IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter***Ri*** in der Beschwerdesache ***Bf1***, ***Bf1-Adr***, vertreten durch ***V***, ***V-Adr***, über die Beschwerde vom 28. Juni 2018 gegen den Bescheid des Finanzamtes Landeck Reutte (nunmehr Finanzamt Österreich, Dienststelle Landeck Reutte) vom 11. Juni 2018 betreffend Haftung gemäß § 9 BAO, St.-Nr. ***St.-Nr.***, zu Recht erkannt:
I. Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben.
II. Gegen dieses Erkenntnis ist eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.
Entscheidungsgründe
Verfahrensgang
Das Finanzamt zog den Beschwerdeführer mit Bescheid vom 11. Juni 2018 zur Haftung für die Umsatzsteuer 2013, Lohnsteuer 2008 und 2010 bis 2012 und Einkommensteuer (Abzugsteuer gemäß § 99 EStG 1988) in Höhe von insgesamt € 501.903,11 heran:
Dagegen erhob der Beschwerdeführer mit Eingabe vom 28. Juni 2018 Bescheidbeschwerde und machte fehlendes Verschulden (in Bezug auf die Abzugsteuer) und Nichtvorliegen rechtskräftiger Abgabenscheide geltend.
Das Finanzamt wies die Beschwerde mit Beschwerdevorentscheidung vom 31. Juli 2018 als unbegründet ab. In seiner Begründung führte es zusammengefasst aus, dass die Pflichtverletzung in der Unterlassung, die aus den Verträgen mit den Subunternehmern resultierenden Abgaben zu entrichten, liege und das Verschulden sich daraus ergebe, dass der Beschwerdeführer es verabsäumt habe, sich an geeigneter Stelle über das Zutreffen seiner Rechtsauffassung zu erkundigen.
Die dem Haftungsbescheid zugrunde liegenden Abgabenbescheide seien dem Beschwerdeführer zusammen mit dem Haftungsbescheid übermittelt worden. Der Beschwerdeführer habe somit die Möglichkeit gehabt, dagegen nach § 248 BAO entsprechende Rechtsmittel zu erheben. Der Einwand, dass keine rechtskräftigen Bescheide vorliegen würden, gehe somit ins Leere.
Dagegen wurde mit Eingabe vom 22. August 2018 der Antrag auf Entscheidung über die Beschwerde durch das Bundesfinanzgericht (Vorlageantrag) eingebracht.
Der Beschwerdeführer brachte wiederum vor, dass keine rechtskräftigen Bescheide vorlägen. Es sei daher im Haftungsverfahren das Bestehen einer Abgabenschuld als Vorfrage zu klären. Ergänzend wurden dargelegt, warum nach Ansicht des Beschwerdeführers eine Abgabenschuld in Bezug auf die Abzugsteuer nicht bestehe.
In der mündlichen Verhandlung am 26. März 2025 wurde wiederholend vorgebracht, dass keine rechtskräftigen Bescheide vorliegen würden und diese auch nicht im Rahmen des Haftungsbescheides übermittelt worden seien. Im Akt des Vertreters des Beschwerdeführers würden sich diese jedenfalls nicht befinden.
Der Vertreter des Finanzamtes führte aus, dass die Abgabenbescheide mit dem Haftungsbescheid vom 11. Juni 2018 dem Beschwerdeführer übermittelt worden seien und beantragte zu hierzu die Einvernahme des damaligen Leiters des Teams Abgabensicherung und der zuständigen Mitarbeiterin im Amtsfachbereich.
Dem ergänzenden Anbringen des Beschwerdevertreters bei der Einvernahme der beantragten Zeugen anwesend sein zu dürfen wurde entsprochen und die Zeugeneinvernahme im Rahmen der fortgesetzten mündlichen Verhandlung am 20. Mai 2025 durchgeführt.
