22R56/20w – LG Korneuburg Entscheidung
Kopf
Im Namen der Republik
Das Landesgericht Korneuburg als Berufungsgericht hat durch seine Richter Mag Iglseder als Vorsitzenden sowie Mag Rak und Mag Jarec LLM in der Rechtssache der klagenden Partei A***** Ltd , vertreten durch Stanonik Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei A***** A***** AG , vertreten durch Brenner Klemm, Rechtsanwälte in Wien, wegen EUR 400,-- sA, infolge Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Bezirksgerichts Schwechat vom 15.11.2019, 23 C 1339/19p 8, in nicht öffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit EUR 175,70 bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens zu Handen der Klagevertreter zu ersetzen.
Die Revision ist jedenfalls unzulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Fluggast M***** V***** verfügte über eine bestätigte Buchung für die folgende von der Beklagten durchzuführende Flugverbindung:
- OS 452 von London (LHR) nach Wien (VIE) am 01.04.2019, 09:05 Uhr bis 12:25 Uhr;
- OS 773 von VIE nach Belgrad (BEG) am 01.04.2019, 13:05 Uhr bis 14:10 Uhr.
Der Flug OS 452 startete tatsächlich erst um 10:08 Uhr in LHR und landete um 13:20 Uhr in VIE, sodass der Fluggast den Anschlussflug OS 773 verpasste. Der Fluggast wurde in der Folge von der Beklagten auf eine andere Flugverbindung nach BEG umgebucht und erreichte sein Endziel um 23:45 Uhr desselben Tages, sohin mit einer Verspätung von mehr als drei Stunden. Die Flugstrecke LHR-BEG beträgt nach der Großkreisberechnung mehr als 1.500 km aber weniger als 3.500 km.
Der Fluggast trat den klagsgegenständlichen Anspruch an die Klägerin ab; diese nahm die Abtretung an.
Die Klägerin begehrte den Zuspruch einer Ausgleichsleistung gemäß Art 5 iVm Art 7 [Abs 1 lit b] der Verordnung (EG) Nr 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (EU-FluggastVO) von EUR 400,-- samt Zinsen. Dazu brachte sie im Wesentlichen vor, dass keine außergewöhnlichen Umstände (iSd Art 5 Abs 3 EU-FluggastVO) vorgelegen seien; Flüge aus London würden regelmäßig ATC 1 *-Verspätungen aufweisen. Darüber hinaus sei für den Umstieg in Wien lediglich ein Zeitraum von 40 min eingeplant gewesen; dies sei im vorliegenden Fall, in dem auch Pass- und Sicherheitskontrollen zu absolvieren gewesen seien, nicht ausreichend gewesen; die Beklagte habe daher nicht die für einen Umstieg auf den Anschlussflug erforderlichen Zeitreserven eingeplant. Auch die Vergabe eines geänderten Abflugslots in LHR sei nicht verwunderlich, weil bereits die Vorrotation eine Verspätung aufgewiesen habe.
Die Beklagte begehrte die Klagsabweisung, bestritt und brachte im Wesentlichen vor, dass die Verspätung des Fluges OS 452 auf außergewöhnlichen Umständen beruht habe, die trotz zumutbarer Maßnahmen nicht vermeidbar gewesen seien: schon die Verspätung des unmittelbaren Vorfluges OS 451 sei auf Vorgaben der britischen Flugsicherung, somit auf eine in diesem Ausmaß ungewöhnliche hoheitliche Maßnahme, auf die die Beklagte keinen Einfluss gehabt habe, zurückzuführen; im Konkreten auf den IATA-Delay-Code 83, der Einschränkungen am Zielflughafen ( „ATFM due to RESTRICTION AT DESTINATION AIRPORT, airport and/or runway closed due to obstruction, industrial action, staff shortage, political unrest, noise abatement, night curfew, special flights“ ) anzeige. Die bereits dadurch eingetretene Verspätung sei durch ständig – insgesamt sechsmal – geänderte Slot-Vergaben für den gegenständlichen Flug OS 452 vergrößert worden; diese Slot-Änderungen seien der Beklagten mit dem IATA-Delay-Code 81 ( „AIR TRAFFIC FLOW MANAGEMENT due to ATC EN-ROUTE DEMAND/CAPACITY, standard demand/capacity problems“ ) angezeigt worden. Letztlich habe man einen Abflug-Slot für 09:25 Uhr (offenbar gemeint: UTC = 10:25 Uhr Ortszeit [vgl Beilage ./1]) erhalten.
