22R198/22f – LG Korneuburg Entscheidung
Kopf
beschluss
Das Landesgericht Korneuburg als Berufungsgericht hat durch die Richter Mag. Iglseder als Vorsitzenden sowie Dr. Futterknecht, LL.M., BSc und Mag. Rak in der Rechtssache der klagenden Partei A***** H***** , vertreten durch Dr. Michael Wukoschitz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei L***** GmbH , vertreten durch Brenner Klemm Rechtsanwälte in Wien, wegen EUR 250,-- s.A. , infolge Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Bezirksgerichts Schwechat vom 12.08.2022, 26 C 98/22i-12, sowie infolge Rekurses der beklagten Partei gegen die darin enthaltene Kostenentscheidung (Rekursinteresse EUR 118,10) in nicht öffentlicher Sitzung den Beschluss gefasst:
Spruch
Der Berufung wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil aufgehoben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung aufgetragen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.
Die beklagte Partei wird mit ihrem Rekurs auf die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung verwiesen.
Text
begründung:
Die Klägerin verfügte über eine bestätigte Buchung für den von der Beklagten durchgeführten Flug OE 128 von Wien (VIE) nach Stockholm-Skavsta (NYO) am 15.11.2019 mit einer planmäßigen Abflugzeit um 05:20 Uhr UTC und einer planmäßigen Ankunftszeit um 07:25 Uhr UTC. Der Flug startete tatsächlich um 05:35 Uhr UTC in VIE und landete um 08:35 Uhr in Stockholm-Arlanda (ARN). Die Flugstrecke von Wien nach Stockholm beträgt nicht mehr als 1.500 km.
Die Klägerin begehrte den Zuspruch von EUR 250,-- an Ausgleichszahlung gemäß Art 7 Abs 1 lit a EU-FluggastVO samt Zinsen und brachte dazu vor, sie habe den ursprünglich vorgesehenen Zielflughafen mit einer Verspätung von zumindest drei Stunden erreicht. Sie sei mittels Bus von ARN nach NYO befördert worden und dort erst um 12:03 Uhr Ortszeit angekommen. Die Ausweichlandung in ARN – einem Flughafen, der zu ARN im Verhältnis gemäß Art 8 Abs 3 EU-FluggastVO stehe – sei nicht auf außergewöhnliche Umstände zurückzuführen. Nebel sei bei einem küstennahen Flughafen wie NYO, insbesondere in den Morgenstunden eines Herbsttages, Teil des typischen Betriebsrisikos eines Luftfahrtunternehmens. Bereits am Vortag sei in NYO Nebel gewesen und wären die Sichtverhältnisse ähnlich gewesen. Unmittelbar vor der planmäßigen Ankunft des Fluges OE 128 sei ein Fluggerät von Ryanair sogar überpünktlich gelandet. Selbst wenn die Entscheidung für die Ausweichlandung vom Piloten getroffen worden sei, sage dies noch nichts über den Grund dieser Entscheidung aus und ob dies einen außergewöhnlichen Umstand darstelle. Die Beklagte habe es zudem verabsäumt, zumutbare Maßnahmen zu ergreifen, um sie schnellstmöglich zu ihrem Zielflughafen zu befördern und die Verspätung zu vermeiden. Wäre sie mit dem Überstellungsflug des ursprünglichen Fluggerätes nach NYO befördert worden, wäre sie bereits um 10:25 UTC dort angekommen. Dies wäre eine halbe Stunde früher als mit der tatsächlichen Beförderung per Bus gewesen.
Die Beklagte bestritt das Klagebegehren dem Grunde und der Höhe nach, beantragte die Klagsabweisung und brachte zusammengefasst vor, die Umleitung nach ARN sei von ihr nicht zu vertreten bzw würden die Umstände dafür nicht in ihrem Einflussbereich liegen. Der Flug habe aufgrund widriger Wetterbedingungen, insbesondere aufgrund von starken Sichteinschränkungen, nicht am Flughafen NYO landen können, weshalb er nach ARN umgeleitet worden sei; die Sichtweite von 200 ft habe nicht ausgereicht, um eine Landung durchzuführen. Die Fortsetzung des Fluges und insbesondere eine sichere Landung habe nicht geplant werden können. Es sei ausschließlich guten Wettergegebenheiten zu verdanken, dass der Überstellungsflug eine halbe Stunde früher als der Bustransport stattfinden habe können. Der Zeitrahmen sei nicht bekannt gewesen, sodass auch eine wesentlich spätere Ankunft in NYO möglich gewesen wäre.