Der Leiter des Teams Abgabensicherung gab an, dass es im Haftungsverfahren gelebte Praxis gewesen sei, dass neben dem Haftungsbescheid auch die zugrunde liegenden Bescheide übermittelt werden. Die Kuvertierung, das heißt die Adressierung und die Befüllung sei im Team vorgenommen worden. Die Approbation sei in der Folge durch den Fachvorstand erfolgt, der jedenfalls im Falle des Fehlens der Bescheide darauf hingewiesen hätte, dass auch diese dem Haftungspflichtigen zu übermitteln wären. Weitere Indizien bzw. Hinweise, dass der Versand (einschließlich der Kopien der Abgabenbescheide) tatsächlich stattgefunden habe, könnten aber nicht genannt werden. Die damals im Amtsfachbereich tätige Zeugin gab an, sich im Zuge der Bearbeitung der Beschwerde beim Leiter des Teams Abgabensicherung versichert zu haben, dass die Abgabenbescheide mit dem Haftungsbescheid auch tatsächlich übermittelt worden seien.
Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:
Sachverhalt
Der Beschwerdeführer war Geschäftsführer der ***P-GmbH*** und als solcher vom 29. Februar 2008 bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens und Bestellung eines Masseverwalters mit Beschluss des Landesgerichtes vom 3. April 2013 zur selbstständigen Vertretung der Gesellschaft im Firmenbuch eingetragen. Mit Beschluss des Landesgerichtes Innsbruck vom 2. Dezember 2014 wurde der Konkurs mangels Kostendeckung aufgehoben und der Beschwerdeführer mit 22. Dezember 2014 als Liquidator bestellt.
Mit Haftungsbescheiden vom 12. Juni 2013 wurde mit an den Masseverwalter gerichteten Erledigungen die Primärschuldnerin als Arbeitgeberin für Lohnsteuern betreffend die Jahr 2008 und 2010 bis 2012 in Anspruch genommen.
Mit vier weiteren an die Gemeinschuldnerin adressierten, als Haftungs- und Abgabenbescheide vom 5. Mai 2014 intendierten Erledigungen wurden für die Jahre 2008 bis 2011 nicht einbehaltende und nicht abgeführte Steuern nach § 99 EStG 1988 (Abzugsteuer) gegenüber der Gemeinschuldnerin festgesetzt.
Schließlich erging mit 19. November 2014 der an den Masseverwalter gerichtete Bescheid über die Festsetzung der Umsatzsteuer für das Jahr 2013.
Gegen die Haftungs- und Abgabenbescheide betreffend die Einkommensteuer (Abzugsteuer) wurde während des Insolvenzverfahrens vom Masseverwalters jeweils Beschwerde erhoben und nach Abweisung mittels Beschwerdevorentscheidung durch den Beschwerdeführer (nach Aufhebung des Konkurses in der Funktion als Liquidator) der Vorlageantrag gestellt. Die Verfahren wurden vom Bundesfinanzgericht eingestellt, weil die Gesellschaft zwischenzeitlich amtswegig infolge Vermögenslosigkeit gemäß § 40 FBG im Firmenbuch gelöscht wurde.
Mit Haftungsbescheid vom 11. Juni 2018 wurde der ehemalige Geschäftsführer zur Haftung herangezogen. Die tatsächliche Übermittlung von Kopien bzw. Abschriften der dem Haftungsbescheid zugrunde liegenden Abgabenbescheide wurde nicht nachgewiesen.
Beweiswürdigung
Die Stellung des Beschwerdeführers als Geschäftsführer der Primärschuldnerin ergibt sich mit Ausnahme für die in die Haftung einbezogenen Umsatzsteuer für den maßgeblichen Zeitraum aus dem Firmenbuch. Die Uneinbringlichkeit steht aufgrund der Aufhebung des Konkurses mangels Kostendeckung fest.
Zur Frage, ob im Zuge der Haftungsinanspruchnahme die zugrundeliegenden Abgabenbescheide dem Beschwerdeführer als Haftenden auch tatsächlich übermittelt worden sind, sodass es diesem ermöglicht wurde, Beschwerden nach § 248 BAO zu erheben, bringt der Vertreter des Beschwerdeführers vor, dass dies nicht erfolgt sei, in seinem Akt würden sich jedenfalls diese Bescheide nicht befinden. Die Abgabenbehörde bringt hingegen vor, die Abgabenbescheide gleichzeitig mit dem Haftungsbescheid übermittelt zu haben. Die von der Abgabenbehörde beantragte Zeuge verweist auf die gelebte Praxis, die einem Haftungsbescheid zugrunde liegenden Abgabenbescheide gleichzeitig mit diesem dem Haftenden zu übermitteln.