Mit dem angefochtenen Urteil verhielt das Erstgericht die Beklagte zur Zahlung von EUR 400,-- samt Zinsen an die Klägerin sowie zum Ersatz der Prozesskosten. In rechtlicher Hinsicht führte es zusammengefasst aus, dass die Beklagte der sie treffenden Behauptungslast zum angeblichen außergewöhnlichen Umstand nicht ausreichend nachgekommen sei; dafür wäre es notwendig gewesen, konkrete, überprüfbare und „entscheidungswesentliche“ Tatsachen vorzubringen, die eine Beurteilung zulassen, ob es sich tatsächlich um einen außergewöhnlichen Umstand gehandelt habe. Aus dem Vorbringen der Beklagten ergebe sich lediglich, dass die Verspätungen der Flüge OS 451 und OS 452 auf kapazitätsbedingte Slot-Einschränkungen der Flugsicherung in London zurückzuführen seien. Die Berufung auf Anordnungen der Flugverkehrsbehörde könne das Luftfahrtunternehmen jedoch nicht davon befreien, konkrete und überprüfbare Behauptungen zu den näheren Umständen aufzustellen, weil andernfalls die Beurteilung des Vorliegens eines außergewöhnlichen Umstands nicht möglich sei. Maßnahmen der Flugsicherung könnten derart mannigfaltig sein, dass keine allgemein gültige Aussage darüber getroffen werden könne, ob diese nun außergewöhnliche Umstände darstellen oder nicht. Das Luftfahrtunternehmen müsse daher behaupten und beweisen, dass die konkrete Maßnahme weder Teil der normalen Ausübung seiner Tätigkeit sei (und daher aufgrund ihrer Unüblichkeit nicht damit gerechnet werden müsse); noch dürfe die Maßnahme vom Luftfahrtunternehmen beherrschbar sein. Erst bei Vorliegen beider Voraussetzungen sei zu prüfen, ob das Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe, um die Verspätung oder Annullierung zu vermeiden.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten aus dem Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, dass das Klagebegehren zur Gänze abgewiesen werden; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Klägerin beantragt der Berufung nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Berufung ist nicht berechtigt.
Zusammengefassten vermeint die Berufungswerberin, dass das Erstgericht die sie treffende Darlegungs- und Beweislast überspannt habe. Sie wendet sich gegen die Ansicht des Erstgerichts, dass die Slot-Beschränkungen keinen außergewöhnlichen Umstand darstellten, und meint, es könne dem Luftfahrtunternehmen weder vorgehalten werden, dass es zu Slot-Beschränkungen gemäß IATA-Delay-Code 83, noch, dass es – noch dazu kurzfristig – zu derart langen Abflugverzögerungen (gemäß IATA Delay-Code 81) komme, insbesondere weil es keinen Einfluss auf die Slot-Vergabe nehmen könne. Damit seien insbesondere die in ErwGr 15 der Verordnung genannten Voraussetzungen erfüllt, unter denen vom Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstands ausgegangen werden sollte.
Dem ist zu entgegnen: Nach dem unstrittigen Sachverhalt erreichte der Fluggast sein Endziel mit großer Verspätung, weil seine Flugreise aus zwei Flugsegmenten bestand, und der Zubringerflug zu einem Zeitpunkt landete, zu dem der Anschlussflug bereits abgeflogen war. Beruft sich das Luftfahrtunternehmen auf einen außergewöhnlichen Umstand iSd Art 5 Abs 3 EU-FluggastVO, ist daher zu prüfen, ob die verspätete Landung des Zubringerfluges auf einem außergewöhnlichen Umstand beruht oder nicht.
Soweit die Berufungswerberin wie auch schon im erst-instanzlichen Verfahren den Standpunkt einnimmt, die Slot-Vergabe liege nicht in ihrem Einflussbereich, ist zu entgegnen, dass als außergewöhnliche Umstände Vorkommnisse angesehen werden können, die [a] ihrer Natur und Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens und [b] von ihm nicht tatsächlich beherrschbar sind, wobei diese beiden Bedingungen kumulativ vorliegen müssen (ständige Rechtsprechung des EuGH; zuletzt Urteil vom 26.6.2019 in der Rechtssache C-159/18 Moens Rn 16). Es mag zutreffen, dass das Luftfahrtunternehmen die behördliche Anordnung einer Slot-Reduktion hinzunehmen hat; insoweit ist das Vorkommnis nicht beherrschbar. Dies lässt aber die Frage unberührt, ob das Vorkommnis seiner Natur und Ursache nach Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens ist. Zu diesem Sachverhaltselement hat die Beklagte aber – wie das Erstgericht zutreffend erkannt hat – nur ein in keiner Weise ausreichendes Vorbringen erstattet:
Zur Verspätung der Vorrotation beruft sich die Beklagte auf „unvorhergesehene Vorgaben der englischen Flugsicherung gemäß IATA-Delay-Code 83“, „konkret“ Einschränkungen am Zielflughafen. Abgesehen davon, dass die Beklagte unter Missachtung des Art 8 B-VG bzw § 53 Abs 1 Geo die Umschreibung des Delay-Codes 83 ausschließlich in englischer Sprache vornimmt (möge diese auch für das Berufungsgericht verständlich sein), enthält diese Umschreibung ein ganzes Bündel unterschiedlichster und bloß allgemein umrissener möglicher Gründe für „Restriktionen am Zielflughafen“, die eine Feststellung, welches konkrete Ereignis zu den Restriktionen geführt hat, und damit auch die rechtliche Beurteilung, ob dieses im vorliegenden Einzelfall als außergewöhnlicher Umstand iSd Art 5 Abs 3 EU-FluggastVO zu qualifizieren ist, unmöglich macht.
