JudikaturBFG

RV/7103927/2023 – BFG Entscheidung

Entscheidung
28. April 2025

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter ***Ri*** in der Beschwerdesache ***Bf1***, ***Bf1-Adr***, vertreten durch ***Vertreter***, ***Adresse***, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 7. April 2025 über die Beschwerde vom 19. Juni 2023 gegen die beiden Bescheide des Finanzamtes Österreich vom 15. Mai 2023 betreffend Familienbeihilfe 05.2018 und betreffend erhöhte Familienbeihilfe ab Mai 2018, Steuernummer ***BF1StNr1***, zu Recht erkannt:

I. Die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrags auf Familienbeihilfe und gegen die Abwei-sung des Antrags auf Erhöhungsbetrag wegen erheblicher Behinderung wird gemäß § 279 BAO als unbegründet abgewiesen.

II. Gegen dieses Erkenntnis ist eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.

Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

Mit Bescheid vom 15. Mai 2023 lehnte das Finanzamt Österreich den Antrag der Beschwerde-führerin (Bf) auf Familienbeihilfe ab. Die belangte Behörde (bB) begründete die Abweisung da-mit, dass die Bf nicht dauernd erwerbsunfähig iSd § 6 Abs. 2 lit. d FLAG 1967 sei. Mit Bescheid vom 15. Mai 2023 wies die bB auch den Antrag auf Erhöhungsbetrag wegen erheblicher Be-hinderung mit derselben Begründung ab. Dagegen erhob die Bf Bescheidbeschwerde. In dieser wandte sich die Bf gegen "eine unzureichende Darstellung der Arbeitsleistung der Bf, die - ent-gegen der Darstellung im Gutachten - nicht durchgehend 30 Wochenstunden gearbeitet hat". Darüber hinaus brachte die Bf vor, dass die Abgabenbehörde nicht festgestellt habe, ob die Höhe des von der Bf erzielten Arbeitsentgelts zur Deckung des Unterhalts ausgereicht habe.

Mit Bescheid vom 29. August 2023 wies die bB die Bescheidbeschwerde ab: Eine dauernde Er-werbsunfähigkeit liege nicht vor. Dagegen brachte die Bf einen Vorlageantrag ein, in dem sie vorbrachte, dass die Abgabenbehörde nicht festgestellt habe, ob die Höhe des von der Bf er-zielten Arbeitsentgelts zur Deckung des Unterhalts ausgereicht habe.

II. Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:

1. Sachverhalt

Die am 23. November 1960 geborene verheiratete Bf ist seit dem Tod ihrer Mutter im Juli 2021 Vollwaise. Seit September 1967 ist sie zu 50%, seit August 2023 zu 60% behindert (Intelligenz-minderung). Sie führt keinen eigenständigen Haushalt. Von November 1997 bis November 2020 arbeitete die Bf als Reinigungskraft bei der Lebenshilfe - zunächst bis August 2006 30 Wochenstunden, dann bis Juni 2014 20 Wochenstunden und schlussendlich (bis November 2020) 18 Wochenstunden. 2013 betrugen ihre Jahresbruttobezüge 13.518,00 €; 2014 13.317,49 €; 2015 13.392,97 €; 2016 13.700,43 €; 2017 13.805,24 €; 2018 14.135,19 €; 2019 14.629,38 € und 2020 31.638,77 €. Von den 31.638,77 € entfielen 17.923,87 € auf die "Abferti-gung Alt".

2. Beweiswürdigung

Wie aus dem Akt hervorgeht und von keiner der Parteien bestritten wurde, ist die 64jährige Bf seit Juli 2021 Vollwaise. Ihre Verheiratung wurde in der mündlichen Verhandlung festgestellt. Ihre - ebenfalls unstreitige - Behinderung (Intelligenzminderung) ergibt sich aus vier im Akt aufliegenden Gutachten: psychiatrisches Sachverständigengutachten von ***Arzt1*** (April 1997), psychiatrisches Gutachten von ***Arzt2*** (Mai 2001), Sachverständigengutachten von ***Arzt3*** für das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Juli 2022) und Sachverständigengutachten von ***Arzt4*** für das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (August 2023). Laut Sachverständigengutachten von ***Arzt3*** beträgt der Gesamtgrad der Behinderung seit September 1967 50%, laut Sachverständigengutachten von ***Arzt4*** beträgt der Gesamtgrad der Behinderung von September 1967 bis Juli 2023 50% und seit August 2023 60%.

In der mündlichen Verhandlung wurde festgestellt, dass die Bf zwar mit ihrem Ehegatten ge-meinsam in einer Wohnung lebt, sich aber ohne dessen Anleitung nicht selbständig um die all-gemeinen Dinge der Lebensführung kümmern kann. Darüber hinaus unterliegt die Bf einer re-gelmäßigen Aufsicht durch Betreuer: Diese kommen zwei- bis viermal wöchentlich in die Woh-nung und führen darüber hinaus mehrmalige tägliche Telefonate mit der Bf. Eine eigenständige Haushaltsführung der Bf ist daher zu verneinen.