Damit gelingt der Nachweis der Übermittlung aber nicht. Abgesehen davon, dass auch bei "gelebter Praxis" Fehler passieren können, findet sich im Haftungsbescheid auch kein Hinweis auf Beilagen. Weitere Indizien, die für eine Zustellung sprechen, konnten nicht genannt werden. Es ist daher davon auszugehen, dass Kopien der Abgabenbescheide nicht übermittelt wurden.
Allerdings muss nach der Rechtsprechung nicht unbedingt eine Kopie der Bescheide übermittelt werden, es genügt, dass dem Beschwerdeführer der Grund und die Höhe der Abgabenschuld bekannt gegeben wird und er dadurch in die Lage versetzt wurde, dagegen Beschwerde nach § 248 BAO zu erheben. Im Zuge des Beschwerdeverfahrens der Primärschuldnerin gegen die Abgaben- und Haftungsbescheide betreffend Abzugssteuer hat der Beschwerdeführer als Liquidator seiner rechtsfreundlichen Vertretung den Auftrag erteilt, gegen die abweisende Beschwerdevorentscheidung einen Vorlageantrag einzubringen. Es ist daher in diesem Fall davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer Kenntnis der zur Festsetzung des Abgabenanspruches führenden Grundlagen hatte.
Rechtliche Beurteilung
Zu Spruchpunkt I.
Gemäß § 9 Abs. 1 BAO haften die in den §§ 80 ff bezeichneten Vertreter neben den durch sie vertretenen Abgabepflichtigen für die diese treffenden Abgaben insoweit, als die Abgaben infolge schuldhafter Verletzung der den Vertretern auferlegten Pflichten nicht eingebracht werden können.
Gemäß § 80 Abs. 1 BAO haben die zur Vertretung juristischer Personen berufenen Personen alle Pflichten zu erfüllen, die den von ihnen Vertretenen obliegen. Sie haben insbesondere dafür zu sorgen, dass die Abgaben aus den Mitteln, die sie verwalten, entrichtet werden.
Die Haftungsinanspruchnahme setzt daher die Stellung als Vertreter, das Bestehen einer Abgabenforderung gegen den Vertretenen, die Uneinbringlichkeit, die Verletzung abgaben-rechtlicher Pflichten durch den Vertreter, das Verschulden des Vertreters und die Kausalität zwischen Pflichtverletzung und Abgabenausfall voraus.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes liegt bei unvollständiger und nicht rechtzeitiger Information des zur Haftung herangezogenen Geschäftsführers darüber, dass der Abgabenanspruch schon gegenüber dem Primärschuldner bescheidmäßig geltend gemacht wurde, ein Mangel des Verfahrens vor, der im Verfahren über die Beschwerde gegen den Haftungsbescheid nicht sanierbar ist (VwGH 24.02.2010, 2005/13/0145; VwGH 28.02.2013, 2011/16/0053; VwGH 24.10.2013, 2013/16/0165).
Die Übermittlung dieser Informationen an den Haftungspflichtigen ist laut Sachverhalt betreffend die Haftungsbescheide über die Lohnsteuer 2008 und 2010 bis 2012 und die Umsatzsteuer 2013 (hierbei handelt es sich aber um eine Berichtigung der Umsatzsteuer, die vom Geschäftsführer ohnehin nicht zu verantworten ist) nicht nachgewiesen. Die Haftung für diese Abgaben ist daher aufzuheben.