Mit dem angefochtenen Urteil wies das Erstgericht das Klagebegehren zur Gänze ab und verhielt die Klägerin zum Ersatz der mit EUR 576,72 bestimmten Prozesskosten. Es traf nachstehende Feststellungen:
„Zum Zeitpunkt der geplanten Landung des Flugs OE 128 herrschte am Flughafen Stockholm Skavsta starker Nebel, sodass eine horizontale Weitsicht von lediglich 150 bis 200 Fuß gegeben war. Aufgrund dieser eingeschränkten Sicht erachtete der Kapitän des Flugs OE 128 eine Landung am Flughafen Stockholm Skavsta als nicht sicher, weshalb er sich – nachdem er noch ein Holding geflogen war, um eine Wetterbesserung abzuwarten – für eine Landung auf dem Flughafen Stockholm Arlanda entschied. Auch am 14.11.2019 herrschte am Flughafen Stockholm Skavsta von 0:20 Uhr bis 9:20 Uhr Nebel, der zu einer eingeschränkten Weitsicht von lediglich 250 bis 800 Fuß führte.
Die Beklagte organisierte einen Bustransfer für sämtliche Fluggäste des Flugs OE 128 zum Flughafen Skavsta. Die Klägerin suchte diesen bereits während des Flugs vom Kapitän angekündigten Bus nach der Ausweichlandung am Flughafen Stockholm Arlanda für den Transfer zum Flughafen Stockholm Skavsta auf, wobei dies – nachdem sie den Bus nicht sofort fand und sie beim Auffinden nicht weiter von Mitarbeitern der Beklagten unterstützt wurde – etwa 30 Minuten in Anspruch nahm; per Bus erreichte sie Stockholm Skavsta letztlich um 11:03 Uhr. Bei der Beförderung per Bus handelte es sich nach der Entscheidung für die Umleitung auf den Flughafen Stockholm Arlanda um die schnellstmögliche Beförderung für die Klägerin nach Stockholm Skavsta.
Das Fluggerät wurde von 9:55 Uhr bis 10:20 Uhr zum Flughafen Stockholm Skavsta überstellt. Hätte sich die Beklagte gegen einen Bustransfer und für die Fortsetzung des Flugs nach Stockholm Skavsta entschieden, wäre es ungewiss gewesen, wann die Fortsetzung des Flugs nach der Zwischenlandung in Stockholm Arlanda möglich gewesen wäre.“
Rechtlich kam das Erstgericht zum Ergebnis, der Klägerin stehe grundsätzlich die Zahlung einer Ausgleichsleistung zu. Die Entscheidung des Kapitäns, die Landung am Flughafen NYO sei wegen des dort herrschenden Nebels nicht sicher, könne wegen dessen nautischer Entscheidungsgewalt vom Gericht nur eingeschränkt auf grobe Fehler überprüft werden. Da in der Entscheidung des Kapitäns kein grober Fehler zu erblicken sei, sei davon auszugehen, dass die Umleitung auf den Flughafen ARN und die dadurch eingetretene Verspätung auf einem außergewöhnlichen Umstand iSd Art 5 Abs 3 EU-FluggastVO beruhe. Die Beklagte habe auch sämtliche ihr zumutbaren Maßnahmen ergriffen.
Die Kostenentscheidung gründete das Erstgericht auf § 41 Abs 1 ZPO. Der Schriftsatz der Beklagten vom 25.05.2022 sei nicht zu honorieren, weil die Beklagte bei entsprechend sorgfältiger Prozessführung das darin enthaltene Vorbringen bereits im Einspruch erstatten hätte können, zumal die Klägerin zwischen Erhebung des Einspruchs und des vorbereitenden Schriftsatzes der Beklagten kein eigenes weiteres Vorbringen erstattet habe.
Gegen dieses Urteil richtet sich Berufung der Klägerin aus dem Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das Urteil dahin abzuändern, dass dem Klagebegehren zur Gänze stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Beklagte beantragt in ihrer Berufungsbeantwortung, der Berufung keine Folge zu geben.
