Bsw14696/89 – AUSL EKMR Entscheidung
Kopf
Europäische Kommission für Menschenrechte, Plenum, Beschwerdesache Alois und Amalia Stallinger, Johann und Elisabeth Kuso gegen Österreich, Bericht vom 7.12.1995, Bsw. 14696/89 und 14697/89.
Spruch
Art. 6 Abs. 1 EMRK, § 9 AgrVG, § 39 Abs. 2 Z. 6 VwGG - Verfahren über die Zusammenlegung von Grundstücken und fair trial.
Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich des Tribunalcharakters der Landesagrarsenate und des Obersten Agrarsenats (einstimmig).
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich des Fehlens einer öffentlichen Verhandlung (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Durchführung eines Lokalaugenscheins in Abwesenheit der Bf. (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Einige Parzellen der Bf. (Landwirte in Ober- und Niederösterreich) waren von der im FlurverfassungG geregelten Grundstückszusammenlegung betroffen. Gegen die von den Agrarbezirksbehörden (ABBeh) erstellten Zusammenlegungspläne (ZlPläne) legten sie bei den Landesargrarsenaten (LAS) Rechtsmittel ein. Die ZlPläne wurden aufgehoben, in weiterer Folge neue - abgeänderte - ZlPläne erlassen. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel blieben erfolglos, die gerügten Grundabfindungen für angemessen erklärt. Der VwGH wies die Bsw. ab und gab den Anträgen auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 39 (2) Z. 6 VwGG nicht statt.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten, die beiden Zusammenlegungsverfahren würden gegen Art. 6 EMRK verstoßen. Die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf Verfahren über die Zusammenlegung von Grundstücken ist unbestritten (vgl. Urteil Wiesinger/A, A/213 = NL 92/1/06). Zu prüfen sind nun folgende Fragen:
Wurde das Recht der Bf. auf eine Entscheidung über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht iSv. Art. 6 EMRK verletzt?
Die Bf. behaupten, die beiden Zusammenlegungsverfahren sowie die als Entscheidungsinstanzen zuständigen Agrarbehörden hätten nicht den Anforderungen des Art. 6 EMRK entsprochen. Die Kms. verweist hier auf das Urteil Ettl ua./A, in dem der GH den Tribunalcharakter von LAS und Obersten Agrarsenat wie auch die Vereinbarkeit des Zusammenlegungsverfahrens mit Art. 6 EMRK bestätigt hat. Die Bsw. sind gleichgelagerte Fälle, keine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (einstimmig).
Liegt eine Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit gerichtlicher Verhandlungen vor?
a) Der österr. Vorbehalt zu Art. 6 EMRK:
Die Bf. rügen den Mangel einer öffentlichen Verhandlung in allen Instanzen des Zusammenlegungsverfahrens. Die Reg. wendet ein, der österr. Vorbehalt zu Art. 6 EMRK würde eine Behandlung der Bsw. durch die Kms. ausschließen.
Die Kms. stellt dazu fest, dass die gesetzliche Regelung für das Zusammenlegungsverfahren, insb. über die nichtöffentliche Verhandlung (§ 9 (1) Agrarverfahrensgesetz) zum Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehalts (1958) bereits in Kraft gewesen ist. Der Vorbehalt kommt zur Anwendung, womit seine Vereinbarkeit mit Art. 64 EMRK (Vorbehalte und Erklärungen) zu prüfen ist. Die Kms. verweist hiezu auf die st. Rspr. des GH (vgl. zB. Urteile Belilos/CH, A/132; Chorherr/A, A/266-B = NL 93/5/11; Gradinger/A, A/328-C = NL 95/5/10), die die Bedeutung der in Art. 64 (1) EMRK verlangten Genauigkeit und Klarheit sowie der in Art. 64 (2) EMRK verlangten "kurzen Inhaltsangabe des betreffenden Gesetzes" betont. Die Kms. hält fest, der österr. Vorbehalt zu Art. 6 EMRK beinhalte keine "kurze Inhaltsangabe des betreffenden Gesetzes", das eine nichtöffentliche Verhandlung vorsieht. Den Anforderungen des Art. 64 (2) EMRK wird somit nicht entsprochen, die Kms. kann die Bsw. behandeln.
b) Das Fehlen einer öffentlichen Verhandlung:
Die Verhandlungen vor den LAS waren mündlich, jedoch nicht öffentlich. Dem Grundsatz der Öffentlichkeit gemäß Art. 6 EMRK wäre durch eine öffentliche Verhandlung vor dem VwGH - sofern umfangreiche Jurisdiktionsgewalt vorliege - gewährt. Der GH hat mehrmals betont, dass der VwGH in Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche ein Tribunal mit umfangreicher Jurisdiktionsgewalt ist (vgl. Urteile Zumtobel/A, A/268-A = NL 93/5/12, Fischer/A, A 312 = NL 95/2/10). Dies trifft auch für die ggst. Bsw. zu.
Zu prüfen ist nun, ob die fehlende öffentliche Verhandlung vor dem VwGH mit Art. 6 (1) EMRK vereinbar ist. Die Bf. hatten das Recht auf eine öffentliche Verhandlung vor dem VwGH, keine der in Art. 6 (1) Satz 2 EMRK genannten Ausnahmen lag vor; ferner war der VwGH die einzige Instanz, vor der eine öffentliche Verhandlung hätte durchgeführt werden können. Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (einstimmig).
Wurden die Bf. Stallinger in ihrem Recht auf ein faires Verfahren vor einem Gericht iSv. Art. 6 EMRK verletzt?
Die Bf. Stallinger rügen, dass der Lokalaugenschein ohne ihre Beziehung durchgeführt wurde. Die Kms. hält fest, die Bf. sind jedoch in weiterer Folge darüber informiert worden und hatten die Möglichkeit zur Stellungnahme. Keine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (einstimmig).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über den Bericht der EKMR vom 7.12.1995, Bsw. 14696/89 und 14697/89, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1996,38) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Der Bericht im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/96_2/Stallinger.pdf
Das Original des Berichts ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.