Damit kann der Hinweis auf Restriktionen der Flugsicherung unter schlichter Anführung eines IATA-Delay-Codes allein nie geeignet sein, ein konkretes Vorbringen – welches Ereignis, das aus den üblichen und erwartbaren Abläufen des Luftverkehrs herausragt ( Schmid in BeckOK FluggastrechteVO 14 Art 5 Rz 28 mwN), nun zu den die Annullierung oder die Verspätung auslösenden Maßnahmen der Flugsicherung geführt hat – zu ersetzen.
Dies gilt in verstärktem Maße für die Bezugnahme auf den IATA-Delay-Code 81, der vereinfacht gesagt Kapazitätsprobleme beschreibt, hinsichtlich des gegenständlichen Fluges OS 452. (Neu-)Zuteilungen von Slots aufgrund von Überlastungen des Luftraums oder eines Flughafens sind nicht einmal ungewöhnliche – geschweige denn außergewöhnliche (zur Differenzierung vgl Schmid aaO Art 5 Rz 26 f) – Vorkommnisse und gehören zum betrieblichen Risiko des Luftfahrtunternehmens ( Schmid aaO Art 5 Rz 103a). Dieser Standpunkt wird vom erkennenden Senat geteilt: die starke Be- und mitunter Überlastung des europäischen Luftraums und die eng getakteten Verbindungen im weitgehend praktizierten Flugumlaufverfahren bilden einerseits die Grundlage dafür, dass häufig auftretende und bagatellhafte Vorkommnisse immer wieder zu erheblichen Verwerfungen gegenüber den geplanten Flugabläufen führen; andererseits sind diese Vorkommnisse aber gerade deshalb als Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens und damit als luftfahrttypisches Risiko anzusehen.
Im Übrigen ist die Zuteilung eines neuen Slots für einen Flug, der wegen einer Verspätung auf der Vor-rotation den ihm ursprünglich zugeteilten Slot nicht ausnützen konnte, eine logische Konsequenz der bereits aufgebauten Verspätung und kann auch dann keinen außergewöhnlichen Umstand darstellen, wenn – etwa aus Kapazitätsgründen – kein neuer Slot für genau jenen Zeitpunkt erteilt werden kann, in dem das Fluggerät startbereit ist.
Ergänzend ist noch Folgendes anzumerken:
Sofern keines der Vorkommnisse zwangsläufige Folge eines anderen Vorkommnisses ist (vgl EUGH Rs C-315/15
Pešková und Peška Rn 35), ist für jedes Vorkommnis gesondert zu prüfen, ob ein außergewöhnlicher Umstand iSd Art 5 Abs 3 EU-FluggastVO vorliegt (LG Korneuburg 21 R 297/18a = RRa 2019, 146). Selbst wenn eines der beiden (nicht aber das jeweils andere) von der Beklagten behaupteten Vorkommnisse als außergewöhnlicher Umstand zu qualifizieren wäre, ließe sich eine Betrachtung, welche Anteile an der Gesamtverspätung jedem der beiden Gründe zuzuordnen wären, nicht anstellen, weil die Beklagte auch nicht behauptet hat, wann – also mit welcher Verspätung – der Vorflug OS 451 in LHR gelandet ist.
Zusammengefasst ist daher festzuhalten, dass die Beklagte keinen außergewöhnlichen Umstand iSd Art 5 Abs 3 EU-FluggastVO behauptet hat, der ihr eine Befreiung von der Zahlung einer Ausgleichsleistung gemäß Art 7 der Verordnung ermöglicht hätte, womit das Erstgericht allein unter Zugrundelegung des unstrittigen Sachverhalts dem Klagebegehen zu Recht stattgegeben hat. Damit war auch der Berufung ein Erfolg zu versagen.
Der Anregung der Berufungsgegnerin, den Europäischen Gerichtshof im Zuge eines Vorabentscheidungsverfahrens – zusammengefasst – mit der Frage zu befassen, ob eine verspätete Starterlaubnis durch die Luftverkehrskontrolle allein einen außergewöhnlichen Umstand iSd Art 5 Abs 3 EU-FluggastVO darstellt, war nicht zu folgen. Nach einhelliger Auffassung (vgl Judikaturübersicht bei Schmid in BeckOK FluggastrechteVO 14 Art 5 Rz 102) entzieht sich die Frage in dieser Allgemeinheit schon deshalb einer Beantwortung, weil der Grund für die verspätete Starterlaubnis ein luftfahrttypischer und allein aus der Sphäre des beklagten Luftfahrtunternehmens stammender sein könnte, womit das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstands jedenfalls zu verneinen wäre.
Die Kostenentscheidung gründet auf §§ 41 Abs 1, 50 Abs 1 ZPO.
Der Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision beruht auf §§ 500 Abs 2 Z 2, 502 Abs 2 ZPO.