JudikaturLG Korneuburg

22R226/21x – LG Korneuburg Entscheidung

Entscheidung
04. November 2021

Kopf

Im Namen der Republik

Das Landesgericht Korneuburg als Berufungsgericht hat durch die Richter Mag. Iglseder als Vorsitzenden sowie Mag. Sinek und Mag. Rak in der Rechtssache der klagenden Parteien [1] M***** H*****, [2] C***** S*****, vertreten durch Heinke Skribe + Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wider die beklagte Partei Q***** , vertreten durch Celar Senoner Weber-Wilfert Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen EUR 1.200,-- s.A. infolge Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Bezirksgerichts Schwechat vom 20.01.2021, 18 C 330/18t-30, in nicht öffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, den klagenden Parteien je die Hälfte der mit EUR 162,60 bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens zu Handen der Klagevertreterin binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Die Revision ist jedenfalls unzulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Kläger verfügten über eine bestätigte Buchung für folgende von der Beklagten durchzuführende Flugverbindung:

- QR 184 am 26.07.2018 von Wien nach Doha mit einer planmäßigen Abflugzeit um 18:30 Uhr und einer planmäßigen Ankunftszeit am 27.07.2018 um 00:45 Uhr sowie

- QR 678 am 27.07.2018 von Doha nach Mahé mit einer planmäßigen Abflugzeit um 02:00 Uhr und einer planmäßigen Ankunftszeit um 08:35 Uhr.

Die gesamte Flugstrecke betrug aufgrund der Großkreisberechnung mehr als 3.500 km.

Die Kläger begehrten den Zuspruch einer Ausgleichsleistung gemäß Art 5 Abs 1 lit c iVm Art 7 Abs 1 lit a der Verordnung (EG) Nr 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (EU-FluggastVO) von jeweils EUR 600,-- samt Zinsen. Der Flug QR 184 sei verspätet am 27.07.2018 um 01:15 Uhr in Doha gelandet. Dadurch hätten sie ihren Anschlussflug QR 678 verpasst. Die Minimum-Connecting-Time (MCT) von 45 Minuten habe in Doha nicht mehr eingehalten werden können, weil die Flugzeugtüren naturgemäß erst einige Minuten nach der Ankunft um 01:15 Uhr geöffnet worden seien. Mitarbeiter der Beklagten hätten ihnen am Flughafen in Doha mitgeteilt, dass sie den Anschlussflug nicht mehr erreichen können, und sie seien auf einen Flug umgebucht worden, der erst am 28.07.2018 um 08:35 Uhr in Mahé angekommen sei. Die Beklagte habe unterlassen vorzubringen, welche Maßnahmen sie getroffen habe, damit sie den Anschlussflug erreichen können.

Die Beklagte beantragte die Klagsabweisung bestritt, und brachte vor, dass der gesamte Bodenverkehrsdienst auf dem Flughafen Wien-Schwechat am 26.07.2018 von 17:15 bis 17:31 Uhr und 17:55 bis 18:20 Uhr aufgrund eines Gewitters mit Starkregen eingestellt gewesen sei. Dadurch sei weder eine Betankung des Flugzeugs noch eine Beladung mit dem Gepäck der Passagiere möglich gewesen, was zum verspäteten Abflug des Fluges QR 184 geführt habe. Jedoch wäre es den Klägern möglich gewesen, den Anschlussflug in Doha zu erreichen, weil die dortige MCT 45 Minuten betrage; das Versäumen des Anschlussflugs liege in deren Sphäre. Die Kläger seien sodann auf den nächstmöglichen Flug umgebucht worden.

