22R298/21k – LG Korneuburg Entscheidung
Kopf
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Landesgericht Korneuburg als Berufungsgericht hat durch die Richter Mag. Iglseder als Vorsitzenden sowie Mag. Jarec, LL.M. und Mag. Rak in den verbundenen Rechtssachen der klagenden Parteien [21 C 164/20b] [1] R***** R***** , [2] V***** R***** , [3] K***** R***** , und [24 C 163/20f] [4] A***** G***** , vertreten durch Skribe Rechtsanwaelte GmbH in Wien, wider die beklagte Partei A***** A***** AG , vertreten durch Brenner Klemm, Rechtsanwälte in Wien, wegen [21 C 164/20b] EUR 1.200,-- sA und [21 C 163/20f] EUR 400,-- sA, infolge Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Bezirksgerichtes Schwechat vom 02.07.2021, 24 C 164/20b-17, in nicht öffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, den klagenden Parteien jeweils ein Viertel der mit EUR 377,15 (darin EUR 62,86 USt) bestimmten Kosten der Berufungsbeantwortung binnen 14 Tagen zu Handen der Klagevertreterin zu ersetzen.
Die Revision ist jedenfalls unzulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
Die Kläger verfügten jeweils über eine bestätigte Buchung der russischen Fluglinie S7 (Siberian) Airlines für den Flug am 28.07.2019, S7 0962 von Öskemen nach Moskau und S7 0795 von Moskau nach München. Der Teilflug S7 0795 von Moskau nach München war bereits am 27.07.2019 nicht verfügbar (die Ursache ist nicht aktenkundig), die Kläger wurden auf die von der Beklagten durchzuführenden Flüge OS 606 von Moskau nach Wien und OS 103 von Wien nach München am 29.07.2019 umgebucht. Die geplanten Flugzeiten waren: OS 606 Abflug in Moskau Domodedowo um 06:45 Uhr, Ankunft in Wien um 08:35 Uhr, und OS 103 Abflug in Wien 13:15 Uhr, Ankunft in München 14:15 Uhr. Die tatsächliche Ankunftszeit des Fluges OS 606 war 16:21 Uhr. Die Kläger versäumten den Flug OS 103. Die Beklagte buchte sie auf den Flug OS 115 von Wien nach München um. Sie erreichten das Endziel München mit mehr als dreistündiger Verspätung. Die Flugstrecke [nur in diesem Ausmaß unstrittig] von Moskau nach Wien umfasst eine Entfernung von mehr als 1.500 km, aber nicht mehr als 3.500 km.
Mit den beim Erstgericht am 05.03.2020 eingebrachten Klagen begehrten die Kläger von der Beklagten jeweils die Zahlung von EUR 400,-- zuzüglich Zinsen und brachten vor, infolge eines allein von der Beklagten zu verantwortenden Umstandes habe sich der Flug OS 606 von Moskau nach Wien verspätet. Aufgrund der Entfernung zwischen Moskau und München [nur in diesem Ausmaß begehrt] stehe ihnen eine Ausgleichsleistung von jeweils EUR 400,-- samt 4 % Zinsen ab 30.07.2019 zu.
Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage, bestritt und brachte vor, bei der Umbuchung auf ihre Flüge (aufgrund von Unregelmäßigkeiten bei der russischen Fluglinie) habe es sich um eine Ersatzbeförderung eines Luftfahrtunternehmens gehandelt, das kein Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. b [gemeint: Art 2 lit.c ] EU-FluggastVO sei. Die Kläger hätten den Flug nicht von einem Flughafen der Europäischen Union im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. a EU FluggastVO angetreten. Der Anwendungsbereich der EU-FluggastVO sei daher nicht eröffnet. Die Verspätung des Fluges OS 606 sei aufgrund außergewöhnlicher Umstände im Sinne des Art. 5 Abs. 3 EU-FluggastVO eingetreten, weil es bei der Durchführung des direkten Vorfluges OS 605 von Wien nach Moskau aufgrund in Wien herrschender Gewittertätigkeit zu „handling suspensions“ am Flughafen Wien und Restriktionen durch die Flugsicherung gekommen sei. Bei Abflug des direkten Vorfluges OS 606 habe ein starkes Gewitter am Flughafen Wien geherrscht, wodurch es zur Abfertigungseinstellung gekommen sei, es habe sich eine Verspätung von 1:13 Stunden für den Flug OS 605 ergeben. In diesem Zeitraum hätten Flüge zwar starten und landen, jedoch nicht betankt und beladen werden dürfen. Der Flug OS 605 mit dem geplanten Abflug um 21:15 Uhr und der geplanten Ankunft in Moskau um 01:00 Uhr habe Moskau erst um 02:35 Uhr erreicht. Durch die Verspätung des Fluges sei die Gesamtdienstzeit der Crew für die Flüge OS 605/606 über die Grenze von 12:30 Stunden gehoben worden, dies sei nicht zulässig. Der Flug OS 606 habe wegen der Verlängerung der maximal zulässigen Dienstzeit der Crew um 7:32 Stunden verspätet durchgeführt werden müssen und sei um 14:21 Uhr in Wien gelandet. Dies sei ihr keinesfalls bereits am Vortag bekannt gewesen, sie habe mangels Vorhersehbarkeit keine Ersatzcrew mitgeschickt.
Mit dem angefochtenen Urteil gab das Erstgericht dem Klagebegehren samt Zinsen statt; ein Zinsenmehrbegehren des Viertklägers wies es ab. Es stellte den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt über die ursprüngliche Buchung bei der russischen Fluglinie Siberian Airlines und die Ersatzbeförderung durch die Beklagte fest, weiters dass die Gesamtabflugverspätung des Fluges OS 605 von 1:40 Stunden mit einem Teilausmaß von 27 Minuten auf die Verspätung des Vorfluges OS 116 von München nach Wien zurückgeht. Es konnte jedoch nicht feststellen, worauf die restliche Abflugverspätung von 1:13 Stunden zurückgeht. In rechtlicher Hinsicht ging es davon aus, dass die Beklagte ausführendes Luftfahrtunternehmen nach Art. 2 lit. b EU FluggastVO sei. Dass die von ihr durchgeführten Flüge eine Alternativbeförderung und somit eine Unterstützungsleistung nach Art. 8 EU-FluggastVO zu den ursprünglichen bei den S7 Airlines gebuchten Flügen darstellen würden, ändere nichts daran. Das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstandes im Sinne des Art. 5 Abs. 3 EU-FluggastVO verneinte das Erstgericht mit der Begründung, dass der Grund für die weitere Verspätung im Ausmaß von 1:13 Stunden, die letztlich zur Unterschreitung der notwendigen Ruhezeit der Crew geführt und zur Verspätung des Fluges OS 606 geführt habe, nicht habe festgestellt werden können.
Gegen dieses Urteil [richtig: gegen seinen klagsstattgebenden Teil] richtet sich die Berufung der Beklagten aus dem Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahingehend abzuändern, dass das Klagebegehren abgewiesen werde, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Kläger beantragen, der Berufung nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Berufung ist nicht berechtigt.
Im Rahmen der Berufungsausführungen vermisst die Beklagte die Feststellung, dass die Abflugverspätung des Fluges OS 605 einerseits auf einer Verspätung der Vorrotation, andererseits auf einem Rückstau, der sich aufgrund der wetterbedingten Einstellung der Bodenabfertigung am Flughafen Wien sowie aufgrund einer Durchführungsratenreduktion im Luftraum über Bratislava (Slowakei) durch die Flugsicherung ergeben habe, beruhe. Sie verweist dazu auf die Aussage des Zeugen Manuel Javorik .
Dem ist zu entgegnen, dass das Erstgericht die Negativfeststellung getroffen hat, dass nicht habe festgestellt werden können, worauf die restliche Abflugverspätung von 1:13 Stunden zurückgehe. Ein sekundärer Feststellungsmangel liegt daher nicht vor. Vielmehr ist in der Argumentation der Berufungswerberin eine aufgrund des Streitwerts unzulässige Beweisrüge (§ 501 ZPO) zu erblicken.
Es verbleibt daher für das Berufungsgericht die Prüfung des Argumentes, dass die EU-FluggastVO auf den verspäteten Flug OS 606 nicht Anwendung finde.
Die Beklagte verweist in ihrer Berufung darauf, dass der ursprüngliche Flug bei einer Fluglinie gebucht worden sei, die kein Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft sei; der Flug sei auf einem Flughafen gestartet, der nicht im Gebiet eines Mitgliedstaates liege. Erst durch die Annullierung des Fluges der russischen Fluglinie seien die Kläger auf den Flug der Beklagten umgebucht worden.
Die Kläger verweisen in ihrer Berufungsbeantwortung auf das Urteil des EuGH vom 12.03.2020 in der Rechtssache C-832/18 Finnair, wonach die EU-FluggastVO auf den Fall anwendbar sei, dass ein Fluggast vom Luftfahrtunternehmen infolge der Annullierung seines gebuchten Fluges auf einen Alternativflug zu seinem Endziel verlegt worden sei (Rn 26).
Das Berufungsgericht schließt sich der Argumentation des Erstgerichtes an. Aus den Ausführungen des EuGH im Urteil Finnair ist der Schluss zu ziehen, dass die EU-FluggastVO auch auf Ersatzbeförderungen (uneingeschränkt) auzuwenden ist. Ein Unterschied zum vorliegenden Sachverhalt besteht zwar darin, dass nach dem Sachverhalt, der dem Urteil Finnair zugrundelag, die Ersatzbeförderung durch dieselbe Fluglinie erfolgte (Rn 11). Dem Urteil Finnair ist aber nicht zu entnehmen, dass die EU-FluggastVO nur dann auf eine Ersatzbeförderung anzuwenden ist, wenn sie von derselben Fluglinie durch geführt wird, die auch von der Leistungsstörung betroffen war. Das gilt nach Ansicht des Berufungsgerichtes dann, wenn ein ursprünglich gebuchter Flug nicht in den Anwendungsbereich der EU-FluggastVO fällt, der Fluggast aber eine Ersatzbeförderung erhält, die für sich genommen in den Anwendungsbereich der EU-FluggastVO fällt.
Diese Rechtsfrage, und zwar denselben Flug OS 606 am 29.07.2009 betreffend, war auch Gegenstand des Verfahrens 21 C 91/20s des Bezirksgerichtes für Handelssachen (BGHS) Wien. In seinem Urteil vom 27.11.2020 wies das BGHS Wien das Klagebegehren ab und ging davon aus, dass für den vorliegenden Flug der Anwendungsbereich der EU-FluggastVO nicht gegeben sei. Es argumentierte mit folgendem Umkehrschluss: Bei Rückflügen von einem Drittstaat in die Europäische Union bestehe die Gefahr der Manipulation dadurch, dass ein Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft den Flug durch ein nicht-europäisches Luftfahrtunternehmen durchführen lasse. Die bloße Möglichkeit einer solchen Manipulation stehe nicht im Einklang mit dem Zweck der EU-FluggastVO. Wenn ein Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft einen Flug von einem Drittstaat in die Europäische Union hätte durchführen sollen, aber ein anderes Luftfahrtunternehmen aus einem Drittstaat mit der ersatzweisen Durchführung beauftrage, ändere dies nichts daran, dass das erstgenannte Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft ausführendes Luftfahrtunternehmen im Sinne der EU-FluggastVO sei. In einem Umkehrschluss sei die im vorliegenden Fall beklagte Fluglinie nicht als nach der EU-FluggastVO ausführendes Luftfahrtunternehmen anzusehen, weil sie den Flug ersatzweise für eine russische Fluglinie ausgeführt habe und diese das ausführende Luftfahrtunternehmen im Sinne der EU-FluggastVO sei.
Das erkennende Gericht teilt schon nicht die Prämisse des BGHS Wien, wonach es zur Vermeidung von Manipulationen einer einschränkenden Auslegung des Art. 3 Abs. 1 lit. b EU-FluggastVO bedarf. Die Herausnahme von Flügen eines Luftfahrtunternehmens aus einem Drittstaat, deren Abflugort in einem Drittstaat liegt und (nur) dessen Ankunftsort in der Europäischen Union liegt, dürfte sich vielmehr aus den völkerrechtlichen Grenzen der Rechtsetzungsbefugnis der Europäischen Union ergeben. Sachverhalte, deren Unionsrechtsbezug zum Territorium der Europäischen Union zu gering ist, dürfen nicht durch Unionsrecht geregelt werden.
Aber auch der Umkehrschluss, den das BGHS Wien zieht, überzeugt nicht. Nach dem eindeutigen Wortlaut der EU-FluggastVO fällt der vorliegende Flug OS 606 nach Art. 3 Abs. 1 lit. b in den Anwendungsbereich der EU-FluggastVO. Warum es zur Vermeidung von Missbrauch oder Manipulation zu einer reduzierenden Auslegung des Wortlautes dieser Bestimmung bedarf, ist nicht nachvollziehbar. Schließlich behandelt es Fluggäste, die sich in derselben Situation befinden, ungleich. Für den Fluggast führt die Verspätung des Fluges OS 606 zu jeweils denselben Unbillen, gleichgültig ob er diesen Flug ursprünglich gebucht hat, oder ob der Flug eine Ersatzbeförderung eines anderen Fluges ist.
Die Rechtslage ist durch das Urteil des EuGH in der Rechtssache Finnair ausreichend geklärt. Dieses Urteil stammt vom 12.03.2020. Wenn nun ein anderes Gericht in der Europäischen Union in einem darauffolgenden Urteil (hier: vom 27.11.2020) zu einem gegenteiligen Ergebnis kommt, besteht die Gefahr von einander abweichenden Gerichtsentscheidungen innerhalb der Gemeinschaft im Sinne des Urteiles des EuGH vom 06.10.1982 in der Rechtssache C-283/81 CILFIT. Allerdings entfällt bereits nach diesem Urteil die Verpflichtung zur Vorlage einer Rechtsfrage an den EuGH dann, wenn offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt. Ob dieses Kriterium vorliegt, ist unter anderem nach der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Gemeinschaft zu beurteilen (Urteil CILFIT Rn 21). Da der erkennende Senat seine Auslegung der betreffenden Unionsrechtsvorschrift auf die Rechtsprechung des EuGH stützt, ist er nach neuerer Auffassung nicht zur Vorlage der Rechtsfrage an den EuGH zur Vorabentscheidung nach Art 267 AEUV verpflichtet (Urteil des EuGH [GK] vom 06.10.2021 in der Rechtssache C-561/19 Consorzio Italian Management e Catania Multiservizi und Catania Multiservizi Rz 51).
Der Berufung war daher der Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO.
Die Revision ist nach § 502 Abs 2 ZPO jedenfalls unzulässig.