Endziel letztlich pünktlich (bzw zumindest mit weniger als drei Stunden Verspätung) erreicht hat, gar nicht mehr angekommen.
Umgekehrt lässt sich aus der genannten Entscheidung für die Frage der Passivlegitimation nichts gewinnen, weil in dem dort zugrunde liegenden Fall der Ersatz- (zubringer-)flug offenbar vom selben Luftfahrtunternehmen durchgeführt worden war, wie der ursprünglich gebuchte Zubringerflug.
[2] In seinem Urteil vom 22.02.2022 zu 22 R 298/21k hat das Berufungsgericht ausgesprochen, dass sich aus dem Urteil des EuGH vom 12.03.2020 in der Rechtssache C 832/18 Finnair ergebe, dass die EU-FluggastVO auf Ersatzbeförderungen uneingeschränkt anzuwenden ist. Daraus zog es den Schluss, dass die dort Beklagte als ausführendes Luftfahrtunternehmen des (verspäteten) Zubringerfluges der Ersatz- beförderung (was zum Versäumen des Anschlussfluges führte) für die mehr als dreistündige Ankunftsverspätung am Endziel gemäß Art 7 Abs 1 der VO einzustehen hat (vgl auch Schmid in Schmid, BeckOK Fluggastrechte-VO 26 Art 3 Rn 67).
Selbiges muss spiegelbildlich auf vorliegende Fallkonstellation zutreffen; ausführendes Luftfahrtunternehmen des ersten Teilfluges, mit dem die Fluggäste befördert wurden, war EL AL. Hätte es sich dabei um ein Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft iSd Art 2 lit c der VO gehandelt, wäre der Anwendunsgsbereich der VO gemäß deren Art 3 Abs 1 lit b eröffnet gewesen, und hätte die Klägerin – dem in 22 R 298/21k tragenden Gedanken folgend – ihre Ansprüche gegen dieses Unternehmen richten können.
Die Beklagte würde hingegen nur dann – ebenfalls – die Ausgleichsleitung schulden, wenn sie für die Verspätung des Fluges OS 858 – und folglich das insoweit fiktive Nichterreichen des Anschlussfluges – einzustehen hätte. Die Fluggäste verfügten jedoch im Zeitpunkt des Eintritts der „großen Verspätung“ aufgrund der Umbuchung auf den Flug LY 363 für den (Teil-)Flug OS 858 über keine bestätigte Buchung mehr. Eine solche ist aber gemäß Art 3 Abs 2 lit a der VO formale Voraussetzung für Ansprüche aus derselben ( Schmid , aaO Rn 24).
Dass die Beklagte ausführendes Luftfahrtunternehmen der verpassten Folgeflüge gewesen wäre, hat die Klägerin nicht behauptet. Es musste daher nicht geprüft werden, ob die Beklagte im Sinne der Entscheidungen EuGH C-502/18 České aero-linie , C 367/20 KLM [vgl insb Rn 28] allenfalls aufgrund der geplanten Durchführung der Folgeflüge Ausgleichsansprüche schuldet.
Damit mangelt es der Beklagten im Ergebnis an der passiven Klagslegitimation. Folglich war der Berufung Folge zu geben, und das angefochtene Urteil im klagsabweisenden Sinn abzuändern.
Die Abänderung der Sachentscheidung hat auch eine Neufassung der erstinstanzlichen Kostenentscheidung zur Folge. Diese beruht – nunmehr jedoch zugunsten der Beklagten – auf § 41 Abs 1 ZPO. Gegen das Kostenverzeichnis der Beklagten wurden keine Einwendungen (§ 54 Abs 1a ZPO) erhoben; es weist auch keine offenbaren Unrichtigkeiten auf.
Die Kostenentscheidung für das Berufungsverfahren gründet auf §§ 41 Abs 1, 50 Abs 1 ZPO.
Der Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision beruht auf §§ 500 Abs 2 Z 2, 502 Abs 2 ZPO.