Hinsichtlich der nach § 99 EStG 1988 durch Steuerabzug zu erhebenden Einkommensteuer ist aufgrund der obigen Ausführungen davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Haftungsinanspruchnahme im Jahr 2018 die erforderlichen Informationen zur Erhebung einer Beschwerde nach § 248 BAO bekannt waren. Allerdings sind die betreffenden Abgabenbescheide - abweichend zu den übrigen in die Haftung einbezogenen Bescheiden nicht rechtswirksam ergangen, weil während eines Insolvenzverfahrens Abgaben gegenüber dem Masseverwalter, der insofern den Gemeinschuldner repräsentiert, festzusetzen sind (vgl. VwGH 18.09.2003, 2003/15/0061), die betreffenden als Haftungs- und Abgabenbescheide intendierten Erledigungen sind hier aber an die Gemeinschuldnerin adressiert worden.
Die Geltendmachung einer Haftung nach § 9 BAO setzt zwar nicht voraus, dass eine entstandende Abgabenschuld auch dem Abgabenschuldner gegenüber geltend gemacht wurde (vgl. VwGH 17.9.1996, 92/14/0138), jedoch ist eine erstmalige Geltendmachung des Abgabenanspruches anlässlich der Erlassung eines Haftungsbescheides gemäß § 224 Abs. 3 BAO nach Eintritt der Verjährung des Rechtes zur Festsetzung der Abgabe nicht mehr zulässig (vgl. VwGH 16.10.2014, Ro 2014/16/0066).
§ 207 Abs. 1 und 2 BAO lautet:
"§ 207.(1) Das Recht, eine Abgabe festzusetzen, unterliegt nach Maßgabe der nachstehenden Bestimmungen der Verjährung.
(2) Die Verjährungsfrist beträgt bei den Verbrauchsteuern, bei den festen Stempelgebühren nach dem II. Abschnitt des Gebührengesetzes 1957, weiters bei den Gebühren gemäß § 17a des Verfassungsgerichtshofgesetzes 1953 und § 24a des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 drei Jahre, bei allen übrigen Abgaben fünf Jahre. Soweit eine Abgabe hinterzogen ist, beträgt die Verjährungsfrist zehn Jahre. Das Recht, einen Verspätungszuschlag, Anspruchszinsen, Säumniszuschläge oder Abgabenerhöhungen festzusetzen, verjährt gleichzeitig mit dem Recht auf Festsetzung der Abgabe."
§ 209 Abs. 1 BAO lautet:
§ 209.(1) Werden innerhalb der Verjährungsfrist (§ 207) nach außen erkennbare Amtshandlungen zur Geltendmachung des Abgabenanspruches oder zur Feststellung des Abgabepflichtigen (§ 77) von der Abgabenbehörde unternommen, so verlängert sich die Verjährungsfrist um ein Jahr. Die Verjährungsfrist verlängert sich jeweils um ein weiteres Jahr, wenn solche Amtshandlungen in einem Jahr unternommen werden, bis zu dessen Ablauf die Verjährungsfrist verlängert ist. Verfolgungshandlungen (§ 14 Abs. 3 FinStrG, § 32 Abs. 2 VStG) gelten als solche Amtshandlungen.
Der Abgabenanspruch für die im Jahr 2011 einzubehalten und abzuführen gewesene Abzugsteuer ist spätestens mit Ablauf des 31. Dezember 2011 entstanden. Die fünfjährige Verjährungsfrist endete daher grundsätzlich mit Ablauf des 31. Dezember 2016. Aufgrund der im Jahr 2014 durchgeführten Prüfung - die als Bescheid intendierten Erledigungen wurden am 5. Mai 2014 erstellt - verlängerte sich die Frist um ein Jahr und endete am 31. Dezember 2017. Mangels einer verjährungsfristverlängernden Amtshandlung im Jahr 2017 ist somit Festsetzungsverjährung eingetreten. Die Festsetzungsverjährung für die Abgabenansprüche aus den vorhergehenden Jahren 2008 bis 2010 trat entsprechend bereits früher ein.
Der Haftungsbescheid war daher aus den genannten Gründen insgesamt aufzuheben. Auf die weiteren Einwendungen des Beschwerdeführers braucht deshalb nicht mehr eingegangen zu werden.
Zu Spruchpunkt II. (Revision)
Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Das Bundesfinanzgericht ist von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht abgewichen. Es war auch sonst keine Rechtsfrage zu lösen, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Die (ordentliche) Revision war daher als nicht zulässig zu erklären.
Innsbruck, am 7. Juli 2025