Gegen die im angefochtenen Urteil enthaltene Kostenentscheidung richtet sich der Rekurs der Beklagten, mit dem Antrag, diese dahin abzuändern, dass die Klägerin verpflichtet werde, ihr die mit EUR 718,44 bestimmten Kosten zu ersetzen.
Die Klägerin beantragt, dem Rekurs keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[I] Die Berufung ist im Sinne des Aufhebungsantrags berechtigt.
Die Berufungswerberin argumentiert zusammengefasst, dass das Erstgericht verkannt habe, dass die Fragen, ob einerseits eine Entscheidung des Piloten ohne grobe Fehler erfolgt sei, und ob andererseits diese Entscheidung durch außergewöhnliche Umstände iSd Art 5 Abs 3 EU-FluggastVO verursacht gewesen sei, getrennt voneinander zu behandeln seien. Das Luftfahrtunternehmen könne sich nur dann auf die nautische Entscheidungsgewalt berufen, wenn der Pilot durch außergewöhnliche Umstände vor eine nautische Entscheidung gestellt worden sei. Das Erstgericht habe sich jedoch mit dem Vorbringen der Klägerin, dass die in NYO vorherrschenden Wetterverhältnisse keine außergewöhnlichen Umstände begründet hätten, nicht aneinandergesetzt. Dazu hätte es auch Feststellungen treffen müssen, aus denen sich ableiten lasse, dass das Auftreten von Nebel am küstennahen Flughafen NYO keinen außergewöhnlichen Umstand darstelle. Selbst wenn jedoch das Vorliegen des außergewöhnlichen Umstand zu bejahen wäre, habe das Erstgericht die Frage, ob die Beklagte alle ihr zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe, unrichtig gelöst. Die Annahme des Erstgerichts, dass der Weitertransport der Fluggäste mittels Bus die schnellstmögliche Alternative gewesen sei, sei spekulativ.
Zunächst ist festzuhalten, dass das Erstgericht die Rechtsprechung des Berufungs- gerichts zur nautischen Entscheidungsgewalt und der damit verbundenen eingeschränkten Überprüfungsmöglichkeit der Gerichte zutreffend dargestellt hat (RKO0000019). Die Klägerin zeigt jedoch in der Berufung zu Recht auf, dass die Berufung auf die nautische Entscheidungsgewalt dem Luftfahrtunternehmen lediglich die Erstattung detaillierten Vorbringens dazu erspart, aus welchen inneren Gründen dem Piloten eine andere Vorgangsweise als das Unterlassen der Landung am Zielflughafen nicht zumutbar erschien; sie ersetzt aber nicht die Feststellung der äußeren Gegebenheiten (iS „außergewöhnlicher Umstände“), die den Piloten überhaupt erst vor die Entscheidung gestellt haben, ob eine Landung durchgeführt werden soll oder nicht. Die Ausübung nautischer Entscheidungsgewalt stellt somit selbst keinen außer-gewöhnlichen Umstand iSd Art 5 Abs 3 EU-FluggastVO dar. Sie erweitert lediglich im Zuge der Prüfung der zumutbaren Maßnahmen den Ermessensspielraum des Piloten, sodass dem Luftfahrtunternehmen der Nachweis erspart bleibt, dass die konkrete Reaktion des Piloten auf das Auftreten des außergewöhnlichen Umstandes die im Sinne des Interesses der Gesamtheit der Fluggäste bestmögliche Vorgangsweise war (RKO0000019 [T3, T4]).
Die (alleinige) Feststellung starken Nebels sowie der horizontalen Sichtweite lässt die Beurteilung nicht zu, ob das festgestellte Vorkommnis, nämlich Sichteinschränkung aufgrund Nebels, seiner Natur oder Ursache nach Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens und von ihm nicht tatsächlich beherrschbar ist oder nicht, wobei diese beiden Bedingungen kumulativ vorliegen müssen (EuGH C-28/20). Widrige Wetterbedingungen stellen nur dann einen „außergewöhnlichen Umstand“ dar, wenn sie aus den üblichen und zu erwartenden Abläufen des Luftverkehrs herausragen und geeignet sind, die Betriebstätigkeit eines oder mehrerer Luftfahrtunternehmen zum Erliegen zu bringen ( Schmid in BeckOK, Fluggastrechte-VO [25. Edition] Art 5 Rz 88 mwN; LG Korneuburg 22 R 84/22s, 22 R 86/22k uvm). Dass Nebel – wie die Berufungswerberin meint – schon deshalb keinen außergewöhnlichen Umstand darstellen kann, weil er am Zielflughafen – etwa wegen seiner Küstenlinie – öfter auftritt als auf anderen Flughäfen, überzeugt nicht. Die Außergewöhnlichkeit eines Umstands ergibt sich auch nach der Definition des EuGH nicht aus der Häufigkeit seines Auftretens (EuGH C-549/07 Rn 36). Allerdings kann die Vorhersehbarkeit der Umstände für das ausführende Luftfahrtunternehmen weitergehende Maßnahmen zur Vermeidung von Annullierungen oder großen Verspätungen als zumutbar erscheinen lassen.