Die Erwerbstätigkeit der Bf von 1997 bis 2020 geht unbestritten aus dem Akt hervor, wobei sich das Wochenstundenausmaß im Zeitablauf von 30 auf 18 reduzierte. Die Jahresbruttobe-züge 2013 bis 2020 entstammen den von der Bf vorgelegten Lohnzetteln.

3. Rechtliche Beurteilung

3.1. Zu Spruchpunkt I. (Abweisung)

Volljährige Vollwaisen haben Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn auf sie die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 lit. a bis c zutreffen und wenn sie wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjah-res eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstan-de sind, sich selbst den Lebensunterhalt zu verschaffen, und deren Unterhalt nicht zur Gänze aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe oder nicht zur Gänze aus öffentlichen Mitteln zur Si-cherung des Lebensunterhalts und des Wohnbedarfs getragen wird, sofern die Vollwaise nicht einen eigenständigen Haushalt führt (§ 6 Abs. 2 lit. d FLAG).

Die 64jährige Bf ist volljährige Vollwaise mit Wohnsitz in Wien (§ 6 Abs. 1 lit. a FLAG). Von ih-rem Ehegatten wird ihr unbestritten kein Unterhalt geleistet (§ 6 Abs. 1 lit. b FLAG). Ebenso unbestritten wird keiner anderen Person Familienbeihilfe für die Bf gewährt (§ 6 Abs. 1 lit. c FLAG).

Die Bf leidet an einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres eingetretenen geistigen Behinde-rung (§ 6 Abs. 2 lit. d FLAG): Wie ausgeführt, wurde bei der Bf bereits im Alter von sieben Jah-ren eine Intelligenzminderung diagnostiziert. Strittig ist, ob die Bf voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen (§ 6 Abs. 2 lit. d FLAG). Die dauerhafte Erwerbsunfähigkeit iSd leg cit muss vor dem 21. Lebensjahr eingetreten sein. Dabei ist der Zeit-punkt maßgeblich, zu dem diejenige Behinderung (als Folge einer allenfalls schon länger beste-henden Krankheit) eintritt, welche die Erwerbsunfähigkeit bewirkt (zB VwGH 20.11.2014, Ra 2014/16/0010).

Die Frage, ob eine Vollwaise voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, ist nicht anhand des Grads der Behinderung, sondern mittels einer Bescheini-gung des Bundesamts für Soziales und Behindertenwesen aufgrund eines ärztlichen Sachver-ständigengutachtens zu beantworten (§ 8 Abs. 6 FLAG). Auch im Fall einer 100%igen Behinde-rung ist es aus Sicht des Verwaltungsgerichtshofs nicht ausgeschlossen, dass der Behinderte imstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen (VwGH 13.12.2012, 2009/16/0325).

Beide vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen eingeholten ärztlichen Sachverstän-digengutachten verneinen übereinstimmend, dass die Bf voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Die Abgabenbehörde und das Bundesfinanzgericht (BFG) sind an die im Gutachten getroffenen Feststellungen gebunden; Gutachten dürfen ledig-lich auf Schlüssigkeit, Vollständigkeit und im Fall mehrerer Gutachten auf Widerspruchsfreiheit überprüft werden (VwGH 30.3.2017, 2017/16/0023). Für das BFG gibt es keinen Anhaltspunkt, an der Schlüssigkeit der beiden - jeweils auch von einem zweiten Arzt vidierten - Gutachten von ***Arzt3*** und ***Arzt4*** zu zweifeln. Ebenso wenig widersprechen sich die beiden Gutachten.

Die von der Bf monierte Unvollständigkeit des Gutachtens von ***Arzt3*** (Juli 2022) - keine Berücksichtigung der Reduktion der Wochenarbeitszeit der Bf - kann dem (späteren) Gutachten von ***Arzt4*** (August 2023) nicht mehr entgegengehalten werden: Dort wird die Reduktion der Wochenarbeitszeit der Bf berücksichtigt.

Nicht nur die beiden ärztlichen Sachverständigengutachten des Bundesamts für Soziales und Behindertenwesen stehen dem Vorbringen der Bf entgegen, seit frühester Kindheit dauerhaft erwerbsunfähig zu sein; auch die Tatsache, dass die Bf zwischen November 1997 und Novem-ber 2020 ununterbrochen erwerbstätig war, spricht gegen eine vor dem 21. Lebensjahr einge-tretene dauerhafte Erwerbsunfähigkeit iSd § 6 Abs. 2 lit. d FLAG.