Mit dem angefochtenen Urteil verhielt das Erstgericht die Beklagte zur Zahlung von jeweils EUR 600,-- samt Zinsen an die Kläger sowie zum Ersatz der Prozesskosten. Dazu traf es die auf der Seite 2 der Urteilsausfertigung ON 30 ersichtlichen Feststellungen, auf die verwiesen wird. In rechtlicher Hinsicht führte es aus, dass – unabhängig davon, ob die Verspätung des Fluges QR 184 auf außergewöhnliche Umstände zurückzuführen gewesen sei – die Beklagte verabsäumt habe, ausreichendes Vorbringen zum Ergreifen aller zumutbaren Maßnahmen zu erstatten. Insbesondere habe sie nicht vorgebracht, warum ein beschleunigter Transfer oder ein kurzes Zuwarten mit dem Anschlussflug nicht möglich gewesen wäre. Die Beklagte habe selbst vorgebracht, dass es den Klägern aufgrund der verbleibenden MCT von 45 Minuten noch möglich gewesen wäre, den Anschlussflug zu erreichen; diese Möglichkeit sei ihnen jedoch nicht geboten worden.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten aus dem Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, dass das Klagebegehren zur Gänze abgewiesen werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Kläger beantragen, der Berufung nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Berufung ist nicht berechtigt.

Zunächst ist auf die Frage der Ursache für die Versäumung des Anschlussfluges einzugehen, die der Prüfung, ob diese Ursache einen außergewöhnlichen Umstand iSd Art 5 Abs 3 EU-FluggastVO darstellt, vorgelagert ist.

Kommt es zur Verspätung des Zubringerfluges, versäumt der Fluggast den Anschlussflug und erreicht sein Endziel erst mit einer Verspätung von drei oder mehr Stunden, ist zu prüfen, ob die Verspätung des Zubringerfluges ursächlich für die Versäumung des Anschlussfluges war. Dem beklagten Luftfahrtunternehmen steht der Anscheinsbeweis offen, der dadurch erbracht wird, dass die für die konkrete Flugverbindung vom Flughafen vorgegebene Mindestumsteigezeit (MCT) noch zur Verfügung stand. Dazu ist die tatsächliche Ankunftszeit des Zubringerfluges der tatsächlichen Abflugzeit des Anschlussfluges gegenüberzustellen. Wird die MCT zwischen den beiden Flügen eingehalten, spricht der Beweis des ersten Anscheins für einen Umstand in der Sphäre des Fluggastes. Es ist dann Sache des Fluggastes, Umstände zu behaupten und nachzuweisen, warum im konkreten Fall die MCT (für ihn) nicht ausgereicht habe. Wird die MCT unterschritten, muss das Luftfahrtunternehmen darlegen und beweisen, dass der Fluggast in der konkreten Situation den Anschlussflug dennoch erreichen hätte können (RKO0000011).

Dabei wird – entgegen dem Vorbringen der Kläger – auf die Zeitpunkte des Erreichens der Parkposition („on-block“) des Zubringerfluges und das Verlassen der Parkposition des Anschlussfluges („off-block“) abgestellt, weil nach diesen Kriterien regelmäßig die Mindestumsteigezeiten kalkuliert werden. Im vorliegenden Fall wäre den Klägern – folgt man dem Vorbringen der Beklagten zur MCT in Doha – nun exakt die Mindestumsteigezeit zur Verfügung gestanden. Da jedoch den Klägern bereits bei der Landung von Mitarbeitern der Beklagten mitgeteilt wurde, dass sie ihren Anschlussflug nicht mehr erreichen könnten, ist davon auszugehen, dass den Klägern die Entkräftung des Anscheinsbeweises, dass ihnen ein Erreichen des Anschlussfluges möglich gewesen wäre, gelungen ist. Angesichts der ihnen erteilten Auskunft kann ihnen auch nicht zum Vorwurf gemacht werden, sich nicht bemüht zu haben, den Anschlussflug doch noch zu erreichen.

Damit kommt es im vorliegenden Fall darauf an, ob sich die Beklagte gemäß Art 5 Abs 3 EU-FluggastVO entlasten kann.

Die Berufungswerberin releviert zunächst, dass die Verspätung des Fluges QR 184 auf ein außergewöhnliches Ereignis, nämlich die Einstellung der Tätigkeit des Bodenverkehrsdienstes auf dem Flughafen Wien-Schwechat aufgrund der Wetterbedingungen, zurückzuführen sei.

Betreffend der Ergreifung aller zumutbaren Maßnahmen moniert die Berufungswerberin, dass sich jene nicht auf die generelle Unvermeidbarkeit der verspäteten Ankunft der Kläger am Endziel beziehen würden. Behauptungen der Beklagten müssten sich nur auf die zumutbaren Maßnahmen betreffend die Verspätung des jeweiligen Fluges beziehen. Die Verspätung des Fluges QR 184 sei auf die Einstellung des Bodenverkehrsdienstes zurückzuführen und beruhe daher auf Umständen, welche nicht dem Einflussbereich der Beklagten zuzuordnen seien.

Dem ist entgegen zu halten, dass sich ein Luftfahrtunternehmen nur dann von der Zahlung einer Ausgleichsleistung nach Artikel 7 EU-FluggastVO befreien kann, wenn es nachweist, dass

- ein außergewöhnlicher Umstand vorliegt,

- die Annullierung (oder große Verspätung) auf einen solchen zurückgeht und

- es alle zumutbaren Maßnahmen zur Vermeidung der Folgen der Annullierung (oder großen Verspätung) ergriffen hat (vgl LG Korneuburg 22 R 64/20x), wobei diese Umstände kumulativ vorliegen müssen (LG Korneuburg 22 R 104/20d).

Für sämtliche für eine Befreiung nach Artikel 5 Abs 3 EU-FluggastVO erforderlichen Tatbestandselemente ist das ausführende Luftfahrtunternehmen behauptungs- und beweispflichtig (ua LG Korneuburg 22 R 87/20d, 22 R 170/20k; Schmid in Beck OK FluggastrechteVO 18 Artikel 5 Rz 180ff, 189 mwN).

Soweit die Berufungswerberin argumentiert, dass den Klägern kein Ausgleichsanspruch zustehe, weil die Verspätung des Fluges auf außergewöhnliche Umstände zurückzuführen sei, ist ihr daher zu entgegen, dass sie die Prüfungsebenen vermengt. Sie verkennt, dass nur das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstands und das Ergreifen aller zumutbaren Maßnahmen kumulativ die Verpflichtung zur Zahlung einer Ausgleichsleistung ausschließen.

Wie das Erstgericht zutreffend ausführt, muss daher auf das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstands nicht mehr eingegangen werden, wenn sich ergibt, dass die Beklagte nicht alle zumutbaren Maßnahmen iSd Art 5 Abs 3 EU-FluggastVO ergriffen hat.

Sofern die Berufungswerberin auf die „ständige Rechtsprechung“ des Berufungsgerichts – dabei aber konkret nur auf die Entscheidung zu hg 21 R 136/18z – verweist, ist ihr entgegenzuhalten, dass wesentliche in dieser Entscheidung gemachte Rechtsausführungen durch die zwischenzeitig ergangene Rechtsprechung des EuGH – insbesondere die Entscheidung zu C-74/19 Transportes Aéreos Portugueses – überholt sind und daher auch in der nunmehr ständigen Rechtsprechung des Berufungsgerichts nicht mehr aufrecht erhalten werden.

Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und der mittlerweile ständigen Rechtsprechung des Berufungsgerichts (vgl RKO0000014, ua 22 R 152/20p) lässt sich deutlich ableiten, dass die zumutbaren Maßnahmen auf drei Ebenen zu prüfen sind:

[1] Maßnahmen zur Vermeidung der außergewöhnlichen Umstände selbst;

[2] Maßnahmen zur Vermeidung einer daraus resultierenden Annullierung (bzw einer großen Verspätung ) und

[3] Maßnahmen zur Vermeidung der unerwünschten Folgen der Annullierung für den einzelnen Fluggast.

Die Berufungswerberin übersieht daher, dass es betreffend der Ergreifung aller zumutbaren Maßnahmen nicht nur auf die Maßnahmen zur Vermeidung des außergewöhnlichen Umstands selbst ankommt. Vielmehr ist gegenständlich auch das Ergreifen aller zumutbaren Maßnahmen zur Vermeidung der daraus resultierenden großen Verspätung zu prüfen. Überdies kann eine unterlassene Maßnahme der ersten oder zweiten Ebene nicht durch eine Maßnahme der dritten Ebene substituiert werden. Hat das Luftfahrtunternehmen also nicht alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um einen durch außergewöhnliche Umstände von einer Annullierung bedrohten Flug zu „retten“, nützt dem Luftfahrtunternehmen auch eine (iSv EuGH C-74/19) raschest mögliche Umbuchung nichts, wenn die angebotene Ersatzbeförderung nicht ohnehin den Kriterien des Art 5 Abs 1 lit c (Nr ii oder iii) EU-FluggastVO genügt (vgl RKO0000014 [T1]).

Die zweite Kategorie der zumutbaren Maßnahmen stellt auf die Durchbrechung bzw Vermeidung eines Kausalzusammenhangs zwischen einem eingetretenen außergewöhnlichen Umstand und der Annullierung – bzw einer zumindest dreistündigen („großen“) Verspätung am Endziel (EuGH C 402/07 Sturgeon/Condor ) – ab (LG Korneuburg 22 R 152/20p).

Nach ständiger Rechtsprechung des Berufungsgerichts kann dem beklagten Luftfahrunternehmen zwar nicht abverlangt werden, Vorbringen zu jeder entferntesten auch nur denkmöglichen Maßnahme zu erstatten; es sind jedoch Prozessbehauptungen zu Maßnahmen zu erstatten, die sich geradezu aufdrängen oder die zumindest bei lebensnaher Betrachtung in Erwägung gezogen werden müssen (LG Korneuburg 22 R 69/19f, 21 R 76/19b, 22 R 61/20f, 22 R 88/20a ua) oder zu denen die Klagsseite substantiiertes Vorbringen erstattet hat (LG Korneuburg 22 R 119/20k).

Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Berufungsgerichts zählen zu den „Maßnahmen“, die in einem Fall wie dem hier vorliegenden auf ihre „Zumutbarkeit“ zu prüfen sind, all jene Hilfestellungen, die es dem Fluggast ermöglichen könnten, den Anschlussflug doch noch zu erreichen (zB bevorzugte Abfertigungen; beschleunigter Transport im Terminal; begleitete Beförderung von Flugzeug zu Flugzeug über das Vorfeld; Bitte an das Luftfahrtunternehmen, das den Anschlussflug durchführt, die Beendigung des Boarding noch wenige Minuten zu verzögern). Das Luftfahrtunternehmen, das derartige Maßnahmen unterlassen hat, muss daher vortragen und beweisen, dass solche Maßnahmen nicht möglich, nicht zumutbar oder von Vornherein nicht erfolgversprechend gewesen wären (RKO0000016).

Dem Erstgericht ist daher in seiner Ansicht, die Beklagte habe kein ausreichendes Vorbringen zu den zumutbaren Maßnahmen erstattet, beizupflichten. Ausgehend von den Feststellungen wurde den Klägern von einem Mitarbeiter der Beklagten auf dem Flughafen Doha mitgeteilt, dass sie den Anschlussflug nicht mehr erreichen können und sie wurden in der Folge auf den nächsten Flug umgebucht. Die Beklagte hat jedoch nicht dargetan, warum etwa ein Gate-to-Gate-Transfer oder das Zuwarten mit dem Anschlussflug nicht möglich gewesen wäre. Diese Maßnahmen drängen sich jedoch unter Berücksichtigung ihres eigenen Vorbringens, dass den Klägern die MCT von 45 Minuten noch zur Verfügung gestanden hätte, geradezu auf.

Das Erstgericht ist somit zu Recht davon ausgegangen, dass der von der – für die anspruchsvernichtenden Tatsachen behauptungs- und beweispflichtigen – Beklagten vorgetragene Sachverhalt die rechtliche Beurteilung, dass sie alle ihr zumutbaren Maßnahmen zur Vermeidung der großen Verspätung ergriffen hat, nicht zulässt. Ein anspruchsvernichtender Sachverhalt ist nicht ausreichend konkret behauptet worden.

Der unberechtigten Berufung war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung für das Berufungsverfahren gründet sich auf die Bestimmungen der §§ 41, 50 ZPO.

Der Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision beruht auf §§ 500 Abs 2 Z 2, 502 Abs 2 ZPO.

Rückverweise