Die Beklagte hat vorgebracht, dass die Sichtweite von 200 ft nicht ausgereicht habe, um eine Landung durchzuführen. Diese Sichtweite wurde vom Erstgericht auch festgestellt. Dies allein lässt jedoch die Beurteilung, ob eine derartige Sichteinschränkung aufgrund Nebels seiner Natur oder Ursache nach Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens und von ihm tatsächlich beherrschbar ist oder nicht, nicht zu. Zwar hat die Beklagte zugestanden, dass es kein Flug-verbot gegeben habe (Seite 2 in ON 11); es fehlen jedoch Feststellungen zur Frage, welche sonstigen konkreten Auswirkungen die konstatierte Sichtweite auf die normale Ausübung der Luftfahrt hatte (vgl LG Korneuburg, 22 R 94/22m).
Der Vollständigkeit halber ist auf die in der Berufung ebenfalls aufgeworfene Frage des schnellstmöglichen Weitertransports der Fluggäste einzugehen. Die Berufungswerberin, die meint, dass einerseits die Frage der Zumutbarkeit eines Individualtransports der Fluggäste mittels Taxis, und andererseits die Frage, ob die – tatsächlich stattgefundene – Fortsetzung des Fluges nach NYO nach der (Zwischen-)Landung in ARN nicht rascher gewesen wäre als die Beförderung mittels Bus, nicht abschließend geklärt werden habe können, übersieht, dass das Erstgericht zu diesen beiden alternativen Beförderungsmöglichkeiten unbekämpfbare Tatsachenfeststellungen getroffen hat. In Zusammenschau mit der Beweiswürdigung ergibt sich nämlich, dass das Erstgericht auf Tatsachenebene zugrunde gelegt hat, dass die Beklagte ex ante betrachtet berechtigterweise davon ausgehen konnte, dass die Beförderung mittels Bus die schnellstmögliche sein werde.
Das Erstgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren Feststellungen zu treffen haben, inwieweit die aufgrund des Nebels verbleibende Sichtweite auf die Ausübung der Luftfahrt von Einfluss ist, um beurteilen zu können, ob ein außergewöhnlicher Umstand iSd Art 5 Abs 3 EU-FluggastVO vorliegt.
Angesichts des Vorbringens der Klägerin, dass Sichteinschränkungen aufgrund Nebels in NYO ein häufig auftretendes Vorkommnis seien, wird das Erstgericht – falls es zum Ergebnis kommt, dass diese Sichteinschränkungen grundsätzlich einen außergewöhnlichen Umstand darstellen – mit den Parteien zu erörtern haben, ob der Beklagten im Hinblick darauf weitergehende zumutbare Maßnahmen zur Vermeidung der Notwendigkeit des Ausweichens auf den Flughafen ARN – und damit letztlich der Vermeidung der großen Verspätung (vgl EuGH 501/17, C-74/19; RKO0000014) – möglich gewesen wären, wie etwa der Einsatz eines geeigneteren Fluggeräts. Die ständige Rechtsprechung des Berufungsgerichts verlangt nämlich dem beklagten Luftfahrtunternehmen Prozessbehauptungen zu Maßnahmen ab, die sich geradezu aufdrängen oder die zumindest bei lebensnaher Betrachtung in Erwägung gezogen werden müssen (LG
Korneuburg 22 R 69/19f, 22 R 88/20a, 22 R 126/22t uvm).
Der Berufung war daher Folge zu geben.
Der Kostenvorbehalt gründet auf § 52 ZPO.
[II] Da die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die Aufhebung der Kosten- entscheidung mitumfasst, war auf den Kostenrekurs der Beklagten nicht einzugehen.