Allerdings will die Bf trotz Erwerbstätigkeit kein zur Deckung des Unterhalts ausreichendes Ar-beitsentgelt erzielt haben. Das FLAG enthält keine Legaldefinition des Begriffs "Unterhalt". Die Gesetzesmaterialien zur Stammfassung des FLAG (BGBl 367/1967) lassen erkennen, dass mit dem Begriff "Unterhalt" der gegen die Eltern gerichtete zivilrechtliche Anspruch eines Kinds auf Leistungen zur Sicherstellung dessen Lebensbedarfs gemeint ist (ErlRV 549 BlgNR 11. GP 14). Das ABGB regelt den Kindesunterhalt in den §§ 231 bis 235 ABGB. Ist ein Kind selbsterhaltungs-fähig, entfällt der Anspruch auf Kindesunterhalt. Selbsterhaltungsfähigkeit meint die Fähigkeit zur eigenen angemessenen Bedürfnisdeckung auch außerhalb des elterlichen Haushalts (stän-dige Rechtsprechung [stRsp]; zB 1 Ob 560/92 EvBl 1991/177 uva). Für einfache bis durch-schnittliche Lebensverhältnisse bieten die Richtsätze des § 293 Abs 1 lit a sublit bb und lit b ASVG eine Orientierung im Hinblick auf die Frage, ab welchen Eigeneinkünften des Kinds Selbsterhaltungsfähigkeit vorliegt (stRsp; zB 3 Ob 547/90 EF 62.610 uva). Für die Jahre 2013 bis 2020 betrugen die Richtsätze iSd § 293 Abs 1 lit a sublit bb und lit b ASVG: 837,63 € (2013); 857,73 € (2014); 872,31 € (2015); 882,78 € (2016); 889,84 € (2017); 909,42 € (2018); 933,06 € (2019) und 966,65 € (2020).

20132014201520162017201820192020
837,63 €857,73 €872,31 €882,78 €889,84 €909,42 €933,06 €966,65 €
*1411.726,82 €12.008,22 €12.212,34 €12.358,92 €12.457,76 €12.731,88 €13.062,84 €13.533,10 €
Jahresbruttobezug13.518,00 €13.317,49 €13.392,97 €13.700,43 €13.805,24 €14.135,19 €14.629,38 €31.638,77 €

Die tabellarische Gegenüberstellung der mit dem Faktor 14 multiplizierten Richtsätze iSd § 293 Abs 1 lit a sublit bb und lit b ASVG und der von der Bf erzielten Jahresbruttobezüge zeigt, dass die erwerbsfähige und -tätige Bf selbsterhaltungsfähig war; sie war imstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

Abschließend sei erneut darauf hingewiesen, dass das Bundesamt für Soziales und Behinder-tenwesen der Abgabenbehörde die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit einer Person, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, durch eine Bescheinigung aufgrund eines ärztlichen Sach-verständigengutachtens nachzuweisen hat (§ 8 Abs. 6 FLAG). Die Notwendigkeit der Beschei-nigung des Bundesamts für Soziales und Behindertenwesen als Nachweis der voraussichtlich dauernden Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, wurde im Zug einer Änderung des FLAG im Jahr 2002 (BGBl 105/2002) in § 8 Abs. 6 FLAG aufgenommen. Wie die diesbezügli-chen Gesetzesmaterialien ausführen, sind "die Untersuchungen nunmehr ausnahmslos durch das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen […] [durchzuführen], da das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen über langjährige praktische Erfahrungen […] verfügt und sohin eine bundesweit einheitliche Vollziehung gewährleisten kann" (ErlRV 1163 BlgNR 21. GP 1). Das von der Bf zitierte Erkenntnis des VwGH (21.11.1990, 90/13/0129) erging zu einem Zeitpunkt lange vor Änderung des § 8 Abs. 6 FLAG.

Die Abgabenbehörde ist wie ausgeführt (ebenso wie das BFG) an die im ärztlichen Gutachten des Bundesamts für Soziales und Behindertenwesen getroffenen Feststellungen gebunden. Da beide der Behörde vorliegenden Gutachten übereinstimmend verneinen, dass die Bf voraus-sichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, hat die Behörde den Antrag auf Familienbeihilfe zu Recht abgelehnt.

Da ein Anspruch auf Familienbeihilfe nach § 6 Abs. 1 iVm Abs. 2 lit. d FLAG zu verneinen ist, besteht auch kein Anspruch auf eine Erhöhung der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder nach § 8 Abs. 4 iVm Abs. 5 FLAG.

3.2. Zu Spruchpunkt II. (Revision)

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird. Eine solche Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung liegt im vorliegenden Fall nicht vor. Die Beantwortung der streit-gegenständlichen Frage ergibt sich aus § 8 Abs. 6 FLAG und der Rechtsprechung des VwGH (30.3.2017, 2017/16/0023).

Salzburg, am 28. April 2025

Rückverweise